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Die Türkei von Hybris gepackt

Von Conn Hallinan *

Es ist erst zwei Jahre her, dass die Türkei auf dem Weg war ein wichtiger Akteur in Zentralasien zu werden, ein einflussreicher Faktor im Nahen/Mittleren Osten und eine Macht in der internationalen Politik. Sie war eingeschritten, um ein größere Eskalation des Krieges zwischen Georgien und Russland zu verhindern, indem sie US-Schiffen den Zugang zur Schwarzen Meer versperrte, Frieden schloss mit ihren Rivalen in der Region und, gemeinsam mit Brasilien, einen ernsthaften Versuch für eine friedliche Lösung der iranischen Nuklearkrise unternahm.

Heute nun liefert sie sich Artilleriegefechte mit Syrien. Ihre Beziehungen mit dem Irak haben sich soweit verschlechtert, dass Bagdad Ankara zu einer „feindseligen Nation“ erklärt hat. Sie begann einen Streit mit Russland, indem sie ein syrisches Flugzeug zur Landung zwang und Russland beschuldigte, dem Assad-Regime Waffen zu liefern. Sie verärgerte den Iran mit ihrer Zustimmung zur Stationierung von US-Abwehrraketen ( ein Schritt, der ihr auch in Moskau keine Freunde schuf ). Ihr Krieg mit ihrer kurdischen Minderheit hat sich erheblich verschärft.

Was ist also passiert? Der Lohn der religiösen Solidarität? Ein Ottomanisches dejá vu?

Ein Kern von Wahrheit liegt in allen dieser Vorschläge, aber der diplomatische Umschwung hat weniger mit dem Koran zu tun und Erinnerungen an ein Großreich als mit Illusionen und Hybris. Es handelt sich um eine Kombination, die im Nahen/Mittleren Osten nicht selten zu finden ist und dazu eine, die Jahre einer sorgfältigen Diplomatie auf den Kopf zu stellen verspricht, die Unruhen in der Region verschärft und die Türkei in ein Bündnis mit Staaten treibt, deren innere Fragilität die Türkei zum Nachdenken veranlassen sollte.

Wenn es bei all diesen Dingen ein Gespenst der Vergangenheit gibt, dann ist es die wachsende Allianz zwischen der Türkei und Ägypten. Hinsichtlich der Bevölkerungszahl sind die beiden Länder unter den größten der Region, und beide verfügen über eine industrielle Basis in einem Teil der Welt, wo industrielle Entwicklung durch ein Jahrhundert unter kolonialen Herrschern (unter ihnen auch die Türken) gezielt behindert worden war. Ankara bot vor kurzem dem Finanz-knappen Ägypten 2 Milliarden Dollar Hilfsgelder an, und beide Länder haben eine moderate islamische Regierung. Kairo und Ankara unterstützen ferner den Sturz des Assad-Regimes.

„Offensichtlich ist Ägypten jetzt der engste Partner der Türkei im Nahen/Mittleren Osten“, so Gamal Soltan von der Amerikanischen Universität in Kairo gegenüber der New York Times. Aber während Ägypten einst die wohlhabendste Provinz im Ottomanischen Reich war, ist im Jahr 2012 kein Platz für Sultane und Paschas und in diesem Fall könnten sich alte Erinnerungen als eine Falle herausstellen.

Ägypten steckt tief in den Problemen von Armut und Ungleichheit. Es waren in der Tat die wirtschaftliche Krise, die die Region erfasst hatte, genauso wie Probleme von Demokratie und Freiheit, die den Tahrir Platz füllten. Kairo ist in hohem Maße verschuldet und bereitet eine Runde von Austeritätsmaßnahmen vor, die die Ungleichheiten noch verschärfen werden. Die Regierung von Präsident Mohamed Mursi hat angekündigt, dass sie die Benzin-Subventionen kürzen will, was besonders die Armen hart treffen wird, vor allem bei einer Arbeitslosenrate von über 12 Prozent und einer Jugendarbeitslosigkeit, die mehr als doppelt so hoch ist.

Auf den ersten Blick haben beide Regierungen vieles gemein, insbesondere da die türkische AKP und die ägyptische Muslim-Bruderschaft als „moderat“ islamisch eingeschätzt werden. Aber viele in der Bruderschaft halten die AKP und den türkischen Premier Tayyip Erdogan für entschieden zu „moderat“ – so ist es in der Türkei nach wie vor illegal ein Kopftuch zu tragen, wenn man sich um ein öffentliches Amt bewirbt oder in einer Regierungsbehörde arbeitet.

