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Es geht um mehr als den Gezi-Park

Können die Demonstrationen in der Türkei das Land verändern? *


Der deutsch-türkische Journalist Yücel Özdemir beobachtet als Korrespondent der türkischen Zeitung »Evrensel« den NSU-Prozess in München. Derweil erlebt sein Herkunftsland seit einer Woche gewaltige Proteste gegen die Regierung. Über Ursachen und Hintergründe befragte ihn für »nd« Jan Keetman.

Warum gehen in der Türkei so viele Menschen auf die Straße? Einen solchen Protest hat es doch vorher nicht gegeben.

Genau. Es hat natürlich Protestaktionen und Streiks gegeben, aber einen so großen, so lang andauernden spontanen Protest haben wir noch nicht erlebt. Natürlich hat das Gründe. Die Regierung Erdogan ist sehr streng geworden. Sie verbietet den Verkauf von Alkohol ab 22 Uhr.

In Baden-Württemberg ist Alkoholverkauf ab 22 Uhr auch verboten.

Auf solche Verbote in Europa verweist auch Erdogan. Aber sein Motiv ist nicht der Schutz der Gesundheit, sondern es ist ein religiöses. Später sagte Erdogan, okay, wir machen das nicht so streng. Aber die Leute fürchten, dass in der Türkei ein strenges religiöses Regime errichtet wird.

Wer geht auf die Straße?

Viele tausend Menschen: Linke, liberale Anhänger der regierenden Partei AKP, Gewerkschafter, vor allem junge Menschen, Studenten. In Istanbul, Ankara, Izmir ...

Wichtig ist auch, dass in Antakya, an der Grenze zu Syrien, Tausende auf der Straße sind. Dort sind vor zwei Wochen 21 Menschen durch einen Bombenanschlag ums Leben gekommen – ein weiterer Grund für die Proteste. In Antakya ist nun auch ein 22-jähriger Demonstrant ermordet worden.

Im Falle Antakyas stellt sich die Frage, ob die Alewiten dabei eine Rolle spielen.

Natürlich. Antakya ist eine multireligiöse, multiethnische Stadt. Dort gibt es seit zwei Jahren Spannungen wegen Syrien. Menschen kommen über die Grenze und unternehmen unkontrollierte Aktionen, werden aber vom türkischen Staat unterstützt. Das beunruhigt die Bevölkerung in Antakya. Die Politik der AKP-Regierung hat großen Einfluss auf die Ereignisse in Syrien. Die Bevölkerung ist beunruhigt und will, dass das aufhört. Da kommt vieles zusammen und deshalb sagen viele: Der Gezi-Park in Istanbul war der Anfang, aber heute geht es um mehr als die Bäume im Park. Jetzt werden alle Forderungen gestellt, die bisher nicht geäußert wurden.

Ist es vielleicht auch der Friedensprozess mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), der viele Türken verunsichert hat?

Nein, auf den Transparenten und bei den Demonstrationen spielt das Kurdenproblem keine Rolle. Die wichtigste Forderung ist die nach dem Rücktritt Erdogans. Außerdem hört man auf vielen Demonstrationen die Parole der Brüderlichkeit. Auch in kurdischen Provinzen gibt es solche Demonstrationen – in Diyarbakir, in Dersim und ganz im Osten, etwa in Kars. Aber die kurdische Partei BDP hält sich zurück. Ihr Vorsitzender hat gesagt: Wir unterstützen die Demonstrationen zwar, aber uns geht es vor allem um Fortschritte im Friedensprozess.

Und dafür brauchen die Kurden Erdogan.

Sie versuchen, mit ihm eine Lösung für die kurdische Frage zu finden. Aber ob sie mit einem aggressiven Erdogan, der 2014 vielleicht als Staatspräsident noch mächtiger werden könnte, am Ende glücklich werden ...

Verliert Erdogan, hat er auch nicht mehr die politische Kraft für Verhandlungen mit den Kurden. Gewinnt er, wird er so mächtig, dass er von gesellschaftlichen Strömungen unabhängig ist. Dann könnten ihn auch die Kurden nicht mehr zwingen, Verhandlungsergebnisse umzusetzen. Sehen die Kurden dieses Problem nicht?

