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Politikverbot für Kurden

Von Nick Brauns *

Von Nick Brauns *

Mit militanten Massenprotesten demonstrierten Anhänger der linken kurdischen Partei für eine Demokratische Gesellschaft (DTP) am Wochenende in vielen Städten der Türkei gegen das am Freitag (11. Dez.) ergangene Verbot ihrer Organisation. In mehreren Istanbuler Stadtvierteln wurden Barrikaden errichtet. Die Polizei ging mit Panzerwagen und Tränengas vor. In Hakkari, der kurdischen Hochburg im Südosten, eröffneten Spezialeinheiten das Feuer auf Wohnhäuser. Die Nachrichtenagentur Firat meldete zahlreiche Verletzte und Festgenommene. Ladenbesitzer ließen ihre Geschäfte geschlossen, und aus Häusern wurden Transparente entrollt: »Wenn ihr uns tötet, werden wir mehr. Wenn ihr uns verbietet, wachsen wir«.

Die DTP, die mit 21 Abgeordneten im Parlament der Türkei vertreten ist, fungiere als politischer Arm der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und sei »zum Brennpunkt von Aktivitäten gegen die unteilbare Einheit des Staates, des Landes und der Nation geworden«. So hatte der Präsident des Verfassungsgerichts in Ankara, Hasim Kilic, das Urteil begründet. Dabei benutzte er ähnliche Formulierungen wie bei den Verboten von vier Vorgängerparteien der DTP seit Beginn der 1990er Jahre. »Einer Partei, die mit dem Terrorismus zu tun hat, kann keine Organisationsfreiheit zugestanden werden.« Die Gründung der DTP vor vier Jahren sei ebenso auf eine Weisung des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan zurückgegangen wie die Einführung der quotierten Doppelspitze der Partei sowie ihre Forderungen nach Föderalismus und kurdischsprachigem Schulunterricht.

Gegen 37 führende Politiker, darunter die Vorsitzenden Ahmet Türk und Aysel Tugluk sowie die Oberbürgermeister der Großstädte Batman und Siirt, wurde ein fünfjähriges Politikverbot verhängt. Die Betroffenen dürfen demnach »weder Gründer noch Mitglied, noch Mitglied des Vorstands oder des Aufsichtsorgans einer Partei werden«. Sich politisch zu engagieren wurde auch der Sacharow-Preisträgerin des Europäischen Parlaments, Leyla Zana, untersagt, obwohl sie gar nicht Mitglied der DTP war.

Mit der Aberkennung der Abgeordnetenmandate von Türk und Tugluk büßte die DTP im Parlament ihren Fraktionsstatus ein. Zwar bot der parteilose sozialistische Abgeordnete Ufuk Uras seinen Eintritt in die kurdische Abgeordnetengruppe an, doch am Samstag verkündete Ahmet Türk in Ankara den Boykott der parlamentarischen Arbeit. »Unsere Gruppe hat sich offiziell aus dem Parlament zurückgezogen.« Die Masse der Parteimitglieder und der etwa hundert von der DTP gestellten Bürgermeister wird voraussichtlich in die im vergangenen Jahr prophylaktisch gegründete Partei für Frieden und Demokratie (BDP) übertreten.

Daß die elf Richter einstimmig ihr Urteil fällten, deutet auf eine Weisung der Armeeführung hin. Die DTP-Spitze nannte die Entscheidung daher einen »politischen Putsch«. Das Urteil zeige, daß das kurdische Volk nach wie vor verleugnet wird.

Die schwedische EU-Ratspräsidentschaft zeigte sich »besorgt« über das Verbot der DTP, während das US-Außenministerium von einer »inneren Angelegenheit der Türkei« sprach. »Das Urteil der Verfassungsgerichts ist ein Schlag ins Gesicht der demokratischen Kräfte in der Türkei, die sich für die friedliche Lösung des Kurden-Konflikts einsetzen, sowie der Millionen Kurden in der Türkei«, erklärte Sevim Dagdelen als Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion Die Linke im Bundestag.

