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Türkei auf demokratischem Kurs?

Murat Cakir sieht Erdogan in der Kontinuität der Militärregierungen *

In Istanbul geboren, ist Murat Cakir derzeit Pressesprecher der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin



ND: Die türkische Regierung plant noch vor dem Jahrestag der Ermordung des armenisch-türkischen Schriftstellers Hrant Dink eine Neufassung des Paragrafen 301, der die Beleidigung des Türkentums unter Strafe stellt. Türkische Nationalisten ermordeten Dink am 19. Januar 2007 unter dem Vorwand von dessen Türkei-Kritik. Sagt die Regierung den Nationalisten nun den Kampf an?

Cakir: Leider mitnichten. Die türkische Regierung steht voll in der Kontinuität der einstigen militärischen Machthaber, wenn es um Freiheiten wie die Meinungsfreiheit, Minderheitenrechte oder die Organisationsfreiheit von Gewerkschaften geht. Die Regierung von Recep Tayyip Erdogan zielt mit der Neufassung schlicht auf die Beruhigung der Europäischen Union, in die Ankara ja gerne aufgenommen werden würde.

Was hat der Paragraf 301 für einen Hintergrund?

Der Hintergrund ist zutiefst nationalistisch und rassistisch. Dass die Beleidigung des sogenannten Türkentums unter Strafe gestellt werden kann, verweist auf die offizielle Staatsdoktrin seit der Gründung 1923, die das Türkentum über alles andere stellt. Das Problem der sogenannten türkischen Demokratie liegt darin, dass sie im Kern autoritär ist und von zwei Machtzentren getragen wird: Neben den Zivilregierungen gibt es den Nationalen Sicherheitsrat, quasi die Kapitalisten in Uniform, die das Sagen haben. Solange diese Zweiköpfigkeit der Staatsmacht nicht gebrochen wird, kann in der Türkei keine echte Demokratisierung stattfinden. Die Verfassung aus der Militärdiktatur von 1982 ist bis heute in Kraft.

Im Zug der Annäherung an die EU konnten doch Fortschritte verzeichnet werden: Abschaffung der Todesstrafe, Revision des Strafgesetzbuches, Anerkennung der kurdischen Identität zum Beispiel. Alles ein Muster ohne Wert?

Im Rahmen des sogenannten Heranführungsprozesses zur EU hat die türkische Regierung im Endeffekt kosmetische Operationen vorgenommen. Die Gesetzesreformen sind nicht das Papier wert, auf dem sie stehen. Von der Umsetzung der Gesetze ist die Türkei leider sehr weit entfernt. Ich bin der Auffassung, dass die Entscheidungsträger in der Türkei keineswegs daran interessiert sind, soziale und demokratische Reformen durchzuführen. Die 'Türkei wird seit langem von einer neoliberalen Elite regiert, die sich derzeit mit der AKP von Erdogan in gemäßigt-islamischem Anstrich zeigt, doch die Kontinuität bleibt gewahrt.

Im Parlament sitzt mit der Partei für eine demokratische Gesellschaft (DTP) seit den letzten Wahlen erstmals eine pro-kurdische Partei. Ein Hoffnungszeichen für die Demokratisierung?

Die Ergebnisse der Wahlen vom Juli 2007 waren in der Tat ein Hoffnungsschimmer. Erstmals ist das kurdische Volk mit seinen eigenen Vertretern ins Parlament eingezogen, auch wenn sie nur als unabhängige Kandidaten aufgestellt werden durften. Doch sowohl die Regierung als auch der Staat haben diese Chance nicht genutzt. Die DTP wird mit dem Verbot bedroht. Damit hätte die Türkei erneut eine große Chance für den inneren Frieden vertan.

Diese Woche steht im Zeichen der Ermordung von Hrant Dink. Was ist alles geplant?

Nicht nur in Berlin, sondern in vielen europäischen Städten und in der Türkei finden Gedenkveranstaltungen statt. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung und die Bundestagsfraktion DIE LINKE nehmen den Jahrestag zum Anlass, um am Mittwoch- und Donnerstagabend am Franz-Mehring-Platz über den Demokratisierungsprozess zu informieren.

Fragen: Martin Ling

* Aus: Neues Deutschland, 16. Januar 2008


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