Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ehre heißt nicht Gehorsam

"Die Türkin" gibt es nicht: Frauen im Spannungsfeld zwischen erniedrigender Tradition und wachsendem Selbstbewusstsein

Von Susanne Götze *

Ein Gang durch die Straßen von Istanbul ist ein Eintauchen in einen Schmelztiegel, wie er im Buche steht. Menschen aus allen Gegenden der Türkei ziehen mit ihrem Hab und Gut in die Zehn-Millionen-Metropole. Andere, die es in der Stadt am Bosporus nicht geschafft haben, kehren in die Provinz zurück. »Den Istanbuler« gibt es nicht – genauso wenig wie »die Istanbulerin« oder »die Türkin«.

»Diese Stadt ist ein Patchwork der türkischen Regionen«, sagt die Frauenbeauftragte der Stadt Istanbul, Vildan Jirmibesoglu. Die Probleme der Metropole und insbesondere die Situation der Frauen seien ein Spiegelbild der Probleme überall in der Türkei. Immer noch sind Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen an der Tagesordnung in diesem Land, in dem sich Mittelalter und Moderne die Hände reichen. Türkische Frauenrechtlerinnen kämpfen seit Jahrzehnten dagegen an. Sie schauen mit einem lachenden und einem weinenden Auge in ihre Zukunft.

Relikte aus »vorislamischer Zeit«

Vildan Jirmibesoglu stammt aus der wohlhabenden Istanbuler Mittelschicht und hatte zunächst keine Erfahrung mit Gewalt oder Unterdrückung von Frauen, erzählt sie bei einer Audienz im Amtssitz der Istanbuler Stadtverwaltung. Erst als sie in den 90er Jahren heiratete und zu ihrem Mann in den Südosten der Türkei zog, wurde sie mit dem traditionellen ländlichen Frauenbild und mit grausamen Riten konfrontiert. Auch mit »Ehrenmorden«, die in Deutschland bisweilen Schlagzeilen machen: Frauen, die die Ehre ihrer Familie beispielsweise durch Ehebruch »beschmutzt« haben, werden von ihren Brüdern verfolgt und umgebracht.

Die heutige Politikerin und Anwältin Jirmibesoglu untersuchte daraufhin 300 Fälle angedrohter oder verübter Ehrenmorde in Familien unterschiedlichster regionaler Herkunft. Sie führte Interviews, lebte mit verfolgten Frauen zusammen. Jirmibesoglu schlussfolgerte, dass diese gewalttätige Unterdrückung der Frau ein Relikt »vorislamischer Traditionen« ist. Solche überlieferten, konservativen Bräuche seien nur schwer von »oben« zu steuern: »Die Situation wird sich erst grundlegend ändern, wenn die Generation der heute Über-40-Jährigen gestorben ist und junge Menschen nachgerückt sind. Manche der Jungen brechen schon heute die Verbindungen zu den Älteren ab«, berichtet die Frauenbeauftragte. Allerdings lebten erniedrigende Traditionen auch in den Großstädten fort. Zwar gebe es dort eine »aufgeklärte, westliche Mittelschicht«, doch die Probleme einer Migrantenstadt wie Istanbul seien nun mal typisch für die Situation des Landes: hier mittelalterliche Unterdrückung, dort das moderne türkische Leben.

Fragt man die Istanbuler Frauen selbst nach ihrer Lage, ergibt sich ein ähnliches Patchwork-Bild. In dem eigens für die Integration von Zuwanderern eingerichteten Gemeinde- und Nachbarschaftszentrum im Istanbuler Arbeiter- und Migranten-Stadtteil Gazi Mahallesi sprechen sie über ihre Situation: Sie sind alle Hausfrauen, können oder dürfen nicht arbeiten, weil sie entweder keine Arbeit finden oder ihre Männer wollen, dass sie zu Hause bleiben. Selbst dass sie sich in einem solchen Zentrum treffen, stößt auf ein geteiltes Echo. Mancher Mann verbiete seiner Frau, ins Zentrum zu gehen, erzählt eine junge Frau mit langen blonden Haaren. So sei es ihrer Nachbarin ergangen. Andere berichten dagegen, ihre Männer ermutigten sie sich weiterzubilden.

Wenn die Frauen erzählen, was sie mit dem Wort »Ehre« verbinden, wird es lebhaft: Sie betonen, dass es ihnen dabei keineswegs um »Reinheit« und Gehorsam, sondern darum gehe, dass man nichts tue, was man eigentlich nicht wolle, und dass die Ehre von »innen« komme und nichts mit dem äußerlichen Bild der Familie zu tun habe.

