"Gewalt beherrscht wieder die Szene"
Plädoyer für eine politische Lösung im Konflikt zwischen Türken und Kurden
Im April erschien die dritte Ausgabe 2006 der "Nützlichen Nachrichten". Sie wird herausgegeben vom Dialog-Kreis "Die Zeit ist reif für eine politische Lösung im Konflikt zwischen Türken und Kurden", dem u.a. auch Andreas Buro angehört, von dem der folgende Kommentar stammt. Außerdem dokumentieren wir noch einen Internationalen Appell
Terror schafft Terror oder "Wann wird man je verstehen"
Von Andreas Buro
"Mit Terroristen kann man nicht verhandeln"! So oder
anders formuliert ist es überall zu lesen und gängige
Weisheit. Terror heißt zu Deutsch Schrecken. Wenn Militär
Giftgas einsetzt, bombt oder auf Demonstranten schießt,
verbreitet es Schrecken. Wenn Selbstmordattentäter andere
in die Luft sprengen verbreiten auch sie Schrecken,
Terror. Wenn sie gegeneinander den Schrecken ausweiten,
entsteht nur mehr Terror und wir wissen aus Irland, vom
Balkan, von Sri Lanka, aus Afghanistan, Irak und vielen
lateinamerikanischen Ländern, wie lange und weitgehend
Schrecken eskalieren kann. Selbstverständlich werden
immer nur "die jeweils anderen" als Terroristen
bezeichnet.
Der einzige Ausweg besteht darin, dass diejenigen, die
Schrecken verbreiten, mit einander den Dialog für eine
Lösung ihres Konflikts aufnehmen. Da ist es wenig
hilfreich, wenn andere Kräfte außerhalb des Konflikts
immer noch weiter an der Schuldzuweisung für die eine
oder die andere Seite festhalten, Gruppierungen in Listen
von so genannten Terrororganisationen aufnehmen und die
Partei ergreifende Verfolgung internationalisieren. Sie
blockieren damit nur zusätzlich ein Lösung des Konflikts.
Das gilt für den Umgang mit der Hamas genauso wie für den
türkisch-kurdischen Konflikt.
Ende 2002 hatten wir Gelegenheit dem heutigen
Ministerpräsidenten der Türkei Erdogan ein Memorandum zu
übergeben. Die Menschenrechtslage in der Türkei sei nur
zu verbessern, wenn der türkisch-kurdische Konflikt
friedlich beigelegt würde. Die Voraussetzungen hierfür
waren damals sehr günstig, da die PKK einen einseitigen
Waffenstillstand ausgerufen hatte und zum Dialog bereit
war. Wir machten entsprechende Vorschläge. Daraufhin
wurde unser Besuch in Ankara in den öffentlichen Medien
trotz langer TV- und Radio-Interviews zum Non-Event.
Später erklärte Erdogan in Berlin, es gäbe keine
Kurdenfrage.
Die Folge dieser Blockadehaltung gegenüber der Aufnahme
des Dialogs ist gegenwärtig in der Türkei, und zwar nicht
allein im Südosten, zu beobachten. Gewalt beherrscht
wieder die Szene und Gewaltopfer werden beklagt, wobei
neue Gewalt und neuer Hass entstehen.
Diese Entwicklung hat gefährliche Nebenwirkungen. Das
Militär, das selbst straflos auf Zivilisten Bomben zur
Gewalteskalation, als wären sie von Kurden, werfen läßt,
verstärkt wieder seine Position gegenüber der gewählten
Regierung und schwächt Demokratie und Recht in der
Türkei. Diese ihrerseits wagt sich angesichts von Gewalt
und sich verstärkendem türkischen Nationalismus nicht,
auf Dialog und Aussöhnung zu setzen.
Aber auch die kurdische Seite verhärtet sich. Mehr oder
weniger von der Guerilla abhängige Gruppen bomben im
ganzen Land und bieten damit den Nährboden für
nationalistische und rechte Gruppierungen und ihre
populistische Propaganda. Schon hat sich die
Hoffnungsträgerin Leyla Zana "aufs Land" zurück gezogen.
Profilierte Konkurrenten von Öcalan werden ermordet. Der
innere Machtkampf auf türkischer und auf kurdischer Seite
überlagert den eigentlichen Konflikt.
