Überlegungen zu einer friedenspolitischen Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts
Von Andreas Buro
Schon geht die Furcht vor einem neuen Krieg um, der sich wieder in der Türkei
ausbreiten könnte, aber auch vor einem Zerfall der jetzigen Regierungskoalition
zugunsten der faschistischen MHP-Partei, die schon jetzt in der Regierung viele
Reformschritte blockiert. In Westeuropa hört man angesichts der realen
Entwicklung in der Türkei Stimmen, die den Beschluß von Helsinki für die
türkische Beitrittskandidatur für einen Fehler halten. Angesichts dieser
gefährlichen Situation sollte man seitens der EU-Staaten Schritte und
Programme zur Unterstützung von Reformen und der Ermutigung der kurdischen
Seite, an ihrer Friedenspolitik festzuhalten, erwarten. Doch leider Fehlanzeige,
während gleichzeitig allgemein über die Notwendigkeit einer präventiven Politik
schwadroniert wird.
Nach dem Beschluss der PKK, den Krieg einseitig zu beenden und nach dem
Beschluß von Helsinki, der Türkei den Weg in die EU zu ermöglichen, breitete
sich Hoffnung auf eine friedliche, politische Lösung für den türkisch-kurdischen
Konflikt aus. Dies war nicht allein ein internationales Phänomen. Auch aus dem
Konfliktgebiet selbst wurde vermeldet, dass die Menschen sich leichter
bewegen konnten und sich wieder auf eine Zukunft für ihr Leben zu orientieren
begannen. Mittlerweile ist der Frost der türkisch-nationalistischen Reaktion auf
alle Friedenshoffnungen gefallen.
Die Ursachen dieser Rückwärtsbewegung in der türkischen Politik liegen
strukturell in dem innergesellschaftlichen Konflikt der türkischen Eliten. Ihr
konservatives bis faschistisches Spektrum erkennt, welche großen
Reformschritte für den EU-Beitritt erforderlich sind und dass diese ihre
bisherigen Privilegien und politisch-undemokratischen Zugriffsmöglichkeiten
erheblich einschränken könnten. Anscheinend hat auch das Militär seine
eigentlich im Sinne des Kemalismus liegende Zuwendung zur EU eingeschränkt
und konzentriert sich jetzt vor allem auf die Sicherung der eigenen, in einer
parlamentarischen Demokratie nicht legitimierbaren Vorrangstellung und Macht
im Staate.
Der historische Hintergrund zu dieser katastrophalen Situation ist in einer
doppelten Krise zu sehen. Die Türkei befindet sich erstens seit der Gründung
des Staates auf dem mühsamen und schwierigen Wege aus der traditionalen
Agrargesellschaft des Osmanischen Reiches zu einer
bürgerlich-parlamentarischen Industriegesellschaft. Dieser Prozess ist noch
lange nicht beendet und niemand kann sagen, ob das Ziel der ‚Moderne' bald
oder überhaupt erreicht wird. Ein Rückfall ist nicht auszuschliessen, wenn das
gegenwärtige politische System seine Fähigkeit zu Reformen gänzlich verliert.
Es handelt sich hierbei um einen innergesellschaftlichen Konflikt, wie ihn auch
viele andere Staaten, so auch Deutschland, auf ihrem Wege der Herausbildung
der bürgerlichen Gesellschaft erlebt haben. Begleitet wird dieser Konflikt von
einer tendenziellen Auflösung der traditionalen Landwirtschaft und von
gewaltigen Migrationsströmem innerhalb der Türkei, die zu einer Urbanisierung
riesigen Ausmasses führten, ohne dass entsprechend neue Arbeitsplätze im
industriellen und in anderen Sektoren zur Verfügung gestellt werden konnten.
Da kämpfen Gewerkschaften und Arbeiter, oftmals in ähnlicher Orientierung mit
bürgerlichen Unternehmern gegen feudale Strukturen und
bürokratisch-militärisch repressive Herrschaft. Ein Teil der Intelligenz nimmt als
Vorbote die Freiheit der Meinungsäußerung in Anspruch und verschwindet dafür
in Gefängnissen oder wird ermordet. Die Anforderungen der EU an den
Beitrittskandidaten werden nun zum Fokus dieses Konfliktes, weil von der EU die
Normen der etablierten bürgerlichen Industriegesellschaften eingefordert
werden, zumindest so weit wie es mit den ‚westlichen Interessen' vereinbar ist.
Dieser innere Kampf ist überlagert von einem türkischen Nationalismus, auf den
sich alle Seiten berufen. Er resultiert, und zwar nicht nur in der Türkei, aus der
Phase der Durchsetzung und Abgrenzung des entstehenden bürgerlichen
Nationalstaates und auch später aus separatistischen Situationen. Er ist oft
genug mit rassistischen Einstellungen verbunden. Der vorgesehene Beitritt zur
EU - und das ist die zweite Krisensituation - bedeutet nun, dass ehe auch nur
eine Konsolidierung einer bürgerlichen Insustriegesellschaft in der Türkei
stattgefunden hat, diese bereits in eine neue Phase eintreten soll, in der die
Abgabe nationalstaatlicher Kompetenzen an supranationale Institutionen der
Europäischen Gemeinschaft erforderlich wird. Immer, wenn Ankara sich eine
Einmischung in die ‚inneren Angelegenheiten' durch den Westen verbittet,
entsteht die absurde Situation, dass sie gegen ein Prinzip protestiert, während
sie sich gerade darum bemüht, einer Gemeinschaft, die durch dieses Prinzip
bestimmt wird, beizutreten.