Richtig ist, dass Erdogan einen Weg zur Lösung der kurdischen Frage frei gemacht hat. Aber wohin führt dieser Weg? Die Kurden selbst wissen nicht, was dabei herauskommt. Der erste Schritt ist getan, die kurdischen Kämpfer haben sich nach Irak zurückgezogen. Zweiter Schritt müsste eine Verfassungsänderung sein. Aber das Parlament ist sich in dieser Frage nicht einig. Falls Erdogan nach diesen Protesten nicht an der Regierung bleiben kann, bedeutet das auch Ungewissheit für den Friedensprozess.

Zurück zu den Forderungen der Demonstranten. Wohin könnten die Proteste führen?

Die Protestierenden haben wichtige Forderungen. Die weitestgehende ist die nach Erdogans Rücktritt. Die Regierung soll ihre Politik ändern: Im Gezi-Park am Taksim-Platz sollen keine Bäume gefällt werden, die kleinen Häuser in den Vorstädten sollen nicht abgerissen und durch große ersetzt werden, und der Bau immer neuer Einkaufszentren soll gestoppt werden. Und natürlich soll die Polizeigewalt beendet werden. Die Regierung behauptet jedoch, die Polizei verteidige sich nur. Immerhin aber hat sich Vizepremier Bülent Arinc für Fehler zu Beginn der Unruhen entschuldigt.

Bevor Arinc aktiv wurde, hat er mit Staatspräsident Abdullah Gül gesprochen. Kann man das als indirektes Eingreifen Güls werten?

Es gibt Meinungsunterschiede zwischen Erdogan und Gül. Das wissen wir in der Türkei schon seit einiger Zeit. Gül sagt: Ja, wir haben die Botschaft der Proteste verstanden. Erdogan sagt dagegen: Das ist eine Minderheit von Leuten, die uns nicht gewählt haben, und dahinter stehen radikale Gruppen und die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP). Er will die Forderungen nicht akzeptieren. Das sind eindeutig unterschiedliche Positionen. Arinc sagt nun, er sei Güls Meinung und zum Dialog mit den Demonstranten bereit. Fragt sich, was Erdogan tut, wenn er von seiner Nordafrika-Reise zurück ist.

Viele glauben, Erdogan könne in diesem Land nicht mehr allein bestimmen, denn es gibt eine andere Mehrheit, die ihre Meinung auf der Straße offen zum Ausdruck bringt. Wir wissen noch nicht, was wird, aber klar ist, dass die türkische Regierung geschwächt ist.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 7. Juni 2013


Mit Dönermessern gegen Demonstranten

»Sicherheitskräfte« gehen immer brutaler gegen Protestbewegung in der Türkei vor. Regierungschef Erdogan hält an Bauplänen in Istanbul fest

Von Nick Brauns **


Polizisten in Uniform und in Zivilkleidung, die mit langen Dönermessern Jagd auf Demonstranten machen und die Verletzten anschließend mit Knüppeln zusammenschlagen – solche schockierenden Bilder von Übergriffen auf die Protestbewegung in der Türkei sind in einem Internetvideo der türkischen Tageszeitung Hürriyet zu sehen. In Ankara und Izmir wurden mittlerweile nach junge Welt vorliegenden Informationen mehrere Polizisten festgenommen, die sich mit Dönermessern bewaffnet hatten.

Auch in der Nacht zum Donnerstag waren die seit über einer Woche andauernden Proteste gegen die islamisch-konservative AKP-Regierung weitergegangen. Am Mittwoch abend hatte die Polizei in Ankara eine Kundgebung streikender Arbeiter angegriffen. Linksgerichtete Gewerkschaftsföderationen hatten zuvor einen zweitätigen Solidaritätsstreik mit der Protestbewegung durchgeführt. In der Hauptstadt kam es bis in die frühen Morgenstunden zu Straßenschlachten. »Die Situation ist brutal«, twitterte eine Ankara-Korrespondentin der liberalen Tagezeitung Radikal. »Tränengasgranaten zertrümmern die Fensterscheiben der Häuser und fallen auf die Balkone.« Demonstranten hatten Straßen blockiert und brennende Barrikaden errichtet, gegen die die Polizei mit Räumpanzern und Wasserwerfern vorrückte. Auch im Istanbuler Armenviertel Gazi, einer Hochburg linksradikaler Gruppierungen, gab es Auseinandersetzungen mit der Polizei.

