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"Die Leute treffen sich seit Wochen jeden Abend"

Nach der vorläufigen Niederschlagung der Proteste in der Türkei organisiert sich die Bevölkerung in Foren. Ein Gespräch mit Mustafa Kaya *


Mustafa Kaya (Name geändert) ist ­Aktivist des Forums im Istanbuler ­Stadtviertel Kadiköy.


Wie haben sich die Foren in Istanbul entwickelt?

Am letzten Tag der Besetzung des Gezi-Parks, direkt vor der Räumung am 15. Juni, wurden sieben Foren unter den Parkbesetzern abgehalten, um die weiteren Schritte des Kampfes zu diskutieren. Die prominentesten Sprecher der Plattform »Taksim Solidarität« waren dafür, den Park zu verlassen, aber alle sieben Foren entschieden sich für die Fortsetzung der Besetzung und den Widerstand gegen die Polizei. Nach der gewaltsamen Räumung haben sich die Foren in den Stadtteilen Istanbuls etabliert. Aktuell gibt es 44.

Hier in Kadiköy, auf der anatolischen Seite der Stadt, fand das erste Forum drei Tage nach der Räumung des Parks statt. Die Leute treffen sich seit vier Wochen jeden Abend in einem Park. Manchmal sind es 300, manchmal bis zu 1000 Personen. Es gibt eine Infrastruktur im Park, mit einer kleinen Küche und einem Kindergarten, und einige junge Leute zelten hier – wobei die Mehrheit den Park nicht rund um die Uhr besetzen will, da sie in der Nähe Wohnungen haben. Bis vor kurzem hing dort eine riesige Fahne Brasiliens, um die Proteste zu unterstützen.

Was macht ein Forum?

Die Diskussionen über die politische Situation dauern meist mehrere Stunden. Dazu gibt es auch Arbeitsgruppen, die sich zum Beispiel mit Theater oder dem Kindergarten beschäftigen.

Doch wir organisieren auch große politische Aktionen. Am 10. Juli ist Ali Ismail Korkmaz aus Eskiehir nach Wochen im Koma gestorben. Er war von regierungsnahen Schlägern schwer verprügelt worden, nachdem die Polizei eine Demonstration mit Tränengas auseinandergetrieben hatte. Im Krankenhaus ist er erst mal abgewiesen worden, weil er Demonstrant war. Seine Mörder sind immer noch nicht identifiziert worden. Am Abend, als sich die Nachricht von seinem Tode verbreitete, organisierten wir eine Demonstration in Kadiköy. Am Anfang waren wir nur einige hundert, aber die Anwohner kamen aus ihren Häusern, und bald waren wir 20000, die alle Straßen rund um den Hafen füllten.

Wie setzen sich die Foren zusammen?

Die Proteste in der Türkei waren nicht nur eine Jugendbewegung. Gut die Hälfte der Protestierenden sind Arbeiter aus dem Dienstleistungssektor, also aus Büros, Banken, der IT-Branche usw. Dagegen hat die Bewegung die Industriearbeiter nicht wirklich erfaßt. Auch die Generalstreiks, die im Juni während der Gezi-Park-Proteste ausgerufen wurden, wurden in erster Linie im Dienstleistungssektor oder im öffentlichen Dienst befolgt – die streikenden Lehrer waren ohnehin in den Sommerferien. Diese Streiks waren nicht sehr effektiv, da sie oft nur eine Stunde dauerten; die Gewerkschaftsführungen verließen nach 15 Minuten den Park wieder.

Deswegen machen wir in unserem Forum in Kadiköy verschiedene Sachen, um wirtschaftliche und soziale Forderungen in die Bewegung hineinzutragen und die Industriearbeiter zu erreichen. Als ersten Schritt haben wir eine Arbeitsgruppe für Arbeiter etabliert, um Forderungen zu erarbeiten. Laut türkischem Gesetz ist Streik im Finanzsektor verboten. So müssen Bankangestellte selbst für elementare gewerkschaftliche Rechte kämpfen.

Können diese Proteste auf die Industriearbeiter übergreifen?

Es ist schwierig, da die türkische Linke ihre Verbindungen zur Arbeiterklasse fast verloren hat. Es gibt zur Zeit Arbeitskämpfe, etwa die streikenden Kollegen von Turkish Airlines, die gegen Entlassungen protestieren. Doch die Protestbewegung hatte in erster Linie demokratische Forderungen: Neben der Zerstörung des Parks und der Polizeigewalt ging es auch um die Versuche der Erdogan-Regierung, Alkohol in der Öffentlichkeit zu verbieten oder das Recht auf Abtreibung einzuschränken – sogar Kaiserschnitte wollen sie verbieten.

Interview: Wladek Flakin

* Aus: junge Welt, Montag, 22. Juli 2013


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