* Aus: junge Welt, 14. Dezember 2009


"Kriegserklärung an die Demokratie – Millionen Kurden sollen mundtot gemacht werden"

Im Wortlaut: Erklärung der Förderation Kurdischer Vereine in Deutschland Yek-Kom

Einmal mehr hat sich die Türkische Republik als Parteienfriedhof erwiesen. Die mit 21 Abgeordneten im türkischen Parlament vertretene kurdische Partei für eine Demokratische Gesellschaft DTP ist am Freitag vom türkischen Verfassungsgericht verboten worden. Die DTP war bei den Kommunalwahlen im März 2009 mit 2,6 Millionen Wählerstimmen zur führenden Kraft in den kurdischen Landesteilen geworden und stellte dort 99 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister auf.

Die 11 Richter schlossen sich einstimmig der Anklage der Generalstaatsanwaltschaft an, wonach die DTP mit ihren Forderungen nach verfassungsmäßiger Anerkennung der kurdischen Identität und regionaler Selbstverwaltung gegen die in der Verfassung festgeschriebene Einheit von türkischer Nation und türkischem Staatsgebiet verstoßen und als politischer Arm der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK agiert habe. Das Verbot der DTP wurde offenbar direkt vom Nationalen Sicherheitsrat angeordnet, wie die Einstimmigkeit des Richtervotums deutlich macht.

Gegen 37 Politikerinnen und Politiker, darunter die Parteivorsitzenden Ahmet Türk und Aysel Tugluk sowie vier Oberbürgermeister wurde ein fünfjähriges politisches Betätigungsverbot verhängt. Politikverbot erhielt auch die Sacharow-Preisträgerin des Europaparlaments Leyla Zana, obwohl sie nie Mitglied der DTP gewesen war. Durch den Verlust der Abgeordnetenmandate von Ahmet Türk und Aysel Tugluk verliert die DTP ihren Fraktionsstatus im türkischen Parlament.

Bereits in den letzten Wochen war die DTP nahezu vogelfrei. In mehreren Städten gab es Anschläge von türkischen Faschisten auf DTP-Büros und Lynchversuche gegen DTP-Anhänger. In den letzten zwei Wochen wurden Kundgebungen der DTP von der Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern angegriffen und rund hunderte Demonstranten festgenommen. In Diyarbakir wurde bei einer DTP-Kundgebung am vergangenen Sonntag ein Student von der Polizei erschossen.

Als Föderation Kurdischer Vereine in Deutschland Yek-Kom verurteilen wir das Verbot der DTP als einen Anschlag auf den Friedensprozess in der Türkei. Der türkische Staat und die Regierung von Ministerpräsident Erdogan haben damit deutlich gemacht, dass es ihnen entgegen vollmundiger Versprechungen nicht um eine friedliche Lösung der kurdischen Frage geht. Millionen Kurdinnen und Kurden sollen stattdessen durch die Zerschlagung ihrer demokratischen Selbstorganisation aus dem politischen Prozess ausgeschaltet und mundtot gemacht werden.

Der EU-Erweiterungskommisar Olli Rehn hatte erklärt, dass der politische Puralismus ein wichtiger Teil der Demokratie sei und DTP seinen Beitrag für diesen Pluralismus leiste. Seine politische Legalität habe die DTP bei den Wahlen im März bewiesen. Herr Rehn meinte, dass er das Verfahren gegen die DTP verfolgen wird und er glaube, dass die Prinzipien der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit einschließlich die Rechte der Angeklagten sich durchsetzen würden. Sowohl der EU-Erweiterungskommisar als auch die Venedig-Kommission erklärten, dass die türkischen Rechtsvorschriften, die die Verantwortung für die Schließung von politischen Parteien tragen, nicht im Einklang mit der Europäischen Konvention der Menschenrechte und mit den europäischen Geplogenheiten stehen.

Als Förderation Kurdischer Vereine in Deutschland Yek-Kom fordern wir sowohl von dem EU-Erweiterungskommisar als auch von der Venedig-Kommission hinter ihren Worten zu stehen somit Solidarität mit der DTP zu zeigen und die Türkische Regierung zu verurteilen.

Wir appellieren an die europäischen Länder, demokratischen Vereinigungen, Menschenrechtsvereine, MenschenrechtlerInnen und FriedenaktivistInnen für den Frieden und die Demokratie muss Solidarität mit der DTP gezeigt werden.