In der Schwarzmeerstadt Rize, der Heimat von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, attackierten dagegen aufgebrachte AKP-Anhänger eine Gedenkveranstaltung für einen zu Wochenbeginn in Antakya durch die Polizei getöteten Aktivisten. Mehrere Dutzend in ein Gebäude geflohene Mitglieder der Türkischen Jugendunion (TGB) wurden stundenlang von dem Mob belagert, bis sie die Polizei befreite.

Zwar hatten sich Abgeordnete der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) in Istanbul an den Protesten beteiligt. Doch in den meisten kurdischen Städten kam es bislang nur zu kleineren Solidaritätskundgebungen. Offensichtlich herrscht bei der sonst so mobilisierungsstarken BDP die Befürchtung, bei einer stärkeren Beteiligung der Regierung einen Vorwand zum Abbruch der laufenden Friedensverhandlungen mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) liefern zu können. Die PKK selbst rief dagegen zu einer Vereinigung der kurdischen Freiheitsbewegung mit den Demonstrationen gegen die »faschistische Unterdrückung in der Türkei« auf. Dabei gelte es, wachsam gegen einen Mißbrauch der Proteste durch rassistische und nationalistische Kräfte zu sein. So hatten sich an einigen Orten auch Faschisten der »Grauen Wölfe« an den Demonstrationen beteiligt. Er hätte niemals geglaubt, einmal Seite an Seite mit »Terroristen« gegen die Polizei zu kämpfen, zitierte die kurdische Agentur Firat einen Anhänger der faschistischen Partei der Nationalen Bewegung MHP in Istanbul.

Viele Teilnehmer der Protestbewegung wiederum wehren sich gegen eine Vereinnahmung durch Parteien. »Wir sind keine politische Partei, wir sind das Volk«, heißt es auf Transparenten. »Wir fordern Religion ohne AKP, Atatürk ohne CHP, Vaterland ohne MHP und kurdische Rechte ohne BDP.«

»Wir haben uns bereits für den Einsatz übertriebener Gewalt entschuldigt«, erklärte unterdessen Ministerpräsident Erdogan am Donnerstag auf einer Pressekonferenz in der tunesischen Hauptstadt Tunis. Gleichzeitig kündigte der Premier an, an den Bebauungsplänen des Gezi-Parks am Istanbuler Taksim-Platz festhalten zu wollen. Die brutale Räumung eines Protestcamps gegen die Errichtung eines Einkaufszentrums auf dem Areal hatte vor einer Woche die landesweite Protestwelle ausgelöst.

** Aus: junge Welt, Freitag, 7. Juni 2013


»Unterstützung Erdogans beenden«

Protest gegen AKP-Regierung reißt nicht ab. Linke kritisiert »Kumpanei« Merkels mit Ankara. Ein Gespräch mit Sevim Dagdelen ***

Sevim Dagdelen ist Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag für Internationale Beziehungen.

Seit mehr als einer Woche gehen Zehntausende in der Türkei auf die Straße. Längst ist klar, es geht um mehr als der geplante Abriß des Gezi-Parkes am Taksim-Platz. Was sorgt für die Massenmobilisierung?

Der Protest richtet sich gegen das autoritäre AKP-Regime. Die Ereignisse rund um den Gezi-Park waren lediglich der Auslöser. Neun von zehn Mitgliedern der Protestbewegung in der Türkei sind laut einer Umfrage aus Verärgerung über die ihrer Meinung nach autoritäre Haltung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan auf die Straße gegangen. Es gibt eine so bisher noch nie dagewesene Mobilisierung in der türkischen Gesellschaft. Der autoritäre Neoliberalismus Erdogans und der AKP mit seiner Mischung aus Tugendterror, Privatisierung und Bereicherung für die Reichen, steht dabei im Fokus der Kritik. Soziale Forderungen sind eine wesentliche Triebfeder des Protests. Dazu kommt auch, daß die neoosmanische Außenpolitik mit Erdogans Unterstützung von Al-Qaida-Kämpfern in Syrien in der Türkei immer stärker auf Kritik stößt.

Welches Ziel hat die Protestbewegung?