Die ‚Kurdische Frage' ist tief mit dieser doppelten Krisensituation verbunden. Sie
ist aus der türkischen Nationalstaatsbildung entstanden, in der die Türkei große
Gebiete mit einbezog, die von Kurden besiedelt waren. Statt die Kurden als
gleichberechtigtes Volk teilhaben zu lassen, herrschte die Angst vor
Separatismus vor. Aufstände der Kurden und deren Unterdrückung durch die
türkische Herrschaft waren somit vorprogrammiert und bildeten die Begleitmusik
zur nationalstaatlichen Entwicklung der Türkei. Dieser Prozess förderte die
Militarisierung von Herrschaft und Gesellschaft. Der Guerilla-Krieg der PKK seit
1984 bis zur friedenspolitischen Wende der PKK ist durchaus in diesem
grundsätzlichen Zusammenhang zu verstehen. Nicht nur die türkische, sondern
auch die kurdische Seite konnte unter solchen Bedingungen Demokratisierung
nur beschränkt entwickeln.
Die Frage nach einer friedlichen, politischen Lösung des türkisch-kurdischen
Konflikts ist also eng mit der der Demokratisierung der Gesellschaft verbunden.
Das alte Schema von Aufstand und Repression muß zugunsten einer
kooperativen Lösung der Volksgruppen verlassen werden. Der kurdische
Konfliktpartner ist bereits nach seiner friedenspolitischen Wende in den letzten
Jahren auf diesen neuen Weg eingeschwenkt, während Ankara noch weiterhin
am alten nationalistischen Repressionsschema festhält. Die supranationale
Orientierung der EU kann zur Überwindung der nationalistischen Ausrichtung der
türkischen Gesellschaft eine wichtige Hilfe sein. Sie wird allerdings auch die
Furcht der rechten türkischen Eliten vor einer solchen Entwicklung zunächst
steigern, was die gegenwärtigen Konflikte innerhalb der Regierungskoalition um
Reformen bereits anzeigen.
Auf dem Hintergund dieser grundsätzlichen Betrachtung lassen sich einige
Gesichtspunkte für das notwendige Verhalten der kurdischen Seite nennen.
Diese hat allen Anlass an ihrer jetzigen friedenspolitischen Orientierung
festzuhalten und darf sie nicht - etwa aus taktischen Erwägungen heraus - in
Frage stellen. Die Forderung nach Demokratisierung wird nicht allein als eine
Forderung an den Staat der Türkei zu verstehen sein. Auch die im Guerilla-Krieg
gewachsenen Organisationsformen, die keineswegs demokratisch, sondern
militärisch-autoritär struktriert sind, sind ebenso wie die traditionalen
Verhaltensweisen einem Prozess der Demokratisierung zu unterziehen. Das wird
oftmals Dezentralisierung, Eröffnung von breiten Diskussionszusammenhängen
und das Ertragen von unterschiedlichen Meinungen bedeuten und kann nicht
nur eine Verklärung der Vergangenheit zum Inhalt haben. Wie bei den Türken,
so ist auch bei den Kurden die Bereitschaft, Konflikte nicht zivil sondern
gewaltsam zu bearbeiten, zu überwinden.
Der Kampf für die Demokratisierung der ganzen Gesellschaft der Türkei ist für
die kurdische Seite eine zentrale und zukunftsträchtige Perspektive. Dazu
sollten sie sich auf drei Bündnisbereiche einlassen. Der erste ist die Bereitschaft
zum gemeinsamen Kampf um Demokratisierung mit allen ebenso orientierten
türkischen Kräften, denn dieser Kampf ist nur gemeinsam zu gewinnen. Der
zweite Bereich bezieht sich auf die verschiedenen kurdischen Gruppen, die im
Prinzip diesen Weg gehen möchten, aber bislang häufig keine gemeinsame Basis
finden. Bei dieser Zusammenarbeit geht es bereits darum, demokratische
Prinzipien umzusetzen. Alleinvertretungsansprüche sind dabei ebenso
kontraproduktiv wie sektiererische Verhaltensweisen.
Der dritte Bündnisbereich bezieht sich auf die internationale Ebene, da der zu
führende Kampf nicht allein innerhalb der Gesellschaft der Türkei entschieden
werden wird. Möglichst weitgehend sind alle demokratisch orientierten Kräfte,
staatlich oder nicht-staatlich einzubeziehen. Dazu wird es notwendig sein eine
kompetente internationale Repräsentation aufzubauen. Kontinuierliche und
vertrauenswürdige Arbeit ist dabei dringend geboten. Ein schneller Wechsel des
Personals ist zu vermeiden. Angesichts der vielfältigen Strukturen in der EU
lassen sich jetzt bereits und in Zukunft noch verstärkt viele Projekte in den
unterschiedlichsten Arbeits- und Beziehungsfeldern entwickeln, die insgesamt
einen wesentlichen Beitrag im Kampf um Demokratisierung leisten können.
Freilich ist mit einem langen und mühsamen Weg zu rechnen. Doch auch bei
Rückschlägen, die überhaupt nicht auszuschließen sind, darf es in der
grundsätzlichen Ausrichtung des Projektes kein Schwanken und schon gar nicht
eine Rückkehr zur Androhung von Gewalt geben.
Aus: Asiti, Nr. 2, Juni/Juli 2001
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