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"Wir wollen Freiheit"

Aus den Massenprotesten gegen die Erdogan-Regierung könnte eine neue starke Oppositionsbewegung werden. Ein Gespräch mit Ertugrul Kürkcü *


Der türkische Sozialist Ertugrul Kürkcü (65) ist Abgeordneter der prokurdischen Partei BDP (Baris ve Demokrasi Partisi – Partei für Frieden und Demokratie) in der Türkischen Nationalversammlung.


Wer auf dem Taksim- Platz in Istanbul mit den Menschen über ihre Gründe für den Protest gesprochen hat, bekam eine Vielzahl an Erklärungen: Einige waren gegen das von der AKP-Regierung angeordnete Alkoholverbot, andere gegen die Bauvorhaben rund um den Gezi-Park, wieder andere gegen den Kapitalismus im allgemeinen. Was sind die verbreitetsten Gründe des Aufstands?

Wenn ich es in einem Wort zusammenfassen müßte, dann wäre dieses Wort Freiheit. Jeder Grund beinhaltet die Ablehnung des gegenwärtigen Zustandes in der Türkei: Ob das der Widerstand gegen neoliberale Politik, gegen das Verbot von Alkohol oder die Umstrukturierung des Taksim-Platzes ist. All das läuft auf eine Ablehnung der AKP-Regierung in Ankara und der lokalen Verwaltungen hinaus.

Viele Menschen in der ganzen Türkei, die den Taksim zuvor noch nie in ihrem Leben gesehen hatten, haben sich an dem Protest gegen den Bau der Kaserne im Gezi-Park beteiligt, weil hier ein Widerstand gegen Recep Tayyip Erdogans Einmannherrschaft im allgemeinen entstanden ist. Freiheit von der Willkürherrschaft eines Mannes, von einer diktatorischen Regierung ist die große Bindekraft und der gemeinsame Nenