Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Türkischer Sommer der Anarchie

Die Solidarisierung gegen die Regierung Erdogan erfasst breite Schichten

Von Jürgen Gottschlich, Istanbul *

Der Taksim-Platz, zentraler Ort der Proteste in Istanbul, ist zu einer Art autonomen Zone geworden. Die Menschen, die sich hier treffen, haben sich gegen die Regierung solidarisiert. Zwischen ausgebrannten Autos versorgen Ärzte freiwillig die Verletzten.

Der Unterschied zwischen zwei Welten erschließt sich durch eine U-Bahnfahrt von einer Station. Unten am Fähranleger am Bosporus in Kabatas, wirkt Istanbul wie immer. Leute hetzen zur Fähre, suchen einen Bus, die Autos stehen im Dauerstau. Einzig eine zerschlagene Werbetafel gibt einen Hinweis darauf, dass es auch hier nachts anders zugehen kann. Doch wer in Kabatas in die Metro steigt und eine Station weiter, am Taksim-Platz, wieder an die Oberfläche kommt, betritt eine andere Welt.

Autos gibt es noch, aber nur noch als umgestürzte, ausgebrannte oder zertrümmerte Vehikel, die jetzt als Teil einer Barrikade genutzt werden, um alle Zufahrten zum Platz für die Polizei zu sperren. Der normalerweise verkehrsreichste Platz Istanbuls ist, was die Stadtoberen auch schon mal versprochen hatten, nur noch Fußgängern vorbehalten. Man hat den Platz mit Hunderten Fahnen geschmückt, jedes linke Grüppchen wollte seinen Wimpel hinterlassen. Wo sonst Starbucks teuer schlechten Kaffee verkauft, ist jetzt ein Versorgungszentrum eingerichtet worden, wo jeder umsonst Wasser und belegte Brote bekommen kann, die von überallher gespendet wurden.

Auf den Stufen zum Gezi-Park, wo vor zehn Tagen alles begann, steht ein großer Stapel Reifen, der über und über mit Zetteln geschmückt ist. Botschaften von Demonstranten an die Regierung sind dort angesteckt wie: »Ich verkaufe Brotwaren. Ich lebe in Würde. Weg mit der Polizei.« Über den Eingang zum Park weht ein großes Transparent auf dem steht: »Kollektiv für den Rücktritt von Tayyip Erdogan«. Willkommen in der autonomen Zone von Istanbul. Ergün steht staunend auf den Stufen zum Gezi-Park und schüttelt ungläubig den Kopf. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Das muss ein Traum sein, das gab es in der Türkei noch nie.«

Ergün ist von Beruf Augenarzt. Er ist erst am Morgen aus Urfa nach Istanbul gekommen. Urfa, das ist die Stadt Abrahams, ganz im Südosten des Landes an der syrischen Grenze, 2000 Kilometer von Istanbul entfernt. »In Urfa«, sagt Ergün, »passiert nichts. Es gibt keine Demonstrationen. Die Stadt ist sehr konservativ.« Deshalb hat er sich in seinem Krankenhaus frei genommen und ist nach Istanbul gefahren. »Ich bin Augenarzt. Vielleicht kann ich helfen. Aber ich wollte auch sehen, hören und riechen, wie die Freiheit schmeckt.«

Im Zentrum des Gezi-Parks, wo vor zehn Tagen die ersten noch kleinen Versammlungen der Besetzer stattgefunden haben, ist jetzt ein Erste-Hilfe-Zentrum eingerichtet worden. Namenlose Ärzte wie Ergün bieten hier Hilfe an. Die Atmosphäre der Freiheit, die seit Sonntag vom Taksim-Platz ausgeht, lässt die Stimmung vibrieren. Vor allem Tausende junger Leute in der Millionenmetropole werden vom Taksim-Platz und Gezi-Park geradezu magnetisch angezogen. Sie wollen die neue Türkei anschauen, sie wollen tanzen, Plakate malen und ein Gemeinschaftsgefühl genießen, das es so, über alle Grenzen der verschiedenen Gruppen und Weltanschauungen des Landes, wohl noch nie gab.

