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Apokalyptische Vision

Die türkische Außenpolitik nach 1945

Von Klaus Jaschinski *

Seit der Regierungsübernahme durch die islamistische AKP nach der Wahl im November 2002 ist die Türkei verstärkt ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt«, erfährt der Leser auf dem Cover des Buches. Eine Feststellung, die auf den ersten Blick sicher stimmen mag. In Wirklichkeit wird damit aber kaum mehr als ein Klischee bedient. Denn wann hat es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs je eine Zeit gegeben, in der die Türkei nicht verstärkt im Blickfeld der Öffentlichkeit gestanden hätte? Schließlich hatte die »Türkische Krise« 1946/47 unmittelbar nach der »Iranischen Krise« 1945/46 das Abdriften in den Kalten Krieg erheblich befördert.

Wie sich danach die internationale Großwetterlage auch immer änderte, die Türkei blieb nahezu beständig im Bannkreis von Krisen, die, selbst wenn sie nicht türkischen Ursprungs waren, durch türkisches Mitmischen dann doch eher aus dem Ruder zu laufen drohten als eine Beruhigung erfuhren. Eigentlich ein krasser Gegensatz zu dem, was Atatürk der »modernen« Türkei als außenpolitische Richtwerte verordnet hatte, und was obendrein vor allem jenen geschuldet ist, die nach seinem Ableben in der türkischen Politik lauthals propagierten, ganz in seinem Sinne handeln zu wollen bzw. gehandelt zu haben.

Als Aufhänger für seine Betrachtungen wählt der Autor, der wegen seiner kritischen Einstellung schon Anfang der 80er Jahre den Zorn der Militärs in seinem Heimatland zu spüren bekommen hatte, die Gefangennahme des Führers der kurdischen PKK Abdullah Öcalan, in deren Folge die Protagonisten und Ideologen des Regimes in Ankara geradezu euphorisch die Türkei nun zum »aufgehenden Stern des 21. Jahrhunderts« hochjubelten. Ausgehend von diesem letzten großen Aufbäumen des türkischen Nationalismus mit heilsbringerischem Anspruch hält er Rückschau auf die alles andere als ereignisarme türkische Außenpolitik und beleuchtet hierbei wichtige Stationen und Zäsuren nebst ihrer Hintergründe. Er gliederte sein Buch in drei Hauptkapitel: I. »Angst und aggressive Abhängigkeit« (1945- 1960), II. »Krise und Gewalt« (1960-1980) sowie III. »Der Verfall« (1990-2000). Kritisch analysiert und gewertet werden neben den bekannten Konfliktfeldern auch der türkische »Liberalismus« mit seinen außenpolitischen Konsequenzen, die türkische Haltung zur Nuklearfrage und die Putschgelüste des türkischen Militärs. Die daraus hergeleiteten Zukunftsaussichten wirken dann auch ziemlich düster. »Vielleicht ist das, was gegenwärtig passiert, die Geburtswehen eines oligarchistisch-populistisch-militaristischen und bürokratischen Monstrums. Oder wir sehen die Zeichen des Verfalls im Vorfeld einer grundsätzlichen Auseinandersetzung.«

Quo vadis Türkei? Mit dieser Frage leitet der Autor das letzte Unterkapitel seiner Abhandlung ein, die in der Originalfassung schon vor zehn Jahren in der Türkei erschienen war. Er konstatiert abschließend mit reichlichen Pessimismus: »Der Zerfallsprozess, in dem sich die Republik Türkei befindet, beinhaltet gewiss viele Eigenschaften einer sich unmittelbar vor der Revolution befindenden Gesellschaft. Doch diese Tatsache allein lässt nicht zu, den gegenwärtigen Zustand der türkischen Außenpolitik einer systematischen Analyse zu unterziehen ... In dem in Wahnsinn und Irrationalität verfangenen türkischen Kapitalismus und in seinen Klassen sowie Institutionen kann man nichts anderes vorfinden als die 'Rationalität' einer Agonie.«

An solchen apokalyptischen Visionen bezüglich der Türkei hat es in der Vergangenheit wohl wahrlich nie gemangelt. Aber bekanntlich leben Totgesagte länger als man glaubt. Die Erfahrung hatte man schließlich schon mit dem Osmanischen Reich machen müssen. Auch die heutige türkische Gesellschaft dürfte sehr wohl über regulierende Kräfte verfügen. Inwieweit diese wirklich zum Zuge kommen und eine Wende zum Besseren erreichen, bleibt allerdings abzuwarten. Damit konkret verbunden ist die Frage, ob die gegenwärtig regierenden Islamisten Teil der Lösung oder Teil des Problems sind. Dass der Umgang mit der Türkei nach dem Kalten Krieg einfacher und leichter werden würde, war eigentlich ohnehin zu erwarten, denn die »Partnerschaft«, die gerade der Westen zum Land am Bosporus entwickelt hatte und pflegte, gründete sich von Beginn an auf viel Heuchelei und schnöde Ausnutzung von offen zutage liegenden Schwächen und Defiziten, zu denen eben auch Demokratie und Menschenrechte zählten.

Haluk Gerger: Die türkische Außenpolitik nach 1945. Vom »Kalten Krieg« zur »Neuen Weltordnung«. Neuer ISP Verlag, Köln/Karlsruhe 2008. 232 S., br., 24,80 EUR; ISBN-Nr. 978-3-89900-018-4

* Aus: Neues Deutschland, 9. Oktober 2008


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