Der Graben zwischen modernem Leben und althergebrachten, orthodoxen Vorstellungen vieler Familienoberhäupter scheint sich derzeit aber zu vertiefen. Nicht ohne Grund stellt die EU-Kommission in ihrem Anfang November erschienenen Fortschrittsbericht über den Beitrittskandidaten Türkei fest, dass der allgemeine Rechtsrahmen zur Geschlechtergleichstellung zwar formell geschaffen wurde, dass es aber an der Umsetzung hapere. Ehrenmorde und häusliche Gewalt stellten immer noch ein ernstes Problem dar und die Gleichberechtigung auf wirtschaftlicher und politischer Ebene sei noch lange nicht verwirklicht.

Dunkelziffer bei Gewalt immens hoch

Auch 2007 gab es wieder 220 Fälle sogenannter Ehrenmorde in der Türkei und die Zahl der angezeigten Gewalttaten gegen Frauen steigt – auch wenn es dazu kaum offizielle Daten gibt. Solche Zahlen sagen ohnehin wenig über die wirkliche Entwicklung im Lande aus. Dies bestätigen die meisten Frauenrechtlerinnen. Einerseits ist die Dunkelziffer immens hoch. Dass es in den letzten Jahren mehr Meldungen über Gewalt gab, hängt mit verschiedenen Faktoren zusammen. Erstens wurden zwischen 2001 und 2004 erhebliche Änderungen an den Zivil- und Strafgesetzen vorgenommen. Das hatte ein Netzwerk von über 60 Frauenorganisationen durch jahrelange Kämpfe gegen das von Männern dominierte Justizsystem durchgesetzt. Die entscheidende Rolle spielte aber wohl der Druck von Seiten der EU, wie Efsa Kuraner von der Kampagne »Frauen für Menschenrechte von Frauen« zugibt. Ihre Organisation hatte sich drei Jahre lang für weit reichende Änderungen im türkischen Strafrecht stark gemacht. Insgesamt erreichten die Frauen an die 30 Gesetzesänderungen – in erster Linie härtere Strafen für Ehrenmorde, Zwangsehen und Vergewaltigungen.

Außerdem zeigen sich türkische Frauen immer besser über ihre rechtliche Lage informiert, ergänzt die Deutsche Karin Ronge, die ebenfalls bei »Frauen für Menschenrechte von Frauen« arbeitet. Sie leitet in der Türkei schon seit über zehn Jahren Programme zur Aufklärung für Frauen, sogenannte »Menschenrechtstrainings«.

Feminismus ist im Aufwind

Die engagierten, emanzipierten Frauen in der Türkei verstehen es schon seit einigen Jahren, den Druck der EU-Beitrittsverhandlungen für ihren Kampf gegen das traditionelle Patriarchat zu nutzen. Immer mehr Organisationen werden von Frauen für Frauen gegründet – der Feminismus in der Türkei ist im Aufwind.

»Die Entwicklung der Türkei ist tatsächlich widersprüchlich: Einerseits öffnen wir uns nach Westen und die Frauen kennen zunehmend ihre Rechte, andererseits gibt es eine konservative Rückwärtsbewegung«, erklärt Sirma Evcan von der Organisation Kader, die politisch tätige Frauen unterstützt. In den letzten Jahren sei beispielsweise die Zahl der arbeitenden Frauen um 20 Prozent zurückgegangen. Ihrer Organisation ist es immerhin zu verdanken, dass die Zahl der politisch tätigen Frauen, die als Abgeordnete in Kommunal- und Landesparlamenten sitzen, von vier auf neun Prozent gestiegen ist. Frauenrechtlerinnen wie Evcan sehen aber mit Sorge, wie gleichzeitig die Gewalt zunimmt und viele Frauen sich aus der Öffentlichkeit ins private Wohnzimmer zurückziehen.

Immer mehr Türkinnen wehren sich freilich. Kein Wunder also, dass die neu geschaffenen Anlaufstellen für Frauen gut besucht sind. Seit zehn Jahren existieren Frauenhäuser als Stätten der Zuflucht vor gewalttätigen Ehemännern. Auch Notruftelefone wurden – vor allem in großen Städten wie Istanbul – eingerichtet. Die strengeren Gesetze sowie mehr Aufklärung und materielle Unterstützung für Frauen sind Gründe dafür, dass Gewalt gegen Frauen häufiger öffentlich zur Sprache kommt. Tatsächlich gibt die Istanbuler Stadtverwaltung zu, dass die Frauenhäuser oft aus allen Nähten platzen. Bisweilen müssten noch Hotels dazugemietet werden.

Die Frauen des Integrationszentrums Gazi Mahallesi berichten, dass sie durch Weiterbildungskurse und Diskussionsangebote selbstbewusster geworden sind. Viele von ihnen kennen inzwischen ihre Rechte und meinen, dadurch habe sich ihr Familienleben zum Guten verändert. Die Männer hätten mehr Achtung vor ihnen. Noch immer träumen die Frauen von einem besseren, selbstbestimmten Leben, und die Mehrheit wünscht sich, dass ihre Töchter einmal arbeiten und ihr eigenes Geld verdienen werden.

* Aus: Neues Deutschland, 27. November 2008


Zur Türkei-Seite

Zurück zur Homepage