Seit die Polizei am Samstagabend den Taksim-Platz, den Gezi-Park und die Umgebung im Zentrum völlig geräumt hat, gibt es hier keine Zwischenfälle mehr. Und seit Ministerpräsident Tayyip Erdogan sich am Montagmorgen zu einem viertägigen Staatsbesuch nach Nordafrika verabschiedet hat, wagt es auch niemand mehr in der Öffentlichkeit, die Besetzer als »Chaoten« oder gar als »Marodeure« zu verunglimpfen, wie Erdogan es getan hat. Im Gegenteil, die Protestler aus dem Gezi-Park können sich vor Unterstützern kaum mehr retten. Gestern bekannte gar Ergun Özen, Vorstandschef der Garanti Bank, einer der größten türkischen Banken: »Ich bin auch ein Marodeur. Ich war auch am Taksim-Platz.«

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 6. Juni 2013

Dialog und Proteste

Bewegungen halten an Forderungen fest

Die landesweiten Proteste in der Türkei sollen nach dem Willen der Organisatoren auch nach einem Gespräch mit der Regierung andauern. Wie türkische Medien am Mittwoch berichteten, kündigte eine der führenden Initiativen, die Taksim-Plattform, nach einem Treffen mit Vizeregierungschef Bülent Arinc in Ankara an, ihren »Kampf« fortsetzen zu wollen, bis die Regierung auf ihre Forderungen eingehe.

Die Aktivisten verlangen unter anderem den Erhalt des Gezi-Parks in Istanbul, der einem Einkaufszentrum weichen soll. Ferner müsse der Einsatz von Pfefferspray und Tränengas verboten werden. Alle für die Gewalt gegen Demonstranten verantwortlichen Funktionäre sollten entlassen werden, hieß es zudem.

Arinc hatte sich am Dienstag nach einem Treffen mit Staatspräsident Abdullah Gül für die Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten entschuldigt. Andererseits nahm die Polizei jetzt Twitter-Nutzer fest, weil sie beleidigende Nachrichten abgesetzt haben sollen. Eine Entspannung ist nicht in Sicht.



Türkei bleibt in Aufruhr

Trotz Entschuldigung der Regierung für Polizeigewalt gehen landesweite Proteste weiter. US-Außenministerium erläßt Reisewarnung

Von Nick Brauns **


Trotz einer Entschuldigung von Vizeministerpräsident Bülent Arinc für die gewalttätigen Polizeiübergriffe auf friedliche Demonstranten gingen in der Nacht zum Mittwoch erneut Zehntausende Menschen in mehreren türkischen Städten gegen die islamisch-konservative AKP-Regierung auf die Straße. Das US-Außenministerium hat aufgrund der andauernden Proteste am Mittwoch eine Reisewarnung für die Türkei erlassen.

Die Polizeigewalt forderte ein drittes Todesopfer. Am Mittwoch erlag in Istanbul Aktivist Ethem Sarisülük seinen schweren Kopfverletzungen. Laut einer vorläufigen Bilanz der Türkischen Medizinervereinigung (TTB) wurden zwischen dem 29. Mai und 4. Juni 4177 Personen verletzt, von denen sich 43 in »kritischem Zustand« befinden. Unterdessen traf sich Vizeministerpräsident Arinc am Mittwoch in seinem Amtssitz in Ankara mit Mitgliedern der Taksim-Plattform. Deren von der Polizei niedergeschlagener Protest gegen die Bebauung des Gezi-Parks im Herzen Istanbuls war vergangene Woche zum Auslöser der landesweiten Protestwelle geworden.