Während der Westen Morsis und Erdogans Regierung als „islamisch“ einschätzt, halten einige dschihadistischen Gruppen, die Kairo und Ankara beim Kampf zum Sturz des Assad-Regimes in Syrien unterstützen, die ägyptische und türkische Regierung schon fast für Ungläubige oder Ketzer. Wie es der Nahost-Experte Robert Fisk ausdrückt, die Dschihadisten sind der Skorpion, der beide am Ende stechen könnte, so wie es die Taliban mit ihren pakistanischen Unterstützern getan haben. Die Türkei hofft offensichtlich darauf, ein Dreieck zu bilden zwischen Ankara, Kairo und den reichen Monarchien des Golf-Kooperationsrates – Saudi-Arabien, Katar, Kuwait, Bahrain , Oman und die Vereinigten Arabischen Emirate ( Jordanien und Marokko, die beiden anderen Monarchien, sind ebenfalls gebeten worden sich anzuschließen ). Diese Verbindung von Bevölkerung, Industrie und Reichtum, so die Überlegung, würde es dieser Allianz erlauben, die Region zu dominieren.

Der Kooperationsrat verfügt über einen enormen Reichtum, aber wie stabil sind die autokratische Monarchien gegenüber den durch den Arabischen Frühling erzeugten demokratischen Bestrebungen? Bahrains König regiert nur gestützt auf die Macht der saudischen Streitkräfte. Saudi-Arabien kämpft selber damit, Arbeitsplätze und Wohnraum für seine wachsende Bevölkerung zu schaffen, bei der gleichzeitigen Belastung durch Ungleichheiten, hoher Arbeitslosigkeit, weit verbreiteter Korruption und einer unruhigen schiitischen Minderheit in seinen östlichen Provinzen. Der jordanische König ringt mit einer wirtschaftlichen Krise und einer politischen Opposition, die Abdullah II. in Richtung auf eine konstitutionelle Monarchie unter Druck setzt.

Wie diese neue Allianz sich auf die Palästinenser auswirken wird, ist unklar. Die Türkei hatte 2009 einen Streit mit Israel, und Ägypten und Katar haben sich äußerst kritisch über Tel-Avivs Behandlung der Palästinenser geäußert. Bisher, so scheint es, wird die islamische Gruppierung der Hamas in Gasa mehr davon profitieren als die säkulare Palästinensische Autonomie-Behörde in der West-Bank.

Mit der Ausnahme Bahreins haben alle beteiligten Staaten große sunnitische Mehrheiten, was sie, auf den ersten Blick, religiös im selben Lager vereinen würde. Aber die meisten der Golf-Monarchen sind verbündet mit radikalen islamistischen Gruppen, von denen sich einige in Al-Kaida-ähnliche Organisationen verwandelt haben, die Länder von Pakistan bis Irak destabilisiert haben. Gelegentlich haben sich diese Gruppen auch gegen ihre eigenen Wohltäter gewendet, so wie z.B. Osama bin Laden gegen Saudi-Arabien.

Solche islamischen Gruppen sind in zunehmendem Maße aktiv im syrischen Bürgerkrieg, wo sich die Türkei in einer sehr ähnlichen Rolle findet, wie sie Pakistan während des sowjetisch-afghanischen Krieges von 1979-89 gespielt hat. Einige dieser Gruppen, die Pakistan während dieser Jahre versorgte, haben sich nun gegen ihre Unterstützer gewendet. Wird die Türkei das nächste Pakistan werden? Ein syrischer Aufständischer äußerte in einem Interview mit der Financial Times, dass viele der Rebellen Munition lagerten für die Zeit „nach der Revolution“. Bulent Alizira vom Center for Strategic and International Studies berichtete der Financial Times, dass die Türkei in der Gefahr sei, „wie Pakistan (zu werden), das ein vorgeschobene Basis für die afghanischen Rebellen wurde. Fall das passierte, würde sie mit all den Bedrohungen konfrontiert werden, denen Pakistan ausgesetzt war und von denen es sich nie erholt hat.“

Und warum würde die Erdogan-Regierung einen Streit mit Russland anfangen? Russland ist ein Haupt-Handelspartner und die Türkei ist erpicht darauf, gute Beziehungen mit der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) herzustellen, die 2001 von Russland und China gegründet wurde. Der Organisation gehören die meisten Staaten Zentralasiens an, einschließlich Beobachter von Indien, Pakistan, Ian und Afghanistan. Die SCO erfasst 75 Prozent der Welt-Energiereserven und der Weltbevölkerung und koordinier alles, von Handelsgeschäften bis zu Öl- und Gaspipelines. Warum würde Ankara einen der Hauptakteure der SCO irritieren wollen?