Anfangs ging es um die Verteidigung des Parks. Jetzt geht es um eine Beseitigung des autoritären Regimes insgesamt. Die unmittelbaren Forderungen richten sich auf fünf Punkte: Erhalt des Gezi-Parks, Freilassung der Tausenden Verhafteten, Rücktritt des Polizeipräsidenten und Gourverneurs von Istanbul, Verbot von Reizgas und die Aufhebung von Versammlungsverboten auf öffentlichen Plätzen wie dem Taksim-Platz. Man muß wissen, daß während der Fokus der Aufmerksamkeit sich auf Istambul richtet, in Ankara und Izmir, aber gerade auch in den vielen kleineren Städten in Mittel- und Ostanatoliens furchtbare Verbrechen von einer Polizei im Auftrag des Erodogan-Regimes begangen werden. Es hat bereits mehrere Tote gegeben, über 70 lebensgefährlich verletzte Demonstranten liegen in Krankenhäusern.

Welche Rolle spielen die linken Kräfte und Parteien – von hier sieht es so aus, als seien die diversen K-Gruppen mit ihren Fahnen auf dem Taksim-Platz und die Jugend auf den Barrikaden?

Aus einer Umfrage der Istanbuler Bilgi-Universität unter den Protestierenden wird klar, daß mehr als die Hälfte der Demonstranten zum ersten Mal in ihrem Leben an politischen Kundgebungen teilnimmt. Nur etwas über 15 Prozent der Demonstranten bezeichneten sich demnach als Anhänger einer politischen Partei. Das war auch mein Eindruck nach all den Gesprächen. Kommunistische, sozialistische und linke Gruppen spielen aber eine wichtige Rolle, wie auch säkulare, sozialdemokratische und alevitische Jugendliche. Sie bringen die nötige Erfahrung mit.

In deutschen Medien war schnell von einem »Türkischen Frühling« die Rede – im Gegensatz zu Mubarak in Ägypten und Ben Ali in Tunesien ist Erdogan, bei aller Kritik, kein Diktator ...

Darüber regen sich die Protestierenden in Istanbul sehr auf. Das Bündnis distanziert sich von solcherlei Einordnungen. Etwaige Vergleiche sind eher der medialen Vermittlung geschuldet. Denn es gibt keinen »türkischen Frühling« bei dem wie in Ägypten oder auch Tunesien Moslembrüder und Islamisten den Ton angaben oder angeben. Es gibt dagegen einen regelrechten Aufstand gegen Erdogans Marsch in einen islamistischen Unterdrückungsstaat. Die gesellschaftliche Repression durch die schleichende Islamisierung ist enorm. Kritiker versucht die AKP, durch eine willige Justiz einfach mundtot zu machen. Ein großer Teil der Gesellschaft ist nicht mehr bereit dies hinzunehmen.

Sie selbst waren in Istanbul und haben sich ein Bild gemacht. Wie sieht es jetzt konkret am Gezi-Park aus?

Es ist erstaunlich, mit welcher Disziplin der Protest organisiert wird. So sind die Zufahrtsstraßen zum Taksim-Platz weiter sorgfältig verbarrikadiert. Obwohl viele im Park campieren, kommen die Pflanzen nicht zu schaden. Auf der Versammlung des Bündnisses aus 80 Organisationen und Vereinen durfte ich als erste Parteipolitikerin sprechen. Ich habe die solidarischen Grüße der Linken aus Deutschland überbracht. Es ist wichtig, hierzulande Druck auf die Regierung Merkel zu entfalten, damit die Kumpanei mit Erdogan endlich beendet wird. Die Koalitionsfraktionen wie auch SPD und Grüne sind weiter dafür, mit der Türkei weitere Kapitel in den EU-Beitrittsverhandlungen zu eröffnen, weil es ja menschenrechtliche Fortschritte gäbe. Ich halte das für blanken Zynismus. Es ist eine menschenverachtende Unterstützung der Position des deutschen Kapitals, das mit der Privatisierungs- und Marktöffnungspolitik Erdogans im Zuge des Beitrittsprozesses zur EU sehr gut leben kann. Hier müssen wir als deutsche Solidaritätsbewegung ansetzen: Die polizeiliche und militärische Unterstützung von Erdogan durch Deutschland muß endlich beendet und der Beitrittsprozeß ausgesetzt werden. Der Amoklauf der Erdogan-Regierung gegen Demokratie und Menschenrechte darf nicht auch noch belohnt werden.

Interview: Rüdiger Göbel

* Aus: junge Welt, Freitag, 7. Juni 2013


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