Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Es gibt kein Zurück"

Gespräch mit Figen Yüksekdag. Über die Stärke der Protestbewegung in der Türkei, die Repression durch die Regierung in Ankara und deren aggressive Kriegspolitik gegenüber Syrien *


Figen Yüksekdag ist Vorsitzende der türkischen Sozialistischen Partei der Unterdrückten (ESP). Die ESP war bei den Protesten auf dem Istanbuler Taksim-Platz besonders aktiv und mit am stärksten von der Repression durch Regierung und Justiz betroffen.


Nach der Erstürmung des Istanbuler Taksim-Platzes im Juni ist es eine Zeitlang ruhiger geworden um die Protestbewegung in der Türkei, zumindest wenn man als Indikator Massendemonstrationen und Straßenschlachten nimmt. Anfang September begannen dann, diesmal ausgehend von Ankara und der Provinz Hatay an der syrischen Grenze, aber auch von Istanbul aus die Demonstrationen und militanten Auseinandersetzungen erneut. Es gab einen Toten und zahlreiche Verletzte. Anfang Oktober wüteten Antiterroreinheiten in Istanbul. Wie hat sich die Bewegung entwickelt? Ist sie schwächer geworden oder vielleicht sogar stärker?

Sie scheint zwar zwischenzeitlich abgeflaut zu sein, eigentlich ist sie es aber nicht. Vielmehr hat sie sich kontrolliert und bewußt von einigen Stellungen zurückgezogen, die sie erkämpft hatte. Im Juni haben die Menschen gegen die Räumung des Taksim-Platzes gekämpft und mußten sich von dort zurückziehen, ruhiger geworden ist es danach allerdings nicht. Schon vor der Erstürmung des Taksim wurden an etwa 60 anderen Stellen in Istanbul Parks besetzt und so Orte geschaffen, an denen die Bewegung weitergehen kann. Nach der Räumung des Taksim-Platzes ist diese Zahl stark angestiegen, die Menschen eigneten sich Hunderte Parks an. Die zentrale Bewegung hat sich also vom Taksim ausgehend regionalisiert, in die lokalen Plätze und Parks des Gebiets von Istanbul hinein.

Auf diese Weise wurde die Idee der ersten Proteste in breitere Bevölkerungsschichten hineingetragen, sie ist ein Teil des alltäglichen Lebens der Menschen geworden. Im Grunde war die polizeiliche Stürmung des Gezi-Parks daher kein Erfolg, sondern eher eine Niederlage für die Regierung. Sie nahm an, die Leute würden nach der Räumung einfach in ihre Wohnungen zurückkehren und die Sache wäre vorbei.

Die öffentlichen Foren der Demonstranten bilden mittlerweile eine Art Volksräte, insofern ist ein neues Mittel des Kampfes entstanden, das wir in dieser Form zuvor nicht hatten. Die Menschen haben aus den Erfahrungen, die sie während des Gezi-Widerstandes sammelten, gelernt und dann mit einfachen, aber sehr wirksamen Mitteln der Bewegung einen dauerhafteren Charakter verliehen. Die Foren sind zu Zentren geworden, in denen man sich austauschen und gemeinsam Entscheidungen treffen kann.

So ist das Taksim-Solidaritätskomitee, das ursprünglich die Bewegung geleitet hat, quasi in die zweite Reihe gerückt, und das Volk hat selbst angefangen zu diskutieren und zu entscheiden. Das Komitee ist zwar nicht verschwunden, denn wenn es zu Demonstrationen aufruft, beteiligen sich massenhaft Leute. Das Neue ist aber, daß die Menschen nicht auf den Aufruf einer Zentrale warten, sondern ihre Angelegenheiten über die Foren selbst in die Hand nehmen.

Auch im Hinblick auf die Repression durch den Staat hat das Vorteile: Das Taksim-Solidaritätskomitee ist eine zentrale Organisation. Natürlich kann die Regierung eine Schaltstelle dieser Art einfacher unter Kontrolle bekommen als Hunderte solcher Organe auf regionaler Ebene. Das fällt ihr bedeutend schwerer.

In den Foren haben sich auch Untergliederungen gebildet. In Istanbul etwa gibt es zwei sehr große zentrale Foren, Abbasaga- und Yogurtcu-Park. Letzteres hat 173 Unterforen und Arbeitsgruppen. Diese Foren haben die Bewegung bis jetzt aufrechterhalten. Ein wichtiger Aspekt ist, daß sie selbst in kleinen Stadtteilen und Städten existieren und dort nicht nur die allgemeinen Forderungen der Bewegung aufgestellt werden, sondern eigene regionale Probleme thematisiert werden. Der Grundgedanke ist, seine eigenen Probleme nun auch selbst anzugehen, es geht um den Aufbau eigener Machtstrukturen in Stadtteilen und Bezirken.

Wie viele Menschen beteiligen sich jeweils an den Foren?

