Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Da ist ein Dieb!"

Korruption, Machtkampf im eigenen Lager und jetzt auch noch die Rückkehr der Gezi-Bewegung: Türkischer Premier Erdogan immer stärker in Bedrängnis

Von Thomas Eipeldauer, Istanbul *

Als sich am Freitag abend die Istiklal, die zentrale Einkaufsmeile in der Nähe des Taksim-Platzes in Istanbul, füllt, wird schnell klar: Das wird eine der größten Demonstrationen, die in der Millionenmetropole am Bosporus seit dem Aufstand gegen die Regierung von Premierminister Recep Tayyip Erdogan im vergangenen Sommer stattgefunden haben. Eigentlich aber kann man nicht von einer Demonstration sprechen: Ein Recht darauf, sich zu versammeln, gibt es hier längst nicht mehr. Dennoch sind weit über zehntausend Menschen gekommen. Die Polizei greift ohne Vorwarnung an – mit Wasserwerfern, gepanzerten Fahrzeugen, Gummigeschossen und Tränengas.

Doch der Plan, den Protest von Beginn an zu unterbinden, geht nicht auf. Denn die Menschen hier haben sich inzwischen an die Polizeibrutalität gewöhnt. Aktivisten linker Gruppen beginnen aus den Seitenstraßen heraus mit Steinen, Zwillen und Pyrotechnik die Istiklal zurückzuerobern. Das gelingt nach einigen Stunden beinah. Eine große Barrikade entsteht, kurzzeitig kämpfen hier mehrere tausend Menschen. Am Ende müssen sie dem Tränengas weichen; in den Vierteln rund um den Taksim, vor allem in Cihangir, geht die Auseinandersetzung aber noch bis spät in die Nacht weiter.

»Vor allem psychologisch war dieser Tag sehr wichtig für die Bewegung«, sagt Murat, ein Aktivist der ersten Stunde der Proteste rund um den Gezi-Park im Sommer. »Viele haben davon gesprochen, daß die Bewegung in den letzten Monaten ihre Mobilisierungsfähigkeit verloren hätte. Das Thema ist jetzt vom Tisch.« Denn Istanbul blieb nicht isoliert: Demonstrationen gab es auch in Ankara, Izmir, Adana und anderen Städten.

Die Themen sind dieselben geblieben wie beim Gezi-Aufstand. Es geht um den repressiven Kurs der Regierung, die Diskriminierung von ethnischen und religiösen Gruppen, die mit dem neoliberalen Kurs der regierenden AKP verbundene Zerstörung von Mensch und Natur, die NATO-hörige Außenpolitik und die zunehmende Islamisierung der Gesellschaft. Und um Korruption. »Hirsiz var!« – »Da ist ein Dieb!« rufen viele in Anspielung auf eine populäre türkische Komödie. Sie meinen die AKP, die derzeit in den größten Korruptionsskandal der letzten Jahrzehnte verwickelt ist. Daß der kapitalistische Aufholprozeß, in dem sich die Türkei seit Jahrzehnten befindet, mit Veruntreuung, Vetternwirtschaft und Lobbyismus verbunden ist, war zwar seit langem bekannt. Neu ist aber, daß nun gegen zentrale Figuren des Machtzirkels der Regierungspartei ermittelt wird. Insgesamt zehn von 26 Ministern des Kabinetts mußten bislang ihren Hut nehmen.

Hintergrund ist ein offener Machtkampf innerhalb der herrschenden Eliten des Landes. Die Gruppe um Premier Erdogan hat sich mit der äußerst einflußreichen chauvinistisch-islamistischen Gemeinde Cemaat des im US-amerikanischen Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen überworfen. Die Gemeinde war lange enger Verbündeter von Erdogans AKP. »Die Cemaat ist seit Jahren sehr systematisch vorgegangen, wenn es darum ging, zentrale Positionen in Polizei und Justiz zu besetzen. Deshalb hat Erdogan im Moment so große Probleme, denn sein eigener Apparat kehrt sich gegen ihn«, erklärt ein Insider aus der Gülen-Bewegung. Der Streit um Einfluß, Pfründe, aber auch die innen- und außenpolitische Linie eskaliert seit Monaten. Im Moment stehen die Kontrahenten einander mit offenem Visier gegenüber. Ob Erdogan die Krise übersteht, ist im Moment schwer zu sagen. Geschwächt ist der »Sultan von Ankara« in jedem Fall.

* Aus: junge Welt, Montag, 30. Dezember 2013


Zurück zur Türkei-Seite

Zurück zur Homepage