Die Besetzung des Gezi-Parks hat inzwischen Festcharakter angenommen. So gab hier die Rocksängerin Sebnem Ferah ein Konzert, während sich die Polizei weitgehend zurückhielt. Doch im Istanbuler Stadtteil Besiktas setzten Polizisten bis nach Mitternacht Wasserwerfer und Gasgranaten gegen Demonstranten ein, die zum Gebäude der Regierungspartei AKP marschieren wollten. Auch in der Innenstadt von Ankara kam es nach einer Demonstration mit Zehntausenden Teilnehmern zu Straßenschlachten. Die Demonstranten riefen Parolen gegen den »AKP-Faschismus« und forderten den Rücktritt von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Straßenschlachten wurden auch aus Antakya in der Provinz Hatay gemeldet, wo in der Nacht zum Dienstag ein Demonstrant durch eine Gasgranate getötet worden war.

Zu schweren Auseinandersetzungen kam es in der Nacht zum Mittwoch in der kurdischen Stadt Tunceli (Dersim). Hier beschoß die Polizei das Krankenhaus mit Gasgrananten, wodurch zahlreiche Patienten verletzt wurden. Demonstranten griffen ihrerseits Polizeiwachen mit Steinwürfen an. Dersim ist eine Hochburg der Aleviten. Diese diskriminierte religiöse Minderheit sieht in der kürzlich verkündeten Entscheidung Erdogans, die geplante dritte Bosporus-Brücke in Istanbul nach Yavuz Sultan Selim zu benennen, eine offene Kriegserklärung der sunnitischen Regierung. Schließlich war der im 16. Jahrhundert lebende osmanische Sultan »Selim der Grimmige« als Aleviten-Schlächter in die Geschichte eingegangen.

In Izmir wurden unterdessen 25 Personen festgenommen, weil sie über Twitter »irreführende und beleidigende Informationen« verbreitet und zu »Unruhen angestiftet« haben sollen. Nach 13 weiteren Twitterern werde noch gefahndet. Es handle sich um Jugendliche, die harmlose Nachrichten wie »Die Polizei kommt« und »Widerstand, gebt den Platz nicht auf!« getwittert hätten, berichtete der Provinzsekretär der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP), Sevda Erkan Kilic, der Zeitung Hürriyet Daily News.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 6. Juni 2013


»Çapulcu City« – die Stadt der Randalierer

Niemand ahnte, dass aus dem Konflikt um ein Bauprojekt nationaler Protest erwachsen würde

Von Julia Strutz, Istanbul ***


Was als Kritik gegen Willkür und Privatisierung in den städtischen Transformationsprozessen begann, ist in der Türkei zu einer gesellschaftlichen Bewegung geworden, die sich bei der Verteidigung ihrer sozialen und politischen Rechte selbst neu erfindet.

Noch vor einer Woche hätte niemand damit gerechnet, dass sich die Auseinandersetzung um das Bauprojekt am Istanbuler Taksim-Platz in einen nationalen Protest verwandeln würde, trotzdem kommt er nicht von ungefähr. Taksim ist kein Einzelfall, sondern ein Symbol für die lange Reihe von städtischen Projekten. In den vergangenen Jahren hat die AKP-Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan eine aggressive Stadtpolitik betrieben, die in naher Zukunft den Abriss von Häusern vorsieht, der mehrere Millionen Haushalte betrifft. Mit dem Abriss des Viertels Sulukule, durch den Hunderte Romafamilien ihre Bleibe verloren, wurde 2009 ein Exempel statuiert, das sich in Hunderten von Nachbarschaftsvierteln allein in Istanbul zu wiederholen droht. Auch wenn das Projekt im Nachhinein von Gerichten für unrechtmäßig erklärt wurde – inzwischen waren die neuen Villen längst für jeweils mehrere Millionen verkauft.