Zwischen etwa 50 und hundert Leuten nehmen an den Unterforen jeweils teil. Bis Ende August war die Beteiligung sehr stark und stabil, dann hat die Teilnehmerzahl etwas abgenommen. Deshalb haben auch viele aufgehört, sich täglich zu treffen. Sie halten jetzt nur noch zwischen drei- und einmal wöchentlich Versammlungen ab. Das sollte man aber nicht in der Form mißverstehen, daß die Menschen die Foren jetzt als überflüssig ansehen. Die meisten halten sie immer noch für notwendig. Es gibt recht einfache Gründe für den leichten Rückgang: Die Schulen und Universitäten begannen wieder mit Unterricht beziehungsweise Lehrveranstaltungen und auch diejenigen, die arbeiten, müssen nach Monaten des Kampfes ihr Alltagsleben weiterführen.

Die Forenbewegung sucht aber derzeit nach neuen Wegen und neuen Mitteln. Möglicherweise wird man sich bald nicht nur in Parks treffen, sondern vielleicht einige zentrale Gebäude besetzen und versuchen, dort Volksräten ähnliche Strukturen aufzubauen. Es wird versucht, Wege zu finden, damit die Bewegung noch effektiver in neuen Formen weitergehen kann.

Gibt es solche Foren- oder Rätestrukturen wie in den Stadtteilen auch in Betrieben oder Fabriken?

Nein, eine derartige Organisierung in Betrieben gibt es leider derzeit nicht. Das ist auch einer der größten Mängel der Bewegung. Die Arbeiter sind natürlich auf der Straße gewesen und haben sich massiv am Widerstand beteiligt, aber sie haben es nicht geschafft, diese in die Fabriken und Produktionsstätten zu tragen. Das liegt hauptsächlich daran, daß die Gewerkschaften keine Schritte in diese Richtung unternommen haben, sondern eher ein Hindernis waren.

Momentan sieht es so aus, daß die Gewerkschaften weder willens noch in der Lage sind, eine solche Klassenbewegung voranzutreiben. Das ist durchaus ein Problem. Aber auch die Bevölkerung selbst ist noch nicht so weit. Trotzdem steht die Arbeiterklasse selbstverständlich nicht außerhalb dieser Bewegung, sondern mitten in ihr. Die Arbeiter haben zwar die Produktion nicht eingestellt, keine großen Streiks begonnen, aber sie sind sofort nach Arbeitsschluß immer zur Bewegung gestoßen, haben nachts an den Barrikaden mitgekämpft. Hunderttausende haben die Nächte auf den Plätzen, auf der Straße verbracht und sind morgens wieder zurück zur Arbeit – und das jeden Tag. Auch jetzt bei den Foren in den Wohngebieten nehmen viele Arbeiter aktiv teil und vertreten hier ihre Interessen.

In den Medien wurde oft verbreitet, es handle sich um keine Bewegung der Arbeiterklasse, sondern um eine der Mittelschicht und der Kleinbürger, die momentan unzufrieden sind. Das stimmt nicht. Die überwiegende Mehrheit der Leute auf der Straße gehört der Arbeiterklasse an. Was aber zu sagen ist: Die Arbeiterklasse war nicht als Klasse, also mit Klassenbewußtsein und Bewußtsein ihrer Rolle da.

Nun ist es ja so, daß der Staat nach wie vor sehr repressiv auf die Bewegung reagiert – Mitte Oktober war das bei der Niederschlagung von Studentenprotesten in Ankara, wenige Tage zuvor bei Razzien in Istanbul und bei Polizeiüberfällen in Hatay wieder zu sehen. Gegen Hunderte Schulrektoren wird ermittelt, weil sie angeblich die Proteste unterstützt hätten. Wie ist die Bilanz dieser Unterdrückungswelle?

Die AKP-Regierung hat mit verschiedensten Strategien versucht, diese zu zerschlagen, aber das ist bisher nicht gelungen und wird auch nicht gelingen, weil die Bewegung in unterschiedlichsten Formen existiert, von sehr militanten bis sehr friedlichen. Sie ist äußerst flexibel in ihren Methoden.

Die stärkste Waffe in der Hand der Regierung war die Angst der Massen. Die Menschen hatten lange Zeit große Furcht und rührten sich deshalb nicht. Aber es kam der Moment, in dem sich das lange Aufgestaute Bahn brach. Die Regierung verfügt nicht mehr über die Waffe der Einschüchterung, und hinter diesen Fortschritt gibt es kein Zurück.

Die Menschen wissen, daß sie angegriffen werden, wenn sie auf die Straße gehen, sie wissen, daß sie verletzt oder getötet werden können. Sechs Menschen sind seit Juni durch die Polizeigewalt ums Leben gekommen. Aber dennoch gehen die Demonstrationen weiter. Um die hundert Menschen haben ihr Augenlicht verloren oder andere schwere Verletzungen erlitten. Es gab insgesamt bislang etwa 5000 vorläufig Festgenommene. Immer noch in Haft sind etwas über 90. Die Häfte davon sind Mitglieder der Sozialistischen Partei der Unterdrückten, der ESP.

