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Erdogans Menetekel

Demonstranten in Istanbul antworten auf Pfeffergas mit gepfefferten Wandparolen

Von Jan Keetman *

Nach einer knappen Woche ohne Ausschreitungen hat die türkische Polizei den Istanbuler Taksim-Platz in der Nacht zum Sonntag wieder mit Tränengas und Wasserwerfern von Demonstranten geräumt. Bereitschaftspolizei kontrollierte die Zugänge zum Platz.

Die Proteste gegen die Regierung von Recep Tayyip Erdogan dauern nun schon die dritte Woche an. Angesichts der ständigen Polizeigewalt, weichen die Demonstranten auf neue Formen des Protests aus. Berühmt geworden, ist der »duran adam«, der »stehende Mann« oder »stehende Mensch«. Leute bleiben einfach stehen und schauen stundenlang einzeln oder in Gruppen auf eine bestimmte Stelle, etwa auf den Gezi-Park oder das Atatürk-Kulturzentrum am Taksim-Platz oder auf ein Büro der regierenden AK-Partei.

Die Polizei reagiert darauf unterschiedlich, vom Gewährenlassen über das vergebliche Angebot von Tee, bis zu Festnahmen und der Verhängung von Bußgeldern. Auch die Politik tut sich schwer mit den »stehenden Menschen«, kann man sie doch schlecht einfach als »Vandalen« oder »Räuber« bezeichnen, wie es Erdogan mehrmals mit den Demonstranten getan hat. Erdogans Stellvertreter Bülent Arinc, der mit dem Einsatz des Militärs gedroht hatte, lobte die neue Protestform sogar. Andererseits warnte er vor den gesundheitlichen Folgen langen Stehens. Länger als acht Minuten sollte man das laut Arinc nicht machen …

Eine andere Waffe der meist jugendlichen Demonstranten ist ihr Humor. Gerade der pathetische Erdogan steht humoristischen Angriffen ziemlich hilflos gegenüber. Die Bezeichnung »Räuber«, »capulcu« ist ihm schon als Bumerang zurückgekommen, indem sich die Protestierenden nun selbst so bezeichnen und damit Erdogans groteske Übertreibung offenlegen.

Zeichnungen und Witze zu Lasten des gestrengen Ministerpräsidenten und seiner Polizeikräfte kursieren in Mengen im Internet, und ein reichlicher Niederschlag davon findet sich auf allen möglichen Mauern in Istanbul. Hier eine kleine Auswahl: Da verspricht jemand der Polizei: »Polizist, meine Lippen werden zusammengeklebt bleiben.«

Ein anderer fordert auf: »Polizist, sei nicht schlecht!« Weit verbreitet ist folgende Empfehlung, die nicht nur angeschrieben, sondern auch in Sprechchören gerufen wird: »Polizist, verkaufe Kringel, führe ein ehrbares Leben!« Ein Wandschreiber im pfeffergasumnebelten Istanbul schreibt: »Nun reicht es, ich rufe jetzt die Polizei!« Ein anderer findet jedoch »Dieses Gas ist wunderbar!« Manchem kommen da schon rührende Gefühle: »Bruder Polizist, du bringst mich wirklich zum Weinen!« Andere klären auf: »Kerl, fürchte dich nicht, wir sind es, das Volk!« Außerdem verspricht man »Gemütlichkeit im Aufstand«.

Seine Freude über den Aufruhr versucht der Schreiber des folgenden Spruches erst gar nicht zu verbergen: »Es ist schwer, im Juni zu sterben.« So werden nun auch Mitstreiter eingeladen: »Herzlich willkommen beim Widerstand!« Doch alles kann man in diesem Protestmonat ja nicht machen. Wegen der Einschränkungen für den Verkauf von und die Werbung für Alkohol wurde bereits das erste Weinfest auf der Insel Bozca Ada abgesagt.

Andererseits hat dieser Eingriff in das Privatleben viele aufgeschreckt, die vorher nicht an eine Reislamisierung von oben glaubten. Ein Wandsprüher meint dazu: »Mit dem Alkoholverbot ist das Volk nüchtern geworden.«

Natürlich bleibt auch der Ministerpräsident vom Spott auf den Mauern nicht verschont: »Wie ist der Geruch der Einsamkeit, Tayyip?« fragt da jemand. Als dieser noch auf einer Afrika-Reise weilte, hieß die Parole: »Wie auch immer, komm nicht zurück!« Jemand warnt ihn auf Englisch: »Tayyip, winter is coming«. Unter Anspielung auf eine Durchsage in der U-Bahn von Ankara, gegen das öffentliche Küssen schreibt einer ganz frech: »Wir küssen uns ohne Unterbrechung, Tayyip!«

* Aus: neues deutschland, Montag, 24. Juni 2013


»Tayyip istifa« – »Tayyip, tritt zurück«

In Köln protestieren Zehntausende gegen den türkischen Ministerpräsidenten und Polizeigewalt

Von Anja Krüger, Köln **


Zehntausende Menschen haben am Samstag in Köln gegen das Vorgehen gegen die Taksim-Platz-Bewegung protestiert. Die Kundgebung, zu der die Alevitische Gemeinde in Deutschland aufgerufen hatte, ist die bislang größte Solidaritätsveranstaltung mit den türkischen Protestierenden in der Bundesrepublik.

