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Wunden der Vergangenheit

Massengräberfunde in der Türkei. Kurden fordern Wahrheitskommission

Von Nick Brauns *

Mehrere in den letzten Wochen entdeckte Massengräber in den kurdischen Landesteilen der Türkei lassen die Wunden der Vergangenheit wieder aufbrechen. Bis zu 17000 Menschen – Guerillakämpfer, Kommunalpolitiker, Journalisten, Anwälte und einfache Bauern – gelten seit den 90er Jahren als »verschwunden«. Sie wurden im Krieg gegen die Arbeiterpartei Kurdistans PKK von staatlichen Todesschwadronen verschleppt, von der Militärpolizei Jandarma vorgeladen oder nach ihrer Gefangennahme extralegal hingerichtet.

Seit Anfang Januar bei einer Müllhalde nahe einer Polizeistation bei der Stadt Bitlis die Knochen von rund 20 Menschen ausgegraben wurden, reißen die Proteste Tausender Menschen gegen die Untätigkeit der Regierung nicht ab. Durch Zeugenaussagen aus der Bevölkerung sowie von PKK-Kämpfern hat der Menschenrechtsverein IHD die Namen von 1469 an 119 Stellen anonym bestatteten Menschen erfaßt. Bislang seien die sterblichen Überreste von 171 Personen in 26 Massengräbern entdeckt worden, erklärte der IHD-Vorsitzende von Diyarbakir, Serdar Celebi.

Inzwischen hat der ehemalige Bürgermeister der Stadt Siirt, Ekrem Bilek, die seit 20 Jahren geäußerte Vermutung bestätigt, wonach das sogenannte Schlachter Flüßlein in Siirt als Massengrab für Opfer der Militärpolizei gedient habe. »Viele nicht identifizierte Leichen wurden der Stadtverwaltung von den Behörden zur Beerdigung übergeben«, gestand Bilek, der seit seiner Wahl 1989 mit der Jandarma kooperierte. Die Leichen von bis zu 200 Ermordeten werden noch im »Schlachter Flüßlein« vermutet.

Die prokurdische Partei für Frieden und Demokratie (BDP) fordert die Einrichtung einer parteiunabhängigen Wahrheitskommission, um die Gräber zu finden, die Opfer zu identifizieren und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Doch bislang hat die islamisch-konservative AKP-Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan alle entsprechenden Anträge im Parlament abgelehnt.

»Wenn der Ministerpräsident die Schuldigen nicht preisgeben will, ist er ein Partner der Verbrechen von Ergenekon«, erklärte die BDP-Vorsitzende Gülten Kisanak unter Verweis auf den ominösen nationalistischen Geheimbund, dem zahlreiche, jetzt wegen angeblicher Putschvorwürfe inhaftierte Militärs angehören sollen. »Hier sind die Spuren von Ergenekon. Wo bleibt der Ministerpräsident?« Auch die PKK und ihr gefangener Vorsitzender Abdullah Öcalan haben eine Wahrheitskommission als vertrauensbildende Maßnahme für eine politische Lösung der kurdischen Frage benannt.

»Der Hauptgrund für die Furcht der AKP-Regierung vor einer Wahrheitskommission ist ihr Wissen, selber darunter begraben zu werden«, sieht PKK-Führungskader Cemil Bayik Verstrickungen der AKP in die Kriegsverbrechen.

Unterstützung kommt dagegen von der ansonsten militärfreundlichen kemalistischen Oppositionspartei CHP. »Licht in die ungelösten Morde und das Schicksal der Verschwundenen zu bringen, ist fundamental, um Frieden für unser Land, Demokratie, Aufklärung und eine Lösung des Kurdenproblems zu erlangen«, erklärte der stellvertretende CHP-Vorsitzende und ehemalige Vorsitzende der Rechtsanwaltskammer von Diyarbakir, Sezgin Tanrikulu.

Unterdessen wurde in der Provinz Tunceli (Dersim) ein Massengrab mit den Knochen von 230 Männern und Frauen entdeckt, die während der Niederschlagung des Dersim-Aufstandes 1938 getötet wurden. Kurden aus Dersim haben im letzten Jahr eine Kampagne zur Anerkennung dieser Massaker an Zehntausenden Bewohnern der Bergprovinz als Völkermord begonnen.

* junge Welt, 17. Februar 2011

Dokumentiert:

469 Leichen in 114 Massengräbern

Der Menschenrechtsverein IHD geht laut einem Bericht davon aus, das seit 1989 in der gesamten Türkei 469 Leichen in 114 Massengräbern verscharrt wurden. Bislang seien 171 Leichname aus 26 Gräbern entdeckt und exhumiert worden.