Trotz der Repression geht die Bewegung weiter. Zur Zeit versucht sie, die geräumten und verbotenen Plätze in den Städten zurückzuerobern. Außerdem bilden sich neue Zentren heraus, beispielsweise Hatay. Hier gibt es ein ungelöstes Problem, nämlich die Kriegsdrohungen gegen Syrien. In Hatay leben große alawitische und arabische Bevölkerungsgruppen.

Schon im Juni haben ja, vor allem im politischen Teil der Gezi-Bewegung, auch außenpolitische Motive eine Rolle gespielt. In der Syrien-Frage hat die AKP-Regierung beinahe seit Beginn des Konflikts immer eine sehr aggressive Linie vertreten. Wie wird in der Bevölkerung diese Politik wahrgenommen?

Der überwiegende Teil der Bevölkerung, etwa 55 bis 60 Prozent, lehnt diese Kriegspolitik der Regierung ab. Es gibt aber auch einen Teil der Bevölkerung, der unter Führung der AKP einen Krieg gegen Syrien befürwortet und sich davon erhofft, mit neoosmanischen Ambitionen weiterzukommen.

Da ist noch einen anderer Aspekt, der eine Rolle spielt: Diese Kräfte wollen nicht, daß im kurdischen Teil Syriens ein eigener Staat entsteht. Das ist ihre große Befürchtung. Sie erinnern sich an den Angriff auf den Irak 1991, in dessen Folge dort im Norden des Landes de facto ein kurdischer Staat entstanden ist. Sie wollen nicht, daß das auch in Syrien passiert. Aus diesem Grund will man notfalls auch mit kriegerischen Mitteln eine solche Entwicklung verhindern.

Aber die Regierung steht insgesamt momentan sehr schlecht in der Türkei mit ihrer Syrien-Politik da. Im Falle eines Angriffs auf das Land, und der ist durchaus möglich, wird das große Probleme für die Regierung mit sich bringen. Insbesondere in der Provinz Hatay könnte es vielleicht sogar zu einem Aufstand kommen.

Ich will noch auf den Friedensprozeß zwischen der Regierung und der kurdischen Befreiungsbewegung zu sprechen kommen. Er steht an einem Punkt, an dem schwer abzusehen ist, ob er überhaupt zu einer Lösung führen wird. Die AKP-Regierung in Ankara hält ihre Zusagen nicht ein, und die Arbeiterpartei Kurdistans, die PKK, scheint langsam auch mit ihrer Geduld am Ende zu sein. Wie schätzen Sie die Chancen für einen Frieden ein?

Die kurdische Seite hat ihre Hoffnungen noch nicht ganz aufgegeben. Ende September hat die türkische Regierung ein sogenanntes Reformpaket verabschiedet. Die kurdische Seite hatte angekündigt, sie wolle abwarten, ob etwas Brauchbares dabei ist. Heraus kam, daß die im kurdischen, nicht aber im türkischen Alphabet existierenden Buchstaben X, Q und W künftig straffrei verwendet werden dürfen. Bislang war es etwa verboten, das kurdische Neujahrsfest Newroz mit w zu schreiben, und Meldebehörden erkannten zahlreiche kurdische Namen auf Grund dieser Buchstaben nicht an. Unterricht an Privatschulen darf künftig auch in anderen Sprachen als Türkisch erteilt werden. Die Zehnprozenthürde bei Parlamentswahlen soll fallen. Seit der Verkündung dieser Dinge hat der Waffenstillstand im wesentlichen gehalten, das kann sich aber auch ändern. Sicher ist nur, daß diese sogenannten Reformen keine Ergebnisse haben werden, die für die Kurden oder andere unterdrückte Bevölkerungsgruppen zufriedenstellend sind.

Die AKP-Regierung will bis zu den Kommunalwahlen im Frühjahr 2014 Zeit gewinnen. Ob die kurdische Bewegung bis dahin Geduld aufbringen kann, wird entscheidend für den Friedensprozeß sein. Meine Einschätzung ist, daß die kurdische Seite das versuchen wird.

Aber sie werden sicherlich nicht untätig bleiben, und sich an den politischen Bewegungen in der Türkei beteiligen. Die kurdische Bewegung hatte sich bei den Gezi-Protesten zunächst stark zurückhaltend gezeigt, danach aber Selbstkritik geübt. Das ist ein Zeichen dafür, daß die Kurden in Zukunft stärker teilnehmen werden.

Interview: Thomas Eipeldauer

* Aus: junge welt, Samstag, 16. November 2013


Zurück zur Türkei-Seite

Zurück zur Homepage