Könnte es eingeschnappt sein, weil Moskau aggressivere Maßnahmen des UN-Sicherheitsrats zur Intervention in den syrischen Bürgerkrieg blockiert hat ? Russland, zusammen mit China, hat beständig nach einer politischen Lösung der Krise in Syrien verlangt, während die Türkei eine Strategie des gewaltsamen Regimewechsels verfolgte. Erdogan wird eine gewisse Arroganz nachgesagt, und dass er sich von seinen Launen überwältigen lässt.

„Sein persönlicher Ehrgeiz und übersteigerte Gewissheiten haben vielleicht sein Urteilsvermögen beeinträchtigt“, so Morton Abramowitz von der Century Foundation gegenüber UPI, „und türkische Interessen berührt.“ Abramowitz diente in der Carter- und Reagan-Regierung und war von 1989 bis 1991 Botschafter in der Türkei. Er ist ebenfalls Direktor am National Endowment für Democracy.

Die Beziehungen zwischen der Türkei und dem Iran haben sich ebenfalls abgekühlt, zum Teil wegen des US-Raketenabwehrsystems, aber auch weil Ankara dabei ist, zu versuchen einen der wenigen Verbündeten Irans in der Region zu stürzen. Jedenfalls wird die Unterstützung von sunnitischen Dschihadisten gegen das alawitische Assad-Regime kaum in schiitischen Iran gut aufgenommen werden, und deshalb auch nicht im schiitischen Irak. Die Alawiten sind Teil der Schia.

Warum würde die Türkei wichtige Handelspartner wie Iran und Irak verärgern? Ist es möglicherweise so, dass die reichen Monarchien am Golf, die anti-schiitisch sind und den Ian als ihre größte Bedrohung sehen, Ankara ein Angebot gemacht haben, das es nicht ablehnen konnte? Ob die Monarchien dies langfristig einhalten können ist eine andere Frage.

In der Zwischenzeit hat der Krieg in Syrien die Furien losgelassen.
  • Autobomben tauchen wieder im Libanon auf.
  • Die Kurden fügen der türkischen Armee Verluste zu.
  • Hunderttausende von Flüchtlingen strömen aus Syrien heraus und die Kämpfe dort eskalieren.
  • Luft-Boden-Raketen – die russischen SAM-7 oder Strela, wahrscheinlich „befreit“ während des Libyenkrieges treten in Erscheinung. Die von Hand abgefeuerten Raketen können in der Tat der syrischen Luftwaffe Unannehmlichkeiten bereiten, aber wenn sie in die Hände der Kurden geraten, werden auch türkische Hubschrauber Probleme bekommen, oder auch jede andere Luftwaffe von Libanon bis Jordanien. Eine Strela wurde von Gasa aus am 16. Oktober auf ein israelisches Flugzeug abgefeuert.
Die Rolle der Türkei im syrischen Bürgerkrieg fällt auf geringe positive Resonanz bei der türkischen Bevölkerung. Etwa 56 Prozent lehnen diese Politik ab und 66 Prozent sind dagegen, syrische Flüchtlinge ins Land zu lassen.

„Wir sind an einem sehr kritischen Punkt angelangt“, so der Journalist Melih Asuk gegenüber der New York Times. „Wir stehen nicht nur Syrien gegenüber, sondern auch dem Iran, Irak, Russland und China. Und hinter uns stehen nur eine provozierende Einstellung und leere Versprechungen der USA.“

Vier Jahre ist es nun her, dass die Türkei begann, enge Bindungen mit anderen Ländern der Region zu knüpfen - „keine Probleme mit den Nachbarn“ – und ihre Abhängigkeit von den USA abzubauen. Heute liegen diese politischen Ziele in Trümmern. Aber genau das ist es, wozu Illusionen und Hybris führen.

[Übersetzung aus dem Englischen: Eckart Fooken]

* Originalartikel: Turkey Haunted by Hubris. In: Dispatches From The Edge, Nov. 1, 2012; www.dispatchesfromtheedgeblog.wordpress.com


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