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Prediger macht türkischem Premier Probleme

Durch das Zerwürfnis mit seinem alten Verbündete Fethullah Gülen droht Tayyip Erdogan schwerer Schaden

Von Jan Keetman, Istanbul *

Der türkische Premier ist in einen Skandal geraten. Mitverantwortlich für seine Probleme ist ein alter Verbündeter.

Wie in Goethes Zauberlehrling wird der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan die Geister, die er rief, nun nicht mehr los. Dank den Anhängern des pensionierten Predigers Fethullah Gülen in Polizei und Justiz war es Erdogan gelungen, die Macht der alten Justiz und des Militärs zu brechen. Staatsanwälte mit Sondervollmachten, mutmaßlich unter Gülens Leuten ausgesucht, ließen mit manchmal fragwürdigen Beweisen potenzielle oder wirkliche Regierungsgegner inhaftieren. Doch vor anderthalb Wochen hat die gleiche Justiz plötzlich begonnen, jeden Stein in der Türkei umzudrehen, unter dem Korruption stecken könnte. Diesmal ist der Leidtragende aber Erdoğan – und sein Gegenspieler ist Fethullah Gülen. Wer ist das und warum misst er sich nun mit seinem früheren Weggefährten?

Geboren wurde Gülen 1941 in einem Dorf im türkischen Osten. Sein Vater war Vorbeter an einer Moschee und Gülen hatte den Koran gelesen, noch ehe er in die Grundschule kam. Ohne abgeschlossene Schul- geschweige denn Universitätsbildung wurde er bereits mit 18 Jahren Prediger. 20 Jahre später kam er an die bedeutendsten Moscheen des Landes, inklusive der Blauen Moschee in Istanbul. Zu seinen Zuhörern gehörte der damalige Ministerpräsident Süleyman Demirel.

Gülens geistiges Vorbild war Said-i Nursi, der 1909 an einem konservativen Aufstand in Istanbul beteiligt war. Als einer der ersten unterschrieb Said-i Nursi die berühmte Fatwa, mit der das Osmanische Reich an der Seite Deutschlands in den Ersten Weltkrieg eintrat. Später unterstützte er Kemal Atatürk und nach dem Zweiten Weltkrieg die Teilnahme der Türkei am Koreakrieg und den Eintritt in die NATO.

Said-i Nursi war der Ansicht, die Muslime müssten sich die Technik und die Wissenschaft des Westens, mit Ausnahme der Evolutionslehre Darwins, zu eigen machen, dürften aber nicht die Lebensweise und die Werte des Westens annehmen. Politisch arrangierte er sich normalerweise mit den Mächtigen. Darüber hinaus war er entschiedener Antikommunist und Befürworter einer engen Bindung an die USA.

Hinterlassen hat Said-i Nursi das 6000 Seiten umfassende religiöse Werk Risale-i Nur, die »Sendschreiben des Lichts«. Wer sie gelesen und verinnerlicht hat, ist ein »Nurcu«. Auch Fethullah Gülen war in seiner Jugend ein begeisterter Nurcu. Obwohl die Nurcu ebenso wie Said-i Nursi einiges dafür taten sich anzupassen, sah das türkische Militär in ihnen immer eine Gefahr für die laizistische Ordnung des Staates. Selbst die Gebeine Said-i Nursis fürchteten sie. Der Sarg des Predigers wurde kurz nach seinem Tod auf Geheiß des Militärs ausgegraben und an einer unbekannten Stelle vergraben, damit kein Wallfahrtsort entstehen möge.

Fethullah Gülen war wie sein verstorbener Mentor antikommunistisch, proamerikanisch und bereit, sich mit vielen zu arrangieren. Allerdings zweifelte das Militär an der Zuneigung des Predigers. Einem vom Militär inspirierten Hochverratsprozess kam Fethullah Gülen zuvor, indem er sich in Pennsylvania in den USA niederließ. Er schuf ein Imperium von über Tausend Bildungseinrichtungen in Deutschland, den USA, in Mittelasien, Senegal, Vietnam, Australien und anderen Ländern.

Ein religiöses Werk wie die Risale-i Nur hat der 72-Jährige bisher nicht verfasst. In seinen Predigten und Schriften beantwortet er vor allem Fragen. Etwa die, ob Nichtmuslime in die Hölle müssen. Seine Antwort: »Ja«. Meist jedoch ist Gülen auf Kompromisse aus. Die Kopftuchfrage betrifft für ihn lediglich ein »Detail« des Glaubens. Mit Vertretern anderer Religionen, darunter auch dem Papst, hat sich Gülen getroffen und Gemeinsamkeiten betont. Er ist wohl der einzige bedeutende islamische religiöse Führer, der keinen Groll gegen Israel schürt.