Ein bisschen erinnert die Atmosphäre auf dem Kölner Heumarkt an die Stimmung im Istanbuler Gezi-Park, den die türkische Regierung vor einer Woche brutal räumen ließ. Immer wieder skandieren die Protestierenden das Motto der türkischen Demokratiebewegung »Her yer Taksim, her yer direnis«. Es steht auch auf unzähligen Schildern: »Überall ist Taksim, überall ist Widerstand.« Immer wieder fordern Sprechchöre den türkischen Regierungschef Erdogan auf »Tayyip istifa« – »Tayyip, tritt zurück«. Die Menschen und Gruppen, die sich hier versammelt haben, sind bunt gemischt. Fußballfans stehen neben Occupy-Aktivisten, die Anhänger türkischer Parteien und Splittergruppen neben arrivierten Vertretern alevitischer Gemeinden, Gewerkschafter neben jungen Leuten aus Jugendverbänden. Sie sind aus ganz Deutschland, aus der Schweiz, den Niederlanden und anderen Ländern gekommen. Einige wie Hassan und Hayriye und ihre kleine Tochter mussten nur mit der Straßenbahn von der anderen Rheinseite herüber fahren. Die Eltern sind nicht politisch organisiert. Tochter und Vater tragen Schilder. »Freiheit allen Gefangenen« steht auf dem der Tochter. »Erdogan ist ein Faschist«, sagt Hayriye. Ein Satz, der an diesem Tag vielen leicht über die Lippen geht.

Ganz nach vorne zur Bühne vorgekämpft hat sich Sönmes Kazim aus Bergisch Gladbach. »Wir wollen nur als Menschen in Frieden leben«, sagt er. In Bergisch-Gladbach leben fast 500 alevitische Familien. Sie verfolgen das Geschehen in der Türkei, auch die alevitenfeindlichen Attacken Erdogans. »Erdogan muss zurücktreten«, sagt Kazim. Neben ihm steht eine junge Frau mit Mundschutz, die mit einem Plakat gegen den brachialen Tränengaseinsatz in Istanbul protestiert. Immer wieder ruft sie mit den anderen auf dem Platz »Hoch die internationale Solidarität«, wenn ihr ein Redebeitrag auf der Bühne gefällt. Neben den Vertretern deutschtürkischer und türkischer Organisationen sprechen Vertreter der Linkspartei, den Grünen, der SPD und der IG Metall.

»Wir wollen den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan enttarnen«, ruft der Vorsitzende der alevitischen Jugend für Deutschland und Europa Serdar Akin von der Bühne. »Erdogan ist und bleibt der Wolf im Schafspelz.« Die Politiker in Europa müssen Konsequenzen ziehen, fordert er. »Bis das nicht geschehen ist, darf kein neues Kapitel der Beitrittsverhandlungen eröffnet werden.«

Das sehen auf dem Platz nicht alle so. Meltem Meral ist mit einem Bus aus Bad Canstadt gekommen. Die junge Frau trägt ein Schild, das einen Pinguin und Tayyip Erdogan zeigt. »Entschuldigen Sie, könnten Sie bitte zurücktreten«, sagt der Pinguin. Pinguine sind ein Symbol der Demokratiebewegung, weil das türkische Fernsehen am Abend des ersten Angriffs auf den Gezi-Park eine Dokumentation über die Tiere zeigte. »Deutsche und europäische Politiker müssen Sanktionen gegen Erdogan verhängen«, fordert Meral. Aber sie hält nichts davon, die Beitrittsverhandlungen zur EU auszusetzen. »Das spielt Erdogan in die Hände«, sagt sie. »Es ist das Volk, das jetzt kämpft, das zu Europa gehören will«, sagt sie.

Was eine angemessene Reaktionen von Seiten der deutschen Regierung wäre, formuliert Gregor Gysi, der mit anderen Bundestagabgeordneten der Linkspartei auf der Bühne steht. »Sie muss aufhören, mit den Geheimdiensten in der Türkei zusammenzuarbeiten«, ruft er. Auch Rüstungsexporte müssten gestoppt, die deutschen »Patriot«-Raketen aus der Türkei sofort abgezogen werden.

Eines unterscheidet die türkische Demokratiebewegung von den Deutschtürken. Hierzulande sind bei manchen die Organisationsinteressen wichtiger als die gemeinsame Sache. Die Alevitische Gemeinde sperrt sich gegen den Wunsch der Föderation Demokratischer Arbeitervereine (DIDF), im Anschluss ein gemeinsames Kulturfestival zu veranstalten. Und so ziehen nach der Kundgebung auf dem Heumarkt Tausende zur Bühne vorm Kölner Dom, um das von DIDF organisierte Solidaritätskonzert unter anderem mit den sehr populären Bands Bandista und Kardes Türküler zu hören. »Es ist schön, dass so viele Leute den Menschen in der Türkei zeigen: Ihr seid nicht allein«, begrüßt die Bundestagsabgeordnete der LINKEN Sevim Dagdelen die Menge.

** Aus: neues deutschland, Montag, 24. Juni 2013


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