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"Kurdenfrage wird auf ein Terrorproblem reduziert"

Ermächtigung für Militärschlag im Nordirak soll tiefgreifende Reformen in der Türkei verhindern. Ein Gespräch mit Gültan Kisanak


Am Mittwoch hat das türkische Parlament die Regierung ermächtigt, eine großangelegte Militäroperation gegen die kurdische Guerilla im Nordirak zu führen. Was ist der Hintergrund?

Die Regierungspartei AKP wollte eine solche Ermächtigung bereits vor den Parlamentswahlen im Juli erwirken, hat dies aber nicht zuletzt mit Blick auf die kurdische Wählerschaft vertagt. Der türkische Staat fußt auf einer Ideologie, derzufolge es nur eine – türkische – Ethnie, eine Sprache und eine Religion gibt. Ein derart exklusives Staatsverständnis muß für erhebliche Spannungen sorgen. Um weiterhin ausblenden zu können, daß die Türkei ein multikultureller Staat ist, soll die Kurdenfrage auf ein reines Terrorproblem reduziert werden. Die Ermächtigung für einen Militärschlag ist Teil einer Strategie, mit der tiefgreifende Reformen vermieden werden sollen, indem eine militärische Eskalation in den Vordergrund gerückt wird.

Der türkischen Öffentlichkeit wird suggeriert, daß es sich um eine zwingend notwendige Operation handelt, um die PKK endgültig auszuschalten.

Der angestrebte Militärschlag richtet sich auf keinen Fall nur gegen die PKK. Die Türkei hat in den letzten 24 Jahren zahlreiche Militäroperationen im Nordirak durchgeführt. Gebracht hat das überhaupt nichts. Wenn man das sogenannte PKK-Problem wirklich lösen wollte, so wäre die neue Verfassung, die gerade ausgearbeitet wird, die allerbeste Gelegenheit dazu. Abdullah Öcalan hat erst kürzlich betont, daß sich die PKK sofort auflösen würde, wenn in der neuen Verfassung die politische und kulturelle Existenz der Kurden ausdrücklich anerkannt würde. Das wurde nicht aufgegriffen, weil kein Interesse an einer Lösung besteht. Im übrigen ist die PKK ja nur ein Teil des Kurdenproblems, das viel weiterreichendere kulturelle und politische Dimensionen hat.

Die AKP, die bislang in der Kurdenfrage vergleichsweise gemäßigte Positionen vertreten hat, hat die Wahlen gewonnen, und erstmals hat eine kurdische Partei den Parlamentseinzug geschafft. Viele haben deshalb neue Impulse für eine friedliche Lösung erhofft. Ein Trugschluß?

Die Regierungspartei hat nie wirklich eine friedliche Lösung angestrebt. In ihrem Parteiprogramm wird die Kurdenfrage völlig ignoriert, auch im Regierungsprogramm ist keine Rede von einer umfassenden Lösung. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat kürzlich eine einstündige Rede in Diyarbakir gehalten – und dabei das Wort Kurde nicht ein einziges Mal in den Mund genommen. Dies allein zeigt schon, wie unberechtigt die Hoffnung war, von der Regierung einen Lösungsansatz zu erwarten.

Ihre Partei hat in der Zeit nach den Wahlen gegenüber der Regierung einen Kurs gefahren, der vielfach als »Anbiederung« bezeichnet worden ist.

Es stimmt, wir haben der Regierung und dem politischen Establishment als kurdische Partei die Hand gereicht für eine friedliche Lösung. Unsere Hand ist ausgeschlagen worden. Doch diesen Kurs werden wir trotz aller Repressionen und Verleumdungen, denen unsere Partei ausgesetzt ist, auch weiterhin verfolgen. Es kann nur eine friedliche Lösung des Kurdenproblems geben. Das Ausspielen der militärischen Karte ist nur eine weitere Drehung an der Gewaltspirale.

Wie geht es nun weiter?

Wir werden uns in den nächsten Tagen darum bemühen, mit den übrigen linken Parteien und mit allen Nichtregierungsorganisationen, die für eine friedliche Lösung eintreten, eine Friedensfront zu bilden. Eines muß klar sein: Durch die Debatte über einen Militärschlag ist das innenpolitische Klima der Türkei bereits vergiftet worden. Sollte es tatsächlich zu einem Krieg kommen, würden all die Fortschritte, die in den letzten Jahren bei der Demokratisierung des Landes gemacht worden sind, verlorengehen. Bei der Abstimmung am Mittwoch haben von 549 Abgeordneten nur 19 gegen die Kriegsermächtigung votiert. Dies heißt aber nicht, daß auch die gesellschaftliche Ablehnung eines Militärschlages so marginal ist. Ein bedeutender Teil der Gesellschaft ist gegen einen Krieg. Diesen Teil wollen wir mobilisieren.

Interview: Nico Sandfuchs, Ankara

* Die Journalistin Gültan Kisanak ist Parlamentsabgeordnete der pro­kurdischen Partei für eine demokratische Gesellschaft (DTP).

Aus: junge Welt, 19. Oktober 2007



Presseerklärung über den türkischen parlamentarischen Mandat für einen grenzüberschreitenden Militärangriff auf den Irak

Cenî - Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V.