Gülen kann allerdings auch anders. Der »jüdische Stamm« sei sehr intelligent, lobt er in einer seiner Schriften. Doch er habe der Welt auch »vergifteten Honig« dargeboten: »Karl Marx war Jude.« Wie mit dem Kommunismus hat Gülen auch mit dem Feminismus Probleme. Seine Medien nehmen auch oft eine gewerkschaftsfeindliche Haltung ein.

In vielen Ansichten stehen Gülen und Erdoğan einander nahe, der Grund für ihren Zwist ist nicht leicht zu finden. Einer ist wohl dem anderen einfach zu mächtig geworden. Eine Weile schwankten die beiden Männer zwischen Kampf und Versöhnung, doch als sich Erdoğan entschloss, Gülens Schulen anzutasten, sah der Prediger sein Reich bedroht. »Jede Person sollte ihre Grenze kennen«, lautete eine seiner Videobotschaften. Das war auch ohne die Nennung des Namens des Premiers deutlich.

Der Ausgang des Zwistes ist ungewiss. Selbst wenn es Erdogan gelänge, die Korruptionsvorwürfe zurückzuweisen und die eigenen Reihen zu schließen, käme er doch nicht ohne schweren Schaden aus dem Kampf mit dem alten Prediger. Es ist die Ironie der Geschichte, dass Erdoğan nun den Staat im Staate bekämpft, vor dem die Generäle immer gewarnt haben.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 28. Dezember 2013


Erdogan vor dem Fall?

Aus der Korruptionsaffäre in der Türkei ist ein Kampf um die Macht geworden. Für den Ministerpräsidenten und seine Partei wird es eng

Von Arnold Schölzel **


Am Freitag zeichnete sich in der Türkei ab, daß es nicht mehr um eine Schmiergeldaffäre im Establishment geht, sondern um die Macht. Gegner von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seiner AKP-Partei bereiteten für den Abend Großdemonstrationen in mehreren Städten u. a. auf dem Taksim-Platz in Istanbul vor.

Die Lage spitzte sich am Freitag zu, als die oberste Justizbehörde des Landes, der Staatsrat, Erdogan ausbremste. Der Regierungschef wollte die Ermittlungen gegen Vertreter der AKP steuern und die Polizei zwingen, jeden Ermittlungsschritt offenzulegen. Das Gremium blockierte die Umsetzung des entsprechenden Dekrets. Seit dem 17. Dezember hatte die Staatsanwaltschaft Dutzende Geschäftsleute und Politiker aus dem Umfeld Erdogans festnehmen lassen, darunter auch die Söhne von drei Ministern. Unter dem Druck der Justiz bildete er am Mittwoch sein Kabinett um und tauschte zehn Minister aus, darunter vier Kabinettsmitglieder, die ins Visier der Ermittler geraten waren. Die Opposition und Demonstranten fordern jedoch weiter seinen Rücktritt.

In der Affäre geht es offiziell um die Bestechung von Politikern, Hintergrund ist aber offenbar ein Konflikt zwischen der AKP und der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen. Mit seiner Unterstützung hatte Erdogan seit zehn Jahren regiert, ihn nun aber u. a. mit der Ankündigung gegen sich aufgebracht, Hunderte von Nachhilfezentren der Gülen-Bewegung zu schließen. Konflikte gab es bereits zuvor wegen Erdogans Kritik an Israel nach dem Zwischenfall mit der Gaza-Hilfsflottille 2010 und dem Anteil Ankaras am Krieg in Syrien. Dort unterstützt die AKP-Regierung mit stiller Hilfe der NATO-Verbündeten seit 2011 massiv islamistische Mordbanden.

Die Regierung hatte Hunderte Polizisten entlassen, denen sie vorwarf, sie nicht über die Ermittlungen informiert zu haben. Am Donnerstag wurde zudem der Staatsanwalt Muammer Akkas von den Ermittlungen abgezogen. Er erklärte, man habe ihn unter Druck gesetzt. Die Presse meldete außerdem, daß die Justiz auch gegen Erdogans Sohn Bilal ermittelt, der die Jugend- und Bildungsstiftung Turgev leitet. Erdogan hatte zuvor erklärt, er selbst sei das wahre Ziel der Korruptionsermittlungen.

