Anklage ohne konkrete Straftat
In Hamburg wird an einem Kurden vor Gericht ein zweifelhafter Terrorbegriff exerziert
Von Martin Dolzer, Hamburg *
In Hamburg hat zu Wochenbeginn das
Verfahren gegen den kurdischen Politiker
Ali Ihsan Kitay begonnen, das
als Musterprozess für weitere ähnliche
Anklagefälle gelten kann.
Eine konkrete Straftat wird Ali Ihsan
Kitay nicht vorgeworfen.
Trotzdem muss der in Deutschland
anerkannte Flüchtling damit rechnen,
dass das Verfahren, das am
Montag vor dem Oberlandesgericht
(OLG) in Hamburg begann
und vorerst auf 30 Prozesstage bis
zum Dezember 2012 terminiert ist,
für ihn mit einer Freiheitsstrafe
endet. Dieses Paradoxon erklärt
sich aus der Konstruktion des Paragrafen
129 b Strafgesetzbuch,
dessen Verletzung Kitay vorgeworfen
wird. Erst 2002, nach den
Anschlägen auf das World Trade
Center in New York eingeführt, erklärt
der Paragraf die Unterstützung
oder Mitgliedschaft in einer
Vereinigung im Ausland zur Straftat,
wenn diese dort als terroristisch
eingestuft wird. Voraussetzung
ist eine entsprechende Ermächtigung
durch das Bundesministerium
für Justiz (BMJ).
Seit Oktober 2011 sitzt der 47
Jahre alte Ali Ihsan Kitay in Untersuchungs-,
die meiste Zeit in Isolationshaft.
Kitay habe von 2007 bis
2008 in Norddeutschland als Kader
der PKK die Region Hamburg
geleitet und sich auch an Aktionen
der Organisation im Nordirak beteiligt,
so die Bundesanwaltschaft.
Als 1994 in einem groß angelegten
Prozess 19 vermeintliche
Mitglieder der Kurdischen Arbeiterpartei
PKK vor dem OLG Düsseldorf
angeklagt und zum Teil
verurteilt wurden, war noch eine
breite Solidarisierung mit den Angeklagten
die Folge. Der damalige
Generalbundesanwalt Rebmann
fuhr schweres Geschütz auf und
erklärte die PKK vor dem Verfahren
zum »Hauptfeind der inneren
Sicherheit«. Gleichwohl: Der Prozess
wurde von internationaler
Kritik an der menschenrechtswidrigen
Verfahrensführung sowie an
den Menschenrechtsverletzungen
in der Türkei begleitet. Der Versuch,
die PKK gemäß Paragraf
129 a als terroristisch zu definieren,
scheiterte daran, dass der
PKK in der Bundesrepublik keine
terroristischen Handlungen vorzuwerfen
waren. Von 1997 bis
heute wurden vermeintliche PKKMitglieder
deshalb nach dem Vereinsgesetz
oder Paragraf 129 (Mitgliedschaft
oder Unterstützung einer
kriminellen Vereinigung) verurteilt.
Mit der Schaffung des Paragrafen
129 b ist nun eine Anklage
auch wegen angeblicher Straftaten
im Ausland möglich.
Parallel wird seit Mitte der 90er
Jahre die kurdische Frage unter
weitgehender Ausblendung der
Hintergründe des Konflikts öffentlich
als Terrorproblem dargestellt.
Selbst in der gesellschaftlichen
Linken blieb die Denunzierung des
Befreiungskampfes nicht ohne
Folgen. Das jetzige Verfahren vor
dem OLG Hamburg ist seit 1994
jedoch der erste Versuch, einen
Terrorvorwurf auch auf juristischer
Ebene zu exerzieren.
Rechtsanwalt Carsten Gericke
spricht von einer Instrumentalisierung
der Strafjustiz mit Hilfe des
Paragrafen 129 b. Mit der Ermächtigung
durch das Justizministerium
folge die strafrechtliche
Verfolgung strategischen und außenpolitischen
Interessen. Zudem
halte die Bundesanwaltschaft wesentliche
Akten zurück. Hierdurch
werde das Recht auf ein faires
Verfahren und »Waffengleichheit«
der Prozessbeteiligten verletzt.
Ali Ihsan Kitay saß in der Türkei
mehr als 20 Jahre im Gefängnis
und wurde dort mehrfach gefoltert.
In einer politischen Erklärung beschrieb
er seine Erlebnisse eindrücklich.
»Immer wieder kommen
mir schreckliche Bilder ins
Gedächtnis. Da sämtliche demokratischen
Wege verschlossen sind
und jeder Mensch von Kindheit an
täglich mit unerträglichem Unrecht
konfrontiert war und auch
heute ist, bleibt vielen Menschen
nur der Weg in die Berge«, so Kitay.
* Aus: neues deutschland, Freitag, 17. August 2012
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