"Das hat schon Orwellsche Züge"
Der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko besuchte gefangene Parlamentarier in der Türkei
Andrej Hunko ist Bundestagsabgeordneter
für die LINKE und Mitglied der Parlamentarischen Versammlung
des Europarats. In der Türkei besuchte er jetzt inhaftierte Abgeordnetenkollegen. Martin Dolzer befragte ihn für "neues deutschland" (nd) dazu.
Wie viele Abgeordnete sitzen in
der Türkei in Haft?
Nach wie vor sitzen neun der im
Juni 2011 gewählten Abgeordneten
der Nationalversammlung im
Gefängnis: sechs von der kurdischen
Partei des Friedens und der
Demokratie (BDP), zwei von der
Republikanischen Volkspartei
(CHP) und einer von der Partei der
Nationalistischen Bewegung
(MHP). Einem von ihnen, Hatip
Dicle (BDP), wurde das Mandat
aberkannt. Die anderen sitzen
schon seit über drei Jahren in Untersuchungshaft.
Wir beantragen
die Aufnahme dieser Abgeordneten
in das Bundestagsprogramm
»Parlamentarier schützen Parlamentarier
«.
Was wird ihnen denn vorgeworfen?
Den BDP-Abgeordneten wird Mitgliedschaft
in der Union der Gemeinschaften
Kurdistans (KCK)
vorgeworfen, also die Beteiligung
an Projekten der »demokratischen
Autonomie« in den kurdischen
Gebieten. Auf dieser Grundlage
sind nicht nur die sechs Abgeordneten,
sondern auch mindestens
19 gewählte Bürgermeister, etwa
6000 BDP-Anhänger und bekannte
türkische Menschenrechtler und
Journalisten inhaftiert. Allen werden
nicht konkrete Straftaten,
sondern beispielsweise die Teilnahme
an Pressekonferenzen oder
Veranstaltungen vorgeworfen.
Dem Journalisten Mustafa Balbay
(CHP) wird die Beteiligung am
»Ergenekon-Netzwerk« unterstellt,
einer vermeintlichen Verschwörung
zum Sturz der Regierung.
Mein Eindruck ist jedoch,
dass es bei dem Verfahren nicht
primär um die Aufklärung einer
möglichen Verschwörung, sondern
– ähnlich wie bei den KCK-Verfahren
– um eine Konstruktion geht,
mittels derer Oppositionelle etwa
aufgrund anonymer Hinweise beliebig
aus dem Verkehr gezogen
werden können. Das hat schon
Orwellsche Züge.
Wie ist die Situation in den Gefängnissen?
In den kurdischen Gebieten sind
die Gefängnisse völlig überfüllt. Ich
habe Selma Irmak in Diyarbakir
und Faysal Sariyildiz (beide BDP)
in Mardin besucht, die kürzlich einen
20-tägigen Hungerstreik beendet
hatten. Das Gefängnis in
Mardin ist für 350 Menschen ausgelegt,
dort werden aber über 1000
festgehalten. Beide Abgeordnete
berichteten mir, dass sie sich ihre
Matratze mit zwei weiteren Gefangenen
teilen müssen. Ich konnte
mir eine Zelle anschauen: 22
Angeklagte mussten auf einer Fläche
von etwa 30 Quadratmetern
leben. Einer von ihnen ist seit Monaten
bettlägerig, ohne dass es eine
medizinische Versorgung gäbe.
Mustafa Balbay (CHP), den in
ich in Silivri bei Istanbul besuchte,
wird seit Jahren in Einzelhaft gehalten.
Das Ende der Isolationshaft
wird mit Hinweis auf seine vermeintlichen
Straftaten abgelehnt –
obwohl er bisher gar nicht verurteilt
wurde.
Welche politischen Schlussfolgerungen
ziehen Sie aus Ihren Erkenntnissen?
Was den türkisch-kurdischen
Konflikt angeht, kann es keine militärische
oder repressive Lösung
geben. Die Waffen müssen endlich
schweigen und es muss verhandelt
werden, auch unter Einbeziehung
des inhaftierten PKK-Vorsitzenden
Abdullah Öcalan. Alle Erfahrungen
mit ähnlichen Konflikten – etwa in
Südafrika oder Nordirland – zeigen,
dass es keinen anderen vertretbaren
Weg gibt. Das ist auch
eine der zentralen Forderungen
der vielen Kurdinnen und Kurden,
die sich zum Teil schon seit 46 Tagen
im Hungerstreik befinden. Die
meisten sind mittlerweile in einem
sehr kritischen Gesundheitszustand.
Bemerkenswert ist das zunehmende
Interesse der Zivilgesellschaft
und der Linken an einer
friedlichen Lösung. Ich begrüße,
dass es neue Allianzen gibt, wie
etwa den Demokratischen Kongress
der Völker (HDK). Entscheidend
ist auch der Verfassungsgebungsprozess.
Dabei sollte der aggressive
Homogenisierungs- und
Zentralisierungsanspruch des türkischen
Staates, der einer der Ursachen
der Konflikte ist, aufgegeben
werden.
Kein Verständnis habe ich für
die Haltung der Bundesregierung
und vieler EU-Verantwortlicher,
die aus geopolitischen Opportunitätsgründen
zur dramatischen
Verschlechterung der Lage in der
Türkei schweigen und das herrschende
Regime gar noch als Vorbild
für die arabische Welt hinstellen.
Ein solcher Doppelstandard in
puncto Menschenrechte und Demokratie
ist einfach abstoßend.
* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 11. April 2012
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