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Kanzlerin trifft in Ankara auf neues Selbstbewusstsein

Für die Gastgeber zählt nur eine künftige EU-Vollmitgliedschaft

Von Jan Keetman, Istanbul *

Deutsch-türkische Begegnungen, auf die beide Nationen mit großen Erwartungen blicken, wird es mehrere geben in diesem Jahr. Das meiste Interesse wird gewiss das Europameisterschafts-Qualifikationsspiel zwischen beiden Auswahlmannschaften im Fußball am 8. Oktober in Berlin auf sich ziehen. Aber auch das »Auswärtsspiel« von Kanzlerin Merkel ab heute in der Türkei ist nicht ohne Brisanz.

Der Versuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel, schon Tage vor ihrer Ankunft in Ankara und Istanbul die Türken in Zeitungsinterviews von den Vorzügen der »privilegierten Partnerschaft« zu überzeugen, war tapfer, aber ebenso vergeblich wie ein Versuch, eine Metzgerei für Schweinefleisch in Mekka aufzumachen.

Letzte Meldung

Merkel und Erdogan entschärfen Streit über türkische Schulen

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan haben ihren Streit um türkischsprachige Schulen in Deutschland entschärft. Bei einem Treffen zum Auftakt von Merkels zweitägiger Türkei-Reise in Ankara am 29. März kamen sie überein, dass zweisprachige Schulen in Deutschland gegründet werden können. Beim Thema EU blieben beide Seiten bei ihren gegenteiligen Auffassungen.

Es gebe bereits Schulen in Deutschland, an denen Türkisch gelehrt werde, sagte Merkel nach dem Gespräch mit Erdogan vor Journalisten. Dies könne ausgebaut werden. Allerdings dürfe dies nicht dazu führen, dass türkische Schüler kein Deutsch lernten. Dies sei eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration. Von türkischer Seite hieß es, grundsätzlich seien sich Merkel und Erdogan einig. Gedacht werde an Schulen mit deutschem Lehrplan, aber türkischen Intensiv-Kursen, einem deutschen Direktor und einem türkischen Vize. In Istanbul will Merkel am Dienstag eine entsprechend organisierte deutsche Schule besuchen.

Deutschland strebe keine Assimilierung der in der Bundesrepublik lebenden Türken an, sondern eine Integration, sagte Merkel. Erdogan begrüßte die Haltung der Kanzlerin.

Bei der ebenfalls in den vergangenen Tagen erneut aufgeflammten Diskussion über die türkische EU-Kandidatur erneuerte Merkel ihre Skepsis hinsichtlich einer Aufnahme der Türkei. Sie bekräftigte aber zugleich, dass Deutschland trotz der seit dem Beginn des türkischen Europa-Strebens in den 60er Jahren erheblich veränderten Rahmenbedingungen zu den Beitrittsverhandlungen stehe. Berlin respektiere den Grundsatz, dass Verträge einzuhalten seien, sagte Merkel.

Die Bundeskanzlerin hatte in der vergangenen Woche als Modell einer "privilegierten Partnerschaft" vorgeschlagen, die EU und die Türkei sollten sich auf 28 der insgesamt 35 Verhandlungskapitel der Beitrittsverhandlungen einigen. Erdogan wies dies umgehend zurück. Der Ton in dieser Auseinandersetzung war teilweise sehr scharf. Erdogan sprach am Wochenende sogar von "Hass", der seinem Land in Deutschland entgegenschlage.

Türkische Verbände forderten mehr Sachlichkeit in der Diskussion. Der Verband Türkischer Unternehmer und Industrieller in Europa erklärte, die wirklich wichtigen Themen, die es zwischen Deutschen und Türken zu behandeln gebe, würden durch "hochkochende Emotionen" ins Abseits gedrängt. Der Ko-Vorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, reagierte empört auf die Debatte über die Einrichtung deutsch-türkischer Gymnasien. "Offensichtlich gibt es eine Allergie gegen alles, was mit der Türkei und der türkischen Sprache zu tun hat", sagte er der "Süddeutschen Zeitung".

AFP, 29. März 2010



Alles unterhalb der EU-Vollmitgliedschaft versteht man in der Türkei als Degradierung. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat denn auch sofort erklärt, dass er sich bei seinem Gespräch mit Merkel am heutigen Montag in Ankara erst gar nicht auf das Thema »Privilegierte Partnerschaft« einlassen werde. Erdogan präsentiert seine Wunschliste

Eines immerhin hält man Merkel in der Türkei zugute: Sie sagt offen, dass sie die Türken nicht in der EU sehen möchte. Im Grunde gibt es aber in der Frage der Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU auch nichts zu beschließen und keinen offenen Streit, denn Merkel sagt, dass sie sich an Verträge hält und die Beitrittsgespräche »ergebnisoffen« führt.

