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Besorgnis unter Kurden in Hakkari

Türkische Sicherheitskräfte verübten Anschlag auf Buchhandlung

Von Jan Keetman, Istanbul*

In der Provinz Hakkari im äußersten Südosten der Türkei herrscht Aufruhr. Es begann damit, dass Mitglieder der Sicherheitskräfte in flagranti bei einem Anschlag auf einen Buchladen in Semdinli ertappt wurden, dessen Besitzer als PKK-Mitglied vorbestraft ist.

Seither reißen Demonstrationen und Straßenschlachten in einer der ärmsten Gegenden der Türkei nicht ab. Am Donnerstag [17.11.2005] trugen in Yüksekova über 50 000 Menschen, mehr als die Hälfte der Einwohner, drei zuvor bei Unruhen erschossene Jugendliche zu Grabe. Zwei Jets der türkischen Luftwaffe rasten im Tiefflug über die Menge. Die Regierung hat mehrfach volle Aufklärung der Ereignisse von Semdinli versprochen und strenge Bestrafung der Schuldigen angekündigt. Ministerpräsident Tayyip Erdogan plant eine Reise in die ferne Region, um den guten Willen der Regierung zu dokumentieren.

Doch am Ort glaubt man nicht, dass den Worten auch Taten folgen werden, denn so ist man es gewöhnt. Außerdem meinen viele Einwohner der Region, dass der Anschlag auf den Buchladen, bei dem ein Passant starb und mehrere Menschen verletzt wurden, nur die Spitze eines Eisberges ist. In der Provinz Hakkari gab es in letzter Zeit etliche Bombenanschläge, die zwar offiziell der PKK angelastet werden, die aber genauso wie im Falle des Buchladens Leute trafen, die nicht zu den unbedingten Anhängern des türkischen Staates zu zählen sind. Bestärkt wird der Verdacht durch eine Liste, die in einem Auto der Gendarmerie in der Nähe des Tatortes zusammen mit einem Lageplan des Buchladens gefunden wurde. Auf der Liste war der Name des vorbestraften Ladenbesitzers verzeichnet. Außerdem fanden sich unter den zahlreichen Namen auch Funktionäre der prokurdischen Partei DEHAP. Ist es wieder so weit wie in den neunziger Jahren, als kurdische Politiker reihenweise umgebracht wurden?

Das vermutet jedenfalls die Familie Cetin. Der ehemalige Bürgermeister des Städtchens Kilis an der syrischen Grenze, Ekrem Cetin, und sein Sohn Cahit Cetin, Kreisvorsitzender der Republikanischen Volkspartei (CHP) von Kilis, wurden im Juni ermordet. Die Familie zählt einige Seltsamkeiten des Falles auf. Trotz Drohungen verweigerte der Gouverneur Ekrem Cetin Personenschutz. Das Tatfahrzeug wurde nur drei Tage später auf den Namen eines Polizisten eingetragen. Am Tatort tauchte vor der Polizei die Gendarmerie auf, obwohl diese eigentlich nur für ländliche Regionen zuständig ist und der Mord im Stadtzentrum verübt wurde. Gendarmen waren offensichtlich auch in den Anschlag auf den Buchladen in Semdinli verwickelt. Am 10. November fand man die Leiche von Kamer Özel, der der Kreisleitung der DEHAP in Tunceli angehörte. Er starb 200 Meter von einer Polizeiwache entfernt. Nach Angaben seiner Partei durch eine Bombe, die an seinen Leib gebunden war.

Die ungeklärten Fälle tragen dazu bei, dass die Spannung im Südosten weiter zunimmt.

* Aus: Neues Deutschland, 19. November 2005


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