Die EU-Staaten stehen der Situation hilflos gegenüber,
während ihre Gerichte PKKler in ihren Ländern juristisch
verfolgen, als ob dies ein Beitrag zu einer friedlichen
Lösung wäre. Das Anti-Kriegslied gesungen von Marlene
Dietrich, das so viele nachdenklich machte, endete mit
dem Refrain: "Wann wird man je verstehen?" Eine nur allzu
berechtigte Frage!
Aus: Nützliche Nachrichten 3/2006
Internationaler Appell
Türkei führt Krieg gegen kurdische Kinder und Jugendliche
Europas Verantwortung für eine friedliche und gerechte
Lösung
Türkische Panzer und Wasserwerfer jagen kurdische
Demonstranten. Schüsse, Tränengas, zerbrochene Scheiben,
brennende Häuser, Schreie, Tote. - Tagelang herrscht
Aufruhr in kurdischen Städten der Türkei, in Diyarbakir,
Batman, Hakkari, Siirt, Mardin, Kiziltepe und Nusaybin;
Diyarbakir wie im Kriegszustand. Die bisherige Bilanz:
Sieben Tote (15 Tote, AdR), darunter Kinder und
Jugendliche, und Hunderte von Verletzten.
Für den türkischen Regierungschef Recep Tayyip Erdogan
steht fest: Das ist das Werk der "Terroristen": Wer seine
Kinder von diesen missbrauchen lasse, werde "vergeblich"
um sie weinen. "Unsere Sicherheitskräfte werden tun, was
sie zu tun haben, egal wer die Menschen sind, die dem
Terrorismus als Instrument dienen, ob es Kinder oder
Frauen sind."
Noch kurz zuvor hatten die Kurdinnen und Kurden friedlich
ihr Neujahrsfest Newroz gefeiert.
Um ihre Hoffnung auf Frieden wurden sie erneut betrogen.
Denn Ankara bereitete groß angelegte provokative
Militäroperationen in den kurdischen Gebieten vor, setzte
letal wirksame und nach internationalem Recht verbotene
toxische Stoffe ein. 14 Widerstandskämpfer starben. Bei
der Beerdigung von vier der Getöteten in Diyarbakir
entlud sich die Wut vor allem jugendlicher Kurden über
die getäuschten Hoffnungen, die anhaltenden Repressionen,
die Rechtlosigkeit, die fehlenden Perspektiven.
Der Bürgermeister von Diyarbakir - um Vermittlung bemüht
- wurde von den türkischen "Sicherheitskräften" mit
Gewalt bedroht und angegriffen, Ärzten und Krankenhäusern
die Behandlung der Verletzten untersagt, das staatliche
Hospital von Soldaten umstellt.
Die Trauerzüge tausender Menschen, die ihre Toten
beklagen und beerdigen wollten, wurden mit Gaswaffen und
Geschossen daran gehindert.
So erfahren Millionen kurdischer Menschen aufs Neue, dass
die behaupteten und von ihnen erhofften Reformen des
europäisch/türkischen Anbindungsprozesses für sie nicht
gelten, nur auf dem Papier stehen.
Angesichts dieser schrecklichen Militäreinsätze gegen die
kurdische Zivilbevölkerung ergeht dieser Appell an die
internationale Öffentlichkeit und an die verantwortlichen Institutionen der EU, den
Europarat und besonders an den für die Türkeianbindung
zuständigen EU-Kommissar Rehn sowie die EU-
Präsidentschaft Österreichs:
-
Mit einem unverzüglichen förmlichen VETO muss der
aktuellen massiven Kurdenverfolgung ein sofortiges Ende
gesetzt werden!
-
Europäische Gerichte und Instanzen müssen diese
entsetzlichen Vorfälle untersuchen und die Schuldigen
bestrafen!
-
Europa, seine nationalen Regierung, die Medien und die
Weltöffentlichkeit müssen zur Kenntnis nehmen, was in den
kurdischen Gebieten der Türkei passiert, und sich aktiv
für die Beendigung der fortdauernden Verschleppungen,
Verhaftungen und Morde einsetzen.
-
Europa muss endlich seine Möglichkeiten nutzen, damit
eine dauerhafte friedliche Lösung durchgesetzt wird, die
die Rechte der Kurdinnen und Kurden anerkennt und
garantiert.
Darum appellieren wir.
Dafür stehen wir auch persönlich ein.
Der Appell wurde von vielen europäischen Persönlichkeiten
unterschrieben. Weitere Infos: MESOP@online.de
Quelle: Nützliche Nachrichten 3/2006
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