In der Türkei liest man den gleichen Text vor allem an anderen Stellen und findet, dass die Verhandlungen mit dem Ziel der Vollmitgliedschaft geführt werden. Tayyip Erdogan wird jedoch darauf drängen, dass sich Deutschland für die rasche Öffnung weiterer Verhandlungskapitel einsetzt. In den vergangenen fünf Jahren wurden erst zwölf von 35 Verhandlungskapiteln geöffnet.

Zum Teil liegt das aber auch an der Weigerung der Türkei, einen Zusatz zum Ankara-Protokoll – einem Anhang zum 1963 zwischen der EWG und der Türkei geschlossen Assoziierungsabkommen – zu unterzeichnen. Mit diesem Akt wäre das Embargo der Türkei gegen das EU-Mitglied Republik Zypern beendet. Bislang weigert sich die Türkei, ihre Flug- und Seehäfen für Flugzeuge und Schiffe aus der griechisch-zyprischen Republik zu öffnen. As Begründung dafür dient Ankara die Tatsache, dass die EU ihrerseits den von der Türkei seit 1974 okkupierten Teil Zyperns – die »Türkische Republik Nordzypern« – nicht anerkennt.

Damit sind wir bei der Liste der türkischen Wünsche. Neben dem Verlangen nach türkischsprachigen Schulen in Deutschland gehört dazu das nach der Aufhebung der Visumpflicht für türkische Staatsbürger. Merkel wird vermutlich Erleichterungen anbieten oder auf bereits gewährte Verbesserungen für Geschäftsreisende hinweisen. Doch den Türken ist das nicht genug. Eine weitere türkische Forderung ist die nach Anerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft.

Alle diese Forderungen sind zum Teil neu, zum Teil werden sie aber auch einfach nur lauter vertreten als früher. Dahinter steht ein neues Selbstbewusstsein der Türkei, das mit gegensätzlichen Entwicklungen in beiden Ländern zusammenhängt.

In Deutschland werden die einst höflich aber bestimmt »Gastarbeiter« genannten Türken mehr und mehr als Integrationsobjekt erkannt. In Ankara sieht man sie jedoch seit je – und unter Erdogan sogar erst recht – als verlängerten Arm der türkischen Interessen. Daher soll die Bindung der Deutschtürken ans Mutterland gestärkt werden, und das auch über Generationen hinweg.

Eine andere Entwicklung, die die deutsch-türkischen Beziehungen langfristig beeinflusst, ist die von beiden Seiten wahrgenommene wachsende politische und ökonomische Bedeutung der Türkei. Das Land empfiehlt sich als einzig möglicher Friedensstifter in einer Region, in der unter anderem der Palästina-Konflikt, der Zypern-Konflikt und der Atomstreit mit Iran beheimatet sind. Während die These, die Türkei könne wesentlich zur Befriedung all dieser Krisenherde beitragen, bisher unbewiesen blieb, ist es doch offensichtlich, dass ohne die Türkei alles sehr viel schwieriger würde. Ein heiß begehrter Wachstumsmarkt

In Deutschland setzt man auch auf das Wachstumspotenzial des Landes. Im Moment sieht es damit allerdings nicht gut aus. Seit Herbst stagniert die türkische Wirtschaft wieder, nicht anders als die deutsche. Obwohl aktuelle Zahlen fehlen, sieht es so aus, als sei der Einbruch in der Türkei 2009 sogar noch stärker gewesen als in Deutschland. Trotzdem ist das Potenzial sicherlich groß. Außerdem hat die Stabilität der türkischen Banken in der Krise ausländische Investoren allgemein beeindruckt.

Deshalb ist Merkels Delegation auch durch zahlreiche Wirtschaftsvertreter auf die beachtliche Größe von 110 Personen angeschwollen. Schon dies zeigt den Türken, dass sie endlich jemand sind. Begleitet wird die Kanzlerin aber auch von der für Integrationsfragen zuständigen Staatsministerin Maria Böhmer.

Auf deutscher Seite wünscht man sich offenbar einerseits die Türken als »privilegierte«, freundliche Partner, aber außerhalb der EU, andererseits die Deutschtürken als integrierte, unauffällige Neubürger, sozusagen naturalisierte Gastarbeiter. Das scheint indes eine etwas zu einfache Vorstellung zu sein.

* Aus: Neues Deutschland, 29. März 2010


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