Düsseldorf, 10.12.2009




... und schon ist einer »Terrorist«

Türkei: Jugendlichen Demonstranten drohen drastische Gefängnisstrafen

Von Daan Bauwens (IPS), Diyarbakir **


Dem 17jährigen Kurden Engin Tekin drohen 50 Jahre Haft. Die türkischen Behörden werfen ihm vor, sich an einer verbotenen Demonstration beteiligt und Steine auf Polizisten geworfen zu haben. Menschenrechtler sind besorgt über die hohe Zahl zumeist kurdischer Minderjähriger, die in der Türkei zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt werden.

Seit der Verschärfung der »Antiterrorgesetze« können Kinder und Jugendliche, die linken Gruppierungen zugerechnet werden, für Jahrzehnte hinter Gitter kommen. Fast immer, so Rechtsanwalt Canan Atabey, treffen diese drakonischen Strafen junge Kurden aus dem Osten und Südosten des Landes. Atabey vertritt die Rechtsanwaltskammer der Stadt Diyarbakir bei der Europäischen Union und dem Weltkinderhilfswerk UNICEF.

Obwohl die Türkei die UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet hat, werden Minderjährige dort offensichtlich kaum geschützt. Die Regierung selbst räumte bereits ein, daß mehr als 2600 Jugendliche in Haft sitzen und diese Zahl weiter ansteigen wird. Die Initiative Justiz für Kinder (JCI), der auch Atabey angehört, hat die Statistik nach oben korrigiert und spricht von etwa 3000 jungen Gefängnisinsassen.

Kinder und Jugendliche sind seit den Aufständen in Diyarbakir 2006 verstärkt ins Visier der Polizei geraten. Die größtenteils von Kurden bewohnte Stadt gilt als Hochburg der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistan (PKK). Damals waren dort 14 PKK-Mitglieder getötet worden waren, wonach es zu zu schweren Auseinandersetzungen zwischen teils jugendlichen Demonstranten und Sicherheitskräften kam.

Der Oberste Gerichtshof der Türkei entschied daraufhin, daß die »Antiterrorgesetze« fortan auch auf 15- bis 18jährige angewendet werden können. Außerdem erweiterten die Richter den Terrorismusbegriff. Wer auf einer Demonstration die Fahne einer verbotenen Organisation schwenkt oder andere Propaganda betreibt, kann bereits als »Terrorist« angeklagt werden.

Nach Ansicht der kurdischen Anwältin Kezban Yilmaz geht die Polizei auch deshalb mit größter Härte gegen Kinder und Jugendliche vor, weil sie damit die Familien destabilisieren kann. »Die Repression zielt auf die gesamte kurdische Gesellschaft ab. Die Bevölkerung soll daran gehindert werden, sich für mehr Demokratie einzusetzen«, so die JCI-Sprecherin.

Laut Yilmaz legt die Justiz zweierlei Maß an. Wenn ein Kind bei einer Demonstration in Istanbul festgenommen werde, wendeten Staatsanwälte und Richter andere Gesetze an als bei einem vergleichbaren Fall in Diyarbakir, kritisierte sie. Bei ihrem Mandanten Tekin wurden mehrere Straftatbestände addiert, so daß ihm jetzt jahrzehntelange Haft bevorsteht. Außer den Steinwürfen auf Polizisten wurden dem Jungen Sprengstoffbesitz, die Beschädigung öffentlichen Eigentums und die Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation vorgeworfen.

Wie Yilmaz anprangerte, werden manche Kinder bereits festgenommen, weil sie in der Öffentlichkeit das »Victory«-Zeichen zeigten, kurdische Lieder sängen oder einfach zufällig in die Nähe von Demonstranten gerieten. »Sie werden völlig willkürlich in Gewahrsam genommen«, sagte sie.

Als Reaktion auf den in diesem Jahr verbreiteten JCI-Bericht hat das UN-Kinderrechtskomitee die türkische Regierung aufgefordert, 14 Fragen zur Inhaftierung unter 18jähriger nach den Antiterrorgesetzen zu beantworten.

** Aus: junge Welt, 14. Dezember 2009


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