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Tödliche Schüsse

Proteste in der Türkei nach Angriff der Armee auf kurdische Demonstranten

Von Nick Brauns *

Nach Schüssen der Armee auf Demonstranten in der kurdischen Provinz Diyarbakir ist es am Wochenende in mehreren Städten der Türkei zu Protesten gekommen. Am Freitag hatten Soldaten nahe der Stadt Lice das Feuer auf Hunderte Demonstranten eröffnet, die gegen den Ausbau eines Militärstützpunktes protestiert und dabei Zelte auf der Baustelle zerstört hatten. Durch die Schüsse wurden der 18jährige Mehmet Yildirim getötet und zehn weitere Demonstranten zum Teil schwer verletzt.

Trotz des Rückzugs der Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) aus der Türkei werden derzeit nach Informationen der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) 134 neue Polizei- und Militärposten in den kurdischen Landesteilen errichtet. Bei Protesten dagegen wurden in den letzten Wochen auch Baufahrzeuge angezündet. Die Nachrichtenagentur Dogan meldete zudem, daß am Wochenende bei einer Straßenkontrolle von PKK-Aktivisten bei Lice ein Offizier einer Spezialeinheit verschleppt worden sei.

Während in einigen kurdischen Städten die Läden als Zeichen des Protestes geschlossen blieben, versammelten sich am Samstag in Istanbul Tausende Menschen auf dem Taksim-Platz, um gegen das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten zu protestieren. Auf Transparenten hieß es unter Bezugnahme auf die durch die geplante Bebauung des Gezi-Parks am Taksim ausgelösten wochenlangen Massenproteste gegen die islamisch-konservative AKP-Regierung: »Lice widersteht, Gezi-Park widersteht«. Der Protest richtete sich auch dagegen, daß ein Polizist, der vor drei Wochen in Ankara den Demonstranten Ethem Sarisülük erschossen hatte, aus der Untersuchungshaft entlassen wurde. Als die Polizei mit Wasserwerfern auffuhr, löste sich die Kundgebung auf. In Ankara setzte die Polizei Gasgranaten ein, als Demonstranten der Erschossenen gedachten.

Auf der Beerdigungsfeier für Yildirim skandierten am Samstag in Diyarbakir Trauernde die Parole: »Paß auf, Erdogan, zwing uns nicht in die Berge!« Dem türkischen Ministerpräsidenten wurde so gedroht, sich im Falle eines Scheiterns des Friedensprozesses der Guerilla anzuschließen. AKP-Sprecher Hüseyin Celik warnte unterdessen über Twitter seine »kurdischen Brüder« vor einem »Komplott« rassistischer Kräfte gegen den Friedensprozeß. »Wenn die Regierung denkt, daß es sich hier um eine Provokation handelt, dann sollte sie den Kommandanten des Stützpunktes vom Dienst entfernen«, entgegnete der BDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas.

Der Angriff auf die Demonstranten erfolgte zu einem Zeitpunkt, an dem die Verhandlungen zwischen der PKK und der Regierung ins Stocken geraten sind. So hatte Recep Tayyip Erdogan in der vergangenen Woche erklärt, zentrale Forderungen der kurdischen Seite wie die Einführung kurdischsprachigen Schulunterrichts oder die Senkung der Zehn-Prozent-Hürde bei Parlamentswahlen ständen nicht auf der Agenda der Regierung.

* Aus: junge Welt, Montag, 1. Juli 2013


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