Der Bericht wurde am 11. Februar auf einer Pressekonferenz in Amed (Diyarbakir) vorgestellt. Der Rechtsanwalt Reyhan Yalçındağ, Mitglied des IHD-Ehrenrats und Zeuge bei der Entdeckung einiger der Gräber, wies auf den drei Jahrzehnte andauernden Krieg und seine materiellen und psychischen Folgen für die Region hin.

„Die Türkei hat gegen jede Art nationaler und internationaler Regeln und Abkommen zur Kriegsführung verstoßen. Auch das „Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen“ der Vereinten Nationen ist von der Türkei während dieses Krieges verletzt worden. Sämtliche Akten zu den Verfahren bezüglich der Massengräber sind unter Verschluss. Auch diese Geheimhaltung verletzt Rechtsgrundsätze und hält Betroffene von der Wahrung ihrer Rechte ab“, so Yalçındağ, der daran die Frage anschloss, „ob die Regierung damit der Strafe für Verbrechen entgehen will, die von ihren eigenen Beamten begangen wurden“.

Der Journalist Günay Aslan hatte das Massengrab in Newala Qesaba entdeckt und konnte die Namen von 73 Menschen ermitteln, die in dieser Region begraben wurden. Unter ihnen ist auch Mahsum Korkmaz, eines der Gründungsmitglieder der PKK. Aslan wandte sich mit seinen Erkenntnissen an die Staatsanwaltschaft von Özalp und konnte die Öffnung eines Massengrabs durchsetzen. 1989 konnten dort acht Leichen geborgen werden.

Raci Bilici, Mitarbeiter des IHD in Amed, forderte die Regierung auf, eine DNA-Datenbank einzurichten, die die Identifizierung der menschlichen Überreste aus den Massengräbern erleichtern soll.

Neben Aslan berichtete vor kurzem auch Ekrem Bilek, ein ehemaliger Bürgermeister von Siirt, dass in den 90er Jahren acht Leichname aus einem Massengrab bei Newala Qesaba exhumiert wurden. „Schon bevor ich Bürgermeister von Siirt wurde, wurde in familiären Kreisen davon gesprochen, dass nahe der Mülldeponie von Newala Qesaba zahlreiche kurdische Menschen verscharrt würden. 1989 wurde ich dann zum Bürgermeister gewählt und ich hatte von nun an offizielle Beziehungen zur Gendarmerie. Ich konnte bezeugen, dass alle Gerüchte der Wahrheit entsprachen. Die Behörden lieferten zahlreiche unidentifizierte Tote bei der Stadtverwaltung ab und forderten uns auf, diese zu begraben. Diese Vorfälle lasteten schwer auf meinem Gewissen. Ich forderte die Staatsanwaltschaft von Siirt auf, die Gräber zu öffnen, was nach einiger Zeit auch geschah. Während der Ausgrabungen konnten acht Leichen entdeckt werden, deren Identifikation nicht mehr möglich war. Von den Behörden gab es keine Stellungnahme dazu. Die gefundenen Überreste wurden von uns auf dem Zewye-Friedhof bestattet. Jeder der Toten war von Kugeln durchsiebt.“

Die Frage der Massengräber ist ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangt, seit am 5. Januar die sterblichen Überreste von 12 PKK-Mitgliedern im Hinterhof einer Gendarmeriestation in Mutki entdeckt wurden. Nach Angaben von Familienangehörigen weiterer 36 „verschwundener“ PKK-Mitglieder sollen sich allein dort noch drei weitere Grabstätten befinden, die die Leichname ihrer vermutlich 1992, 1996 und 2003 getöteten Angehörigen enthalten.

Seit dieser Entdeckung wurden zahlreiche weitere Grabstätten gefunden, auch weil sich die Staatsanwaltschaften inzwischen verstärkt dieser Frage annehmen. Die Kurdinnen und Kurden in der Türkei befürchten allerdings, dass die Regierung es bei der Exhumierung der Getöteten belässt und keine Anstrengungen unternimmt, die Mörder zur Verantwortung zu ziehen. In zahlreichen Demonstrationen machen daher die Angehörigen der „Verschwundenen“, die sich in Organisationen wie MEYA-DER oder den Samstagsmüttern zusam­mengefunden haben und vom IHD und der BDP unterstützt werden, auf die Situation aufmerksam und fordern eine vollständige Aufklärung der Vorfälle.

Quelle: DIHA, 11.1., 5./9./11.2. 2011, ISKU




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