Der Generalstab erklärte, die Streitkräfte wollten »nicht in die politischen Debatten« hineingezogen werden. Sie hatten in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder interveniert und NATO-geschützte Militärdiktaturen errichtet. Die türkische Lira rutschte am Freitag im Handel mit dem US-Dollar auf ein Rekordtief von zeitweise 2,1761 Lira pro Dollar. Auch türkische Staatsanleihen und der Aktienmarkt des Landes gerieten massiv unter Verkaufsdruck, nachdem sich ausländische Investoren teilweise aus dem Markt verabschiedet hatten. Mehrere Abgeordnete kehrten der AKP außerdem den Rücken. Drei Parlamentarier erklärten am Freitag ihren Austritt aus der Partei. Sie kamen einem Parteiausschluß zuvor. Die AKP warf ihnen vor, Partei und Regierung mit kritischen Bemerkungen geschadet zu haben. In dieser Woche hatte bereits Exinnenminister Naim Sahin seinen Austritt aus der AKP erklärt. Kurz vor Bekanntwerden des Korruptionsskandals hatte der einstige Fußballstar Hakan Sükür die Partei verlassen. Die absolute Mehrheit der AKP im Parlament gefährden die fünf Austritte allerdings nicht.

** Aus: junge Welt, Samstag, 28. Dezember 2013


Muslimbrüder

Machtkampf in der Türkei

Von Sevim Dagdelen ***


In der Türkei findet ein Infight der religiös maskierten Neoliberalen statt. Wie feindliche Brüder schlagen die AKP-Partei von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und die US-orientierte Bewegung des Predigers Fethullah Gülen nach zehn Jahren gemeinsamen Wegs aufeinander ein. Angeblich wurde jetzt entdeckt, daß Erdogans System auf Bereicherung und Korruption angelegt war. Tatsächlich stehen beide in der Tradition der Muslimbrüder. Diese wurden in den 1920er Jahren von den britischen Kolonialherren in Ägypten gegen Linke und Gewerkschaften in Stellung gebracht wie in der Türkei Ende der 90er Jahre Erdogan und Gülen. Damals war das Modell einer Lenkung des Landes durch das Militär am Ende. Im Westen wurden die Selbstbilder Erdogans und Gülens als islamisch-konservativ und islamisch-liberal bereitwillig verbreitet, das Interesse am Ausverkauf des Landes und an dem Niederhalten der Arbeiterbewegung war stark.

Die Inhaftierung Tausender kurdischer Politiker, Repressalien gegen Gewerkschafter, Diskriminierung der Aleviten, Blasphemieverfahren gegen säkulare Künstler und Intellektuelle sowie die blutige Niederschlagung der Gezi-Park-Proteste waren nie ein Anlaß für den Westen, auf Distanz zu Erdogans Weg in einen islamistischen Unterdrückungsstaat zu gehen. Im Gegenteil, gleichsam als Belohnung wurden die EU-Beitrittsverhandlungen kürzlich intensiviert. Das neue Modell verschärfter Ausbeutung hätte weiter funktionieren können, wären die Muslimbrüder anderswo nicht bei der Unterdrückung der säkularen Bewegung des »arabischen Frühlings« gescheitert. Noch 2012 galt das AKP-Regime im Westen als Exportschlager für die arabische Welt. Nichts war für Washington und Berlin attraktiver als eine rechte islamistische Bewegung, die mithalf, antiimperialistische Linke, Gewerkschaften und Arbeiterbewegung zu marginalisieren. Die Bundesregierung entsandte sogar Truppen an die syrisch-türkische Grenze. Die Unterstützung der AKP für Al-Qaida-Banden wurde augenzwinkernd befürwortet, kein Wort der Kritik gab es an der Verfolgung von Säkularen, Christen, Alawiten, Kurden und anderen Minderheiten durch die Terrorbanden in Syrien.

Die Trennung von Erdogan und Gülen hat aber hier ihren Grund. Erdogans Konzept eines entfesselten Kapitalismus in religiöser Verkleidung und einer aggressiven Regionalmacht Türkei vor Damaskus ist gescheitert. Der Terror seiner Kreaturen ist so offenkundig, daß in Washington offensichtlich entschieden wurde, ihn auszuwechseln. Er wird damit einer in der langen Reihe der Frankensteinmonster, die von den NATO-Staaten geschaffen wurden. Für die Linke hierzulande heißt das, sich mit der säkularen antikapitalistischen Bewegung im Nahen und Mittleren Osten zu solidarisieren und die Kumpanei Angela Merkels mit Erdogan zu attackieren.

*** Die Autorin ist Sprecherin für Internationale Beziehungen der Linksfraktion im Bundestag.

Aus: junge Welt, Samstag, 28. Dezember 2013 (Kommentar)



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