Exgeneralstabschef in Haft
Gericht wirft türkischem Militär Führung einer terroristischen Vereinigung vor
Von Nick Brauns *
Erstmals in der Geschichte der Türkischen Republik wurde am Freitag (6. Jan.) ein ehemaliger Generalstabschef auf Anordnung eines zivilen Gerichts verhaftet. Ilker Basbug, der von 2006 bis 2010 an der Spitze der zweitgrößten NATO-Armee stand, wird der »Führung einer terroristischen Organisation« und des versuchten »gewaltsamen Sturzes der Regierung« beschuldigt. Eine Istanbuler Staatsanwaltschaft wirft dem pensionierten General mit Strafanzeige vom 30. Dezember 2011 vor, im Rahmen von Putschplänen gegen die islamisch-konservative AKP-Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die Einrichtung Dutzender Internetseiten zur Diskreditierung der Regierungspartei und Destabilisierung des Landes angeordnet zu haben.
Bereits am Donnerstag (5. Jan.) war der nun im Silviri-Gefängnis bei Istanbul inhaftierte General mehr als sieben Stunden lang verhört worden. Basbug wies die Vorwürfe vor Gericht als »tragikomisch« zurück. Als Mitglied des Generalstabes und des Nationalen Sicherheitsrates habe er jahrelang mit der politischen Führung des Landes zusammengearbeitet, ohne daß derartige Anschuldigungen laut geworden seien.
Das »Internet-Memorandum-Verfahren« ist Teil der Ermittlungen gegen eine ominöse nationalistische Putschistenorganisation namens Ergenekon. Bislang wurde keiner der rund 300 in den letzten fünf Jahren verhafteten Militärs, Journalisten, Anwälte und Akademiker verurteilt. Während regierungsnahe Medien immer neue angebliche Putschpläne gegen die AKP-Regierung enthüllen, bleiben tatsächliche Kriegsverbrechen, denen sich viele der inhaftierten Militärs während des Krieges in Kurdistan schuldig gemacht haben, von der Anklage ausgespart.
Die Opposition sieht daher im Ergenekon-Prozeß vor allem eine Operation der AKP und des hinter ihr stehenden Ordens des Imam Fethullah Gülen zur Ausschaltung der alten laizistischen Eliten in Staat und Gesellschaft. So wurden im Frühjahr 2011 selbst die beiden bekannten militärkritischen Journalisten Ahmet Sik und Nedim Sener nach ihren Enthüllungen über die Unterwanderung der Polizei durch den Gülen-Orden verhaftet. Am Donnerstag verfügte ein Istanbuler Gericht die Fortdauer der Untersuchungshaft gegen die Journalisten, die beschuldigt werden, ihre Bücher im Auftrag von Ergenekon verfaßt zu haben.
* Aus: junge Welt, 7. Januar 2012
Ex-Generalstabschef Basbug im Gefängnis
Von Jan Keetman, Istanbul **
Sieben Stunden musste der ehemalige
türkische Generalstabschef Ilker Basbug
am Donnerstag dem Staatsanwalt
mit besonderen Vollmachten, Cihan
Kansiz, in einem Verfahren gegen andere
hohe Offiziere Rede und Antwort
stehen. Kurz vor Mitternacht entschied
das Gericht auf Antrag des
Staatsanwaltes, Basbug sofort in Untersuchungshaft
zu nehmen.
Es ist das erste Mal, dass ein ehemaliger
Generalstabschef ins Gefängnis
muss. Allerdings ist Basbug
(sprich: Baschbu) nicht der
einzige General, den dieses
Schicksal in den letzten Jahren ereilt
hat. Es gibt mittlerweile sogar
ein eigenes Gefängnis für Gefangene
im Generalsrang, in dem etwa
40 Generale einsitzen, die
meisten wie Basbug pensioniert.
Ihnen wird vorgeworfen, in der einen
oder anderen Weise einen
Putsch gegen die gemäßigt islamische
Regierung Erdogan geplant
zu haben oder zumindest eine Destabilisierung
der Regierung betrieben
zu haben.
Von all diesen Vorwürfen, wegen
denen derzeit in verschiedenen
Verfahren etwa 700 Militärs
und Zivilisten angeklagt sind, ist
der Vorwurf gegen Basbug einer
derjenigen, die die meiste Substanz
haben. Offiziere hatten Internetseiten
betrieben, auf denen sie
Propaganda gegen die Regierung
machten, manchmal auch mit erfundenen
Geschichten.
Solche Darstellungen wurden
von dem Staatsanwalt Abdurrahman
Yalcinkaya benutzt, um ein
Verbot der regierenden AK-Partei
beim Verfassungsgericht zu beantragen.
Das Gericht prüfte jedoch
die Fakten und verwarf vieles, was
das Militär in Umlauf gebracht
hatte. Das Gericht verhängte am
30. Juli 2008 eine Geldstrafe, sah
aber mit knapper Mehrheit von einem
Verbot der Partei ab.
Basbug wurde einen Monat
nach dem Verfahren zum Generalstabschef
befördert. In dieser
Funktion war er bemüht, die
Spannungen zwischen Regierung
und Militär abzubauen oder wenigstens
nicht weiter eskalieren zu
lassen. Doch nun haben hohe Offiziere,
die sich bereits wegen der
Internetkampagne gegen die Regierung
in Untersuchungshaft befinden,
ausgesagt, sie hätten auf
Befehl gehandelt. Basbug soll offenbar
die Befehle gegeben haben,
denn der Staatsanwalt beschuldigt
Basbug als Anführer. Bereits vor
der Aussage hatte eine regierungsnahe
Zeitung von einer möglichen
Verhaftung des ehemaligen
Generalstabschefs geschrieben.
Entsprechend angespannt betrat
Basbug das Gericht. Die Entscheidung
kommentierte er mit
den Worten, dass es »tragisch-komisch
« sei, wenn er als ehemaliger
Chef des Generalstabes als
»Mitglied einer bewaffneten Terrororganisation
« beschuldigt werde.
Im Falle einer Verurteilung
droht Basbug eine lebenslange
Gefängnisstrafe ohne die Möglichkeit
zur Begnadigung, selbst im
Falle schwerer Krankheit.
Die Untersuchungshaft von
Basbug unterstreicht, dass die kemalistisch
geprägte militärische
Elite, die in der jüngeren Geschichte
der Türkei dreimal geputscht
hat und bis vor wenigen
Jahren noch immer das letzte Wort
hatte, von Erdogans AK-Partei zur
Seite geschoben wurde. Die Türkei
ist dadurch prinzipiell demokratischer
geworden.
Auf der anderen Seite werfen
Kritiker der Regierung vor, Gegner
als vermeintliche Putschisten
wegzusperren. Durch Zusammenlegungen
von Prozessen werden
Mammutverfahren geschaffen,
die schon wegen der hohen
Zahl von Angeklagten Jahre dauern
werden und die eine kritische
Öffentlichkeit kaum noch verfolgen
kann. Gleichzeitig mit der Inhaftierung
wurde auch das Verfahren
gegen Ilker Basbug und die anderen
in den Fall verwickelten Offiziere
mit einem weiteren Verfahren
um einen mutmaßlichen Aktionsplan
des Militärs zusammengelegt,
welches seit Jahren nicht
von der Stelle kommt.
** Aus: neues deutschland, 7. Januar 2012
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