Unweit des Taksim-Platzes und Teil der AKP-Fantasie von einem sterilen, pittoresken und homogenen neuen Stadtzentrum, liegt das Stadtviertel Tarlabaşı, das einen Schlupfwinkel für die »anderen« bietet, vor allem Kurden und Flüchtlinge. Seit mehreren Monaten wird dort abgerissen, um eine historisierende »gated community«, ein abgeschlossenes Wohngebiet, zu errichten. Daneben ist eine ganze Reihe von Großprojekten zu nennen, wie die Bewerbung für die Olympischen Spiele 2020 und die Umnutzung des Bahnhofs, ein dritter Flughafen im Norden der Stadt oder ein Kanal parallel zum Bosporus. Vor wenigen Wochen erst wurde das letzte Programmkino im Stadtzentrum trotz lang anhaltender Proteste abgerissen, wahrscheinlich um an das neue Einkaufszentrum nebenan anzuschließen. Am zweiten Tag der jüngsten Proteste wurde der Grundstein für die dritte Brücke über den Bosporus gelegt: Sie dürfte die Bodenpreise im Norden in die Höhe schießen lassen, aber zur Verkehrsentlastung nur wenig beitragen.

Seit der Verkündung des Projekts für den Taksim vor etwas mehr als einem Jahr mobilisierten sowohl Kammern von Architekten und Stadtplaner als auch die Zivilgesellschaft – darunter das Bündnis »Recht auf Stadt«, die Taksim-Plattform und die Gruppe »Urban commons« – mit Kundgebungen, Festen im Park und Kunstaktionen gegen das Vorhaben. Die Baumfällungen in dem Park im Zentrum der Stadt hatten vor allem symbolische Bedeutung: »Wenn sie das schaffen, können sie alles machen«, empörte sich Erbatur Çavuşoğlu, Dozent an der Mimar-Sinan-Universität, Stadtplaner und Aktivist. Muss sich diese Regierung an keinerlei Regeln mehr halten? Steht sie über dem Gesetz? Wem gehört die Stadt?

Die Stimmung an einem der letzten Abende war euphorisch angesichts der ungeahnten 5000 Leute im Park. Ungewöhnlich für die Proteste der vergangenen Jahre waren nicht nur die vielen unbekannten Gesichter. Politischen Gegnern gelang es plötzlich, sich hinter einem Ziel zu vereinen: Da saßen antikapitalistische Muslime neben Mitgliedern der Kommunistischen Partei und der kurdischen BDP, eine Gruppe von Studierenden neben Fans von Fußballklubs, Künstlern und den Organisationen von Lesben und Schwulen. Am Taksim scheint der sogenannte Kulturkampf zwischen Muslimen und Säkularen überwunden, gemeinsam stemmte man sich mit aller Kraft gegen diese Zuschreibungen, als die Zahlen der Protestierenden plötzlich explodierten.

Strategisch wichtig ist neben dem Aufbrechen der herkömmlichen Koalitionen die Gewaltfreiheit der Proteste. »Çapulcu« (Randalierer, Marodeure) hatte Erdoğan die Teilnehmer genannt. Häufig ergreifen diese »Marodeure« nun selbst Maßnahmen gegen Provokateure: Sie löschen die Feuer, halten Randalierer zurück, mahnen zur Ruhe. Jeden Morgen räumen die Aktivisten den Park auf, sammeln die Überreste der Gasbomben ein, die gegen sie selbst eingesetzt wurden, und pflastern die zerstörten Straßen neu. Es gibt Yoga im Park, eine Bibliothek, gemeinsame Küchen, ein offenes Mikrofon und einen Garten. Ein ausgebranntes Polizeiauto auf dem Platz wird zum Wunschbaum

»Heute sind wir alle jemand Neues«, schreibt die Gruppe »Urban commons« in ihrer Pressemitteilung. Der Ausgang der Proteste ist momentan völlig unvorhersehbar, diese neue Form von Stadt und Leben aber, von den Leuten auf dem Taksim selbst geschaffen, wird sicher bleiben. In den letzten Tagen sind die Kämpfe um den Platz abgeflaut und haben sich auf andere Teile der Stadt und des Landes verlagert. Vielleicht schaffen es die Leute auch dort, sich neu zu erfinden – denn das ist eine Utopie, gegen die niemand ankommt.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 6. Juni 2013


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