Am gestrigen Tag hat das türkische Parlament mehrheitlich einem Militärangriff auf das Territorium des Iraks zugestimmt. Ziel eines solchen Angriffes soll die Zerschlagung der kurdischen Freiheitsbewegung und damit eine Fortsetzung der Verleugnungs- und Vernichtungspolitik gegenüber den Kurden sein. Um oppositionelle Stimmen innerhalb der eigenen Reihen unter Druck zu setzten, wurde die Abstimmung auf Antrag von Ministerpräsident Erdogan offen durchgeführt. Denn im Vorfeld hatten einige AKP-Abgeordnete aus den kurdischen Gebieten sich gegen den Antrag ausgesprochen. Alle, die gegen eine grenzüberschreitende Operation sind, wurden im Vorfeld der Abstimmung als „Vaterlandsverräter“ und „Separatisten“ diffamiert. Letztendlich stimmten nur die DTP-Fraktion und weitere 3 Abgeordnete gegen den Antrag.

Nun wird heftig darüber debattiert, ob und wann die Türkei dieses parlamentarisch abgesegnete Mandat für einen Militäreinsatz nutzen wird. Um diese Frage objektiver bewerten zu können, ist es wichtig, sich einige Fakten ins Gedächtnis zu rufen: Im Zeitraum zwischen 1983 und 2000 führte die Türkei insgesamt 24 grenzüberschreitende Militäroperationen in den Irak durch, ohne das Problem gelöst zu haben. Seit Jahren befinden sich mehrere Tausende türkische Soldaten im Irak (es gibt keine offiziellen Angaben über die Zahl der Soldaten aber die Rede ist von ungefähr 10.000). Schon seit Monaten bombardieren die türkische und iranische Armee kurdische Gebiete im Nordirak. Die alleinigen Ergebnisse dieser Bombardierungen waren die Vertreibung der Zivilbevölkerung und Zerstörung ihrer Lebensressourcen.

Alle 24 grenzüberschreitenden Militärangriffe der Türkei in den Irak wurden bislang vollzogen, ohne dass es ernste Reaktionen seitens des Iraks oder der westlichen Bündnispartner wie der USA und EU gegeben hätte. Jedoch haben sich die Kräfteverhältnisse und politischen Konstellationen in der Region verändert. Erste Reaktionen seitens US- und EU-PolitikerInnen deuten an, dass sie heute einen Angriff auf das Staatsgebiet des Iraks nicht mehr so wie früher tolerieren werden. Jedoch würde ein Angriff des türkischen Militärs ohne die Zustimmung der USA und der südkurdischen Parteien verheerende Folgen für die ohnehin schon von Krieg, Besatzung und Instabilität gezeichnete Region haben.

Es ist daher davon auszugehen, dass dieser Beschluss viel mehr eine politische Bedeutung hat als eine militärische. Selbst türkische Regierungsvertreter erklärten, dass sie ihr Anliegen – die Vernichtung der kurdischen Freiheitsbewegung - vorrangig ohne militärische Aktionen erreichen wollen. Mit diesem Beschluss könnte die Türkei beabsichtigen, politische Kräfte wie die USA, den Irak und die EU unter Druck zu setzten, um noch stärker gegen die PKK vorzugehen, wie z. B. durch Festnahmen in Europa, grünes Licht für punktuelle Militärangriffe auf den Irak durch den USA oder durch Auslieferungen von oppositionellen kurdischen Politiker durch den Irak. Im Inneren wird die Türkei diese Stimmung nutzen um für die staatlichen Repressionen gegen die Kurden in der Türkei in Form von außergerichtlichen Hinrichtungen, Folter, Festnahmen, Verboten, staatlichen Provokationen und der Verschärfung der Isolationshaftbedingungen gegen Abdullah Öcalan freie Hand zu haben. S! chon heute wird die politische Arbeit für kurdische Interessen unmöglich gemacht. Abgeordnete, Bürgermeister und Mitglieder der DTP werden tagtäglich mit neuen Gerichtsverfahren und Androhung von Gefängnisstrafen konfrontiert. Mehrere Büros der DTP in verschiedenen Provinzen der Türkei wurden in den letzten Tagen durch „unbekannte Täter“ beschossen oder anderweitig angegriffen.

Mit diesem Beschluss hat die AKP Regierung erneut bewiesen, dass sie nicht an der Demokratisierung der Türkei und an einer politischen Lösung der kurdischen Frage interessiert ist. Wie ihre Vorgänger hat sie die langjährigen Friedensbemühungen der Kurden durch Kriegshetze und Repression untergraben. Die einzige Lösung, die die Türkei, Iran und Syrien für die kurdische Frage vorsehen, besteht aus Knechtschaft, Entrechtung und Verleugnung.

Als „Kurdisches Frauenbüro für Frieden – CENI“ setzen wir uns seit Jahren für eine politische Lösung der kurdischen Frage, einen gerechten Frieden, Frauenbefreiung und Demokratisierung des Mittleren Ostens ein. Jedoch führt der politische Weg, den die Türkei eingeschlagen hat, zu weiterer Instabilität für die Region, zu Leid und Armut, einer Stärkung antidemokratischer, militaristischer und patriarchaler Strukturen und vor allem zu Krieg statt Frieden. Diese Kriegstreiberei darf nicht mehr geduldet und unterstützt werden.

(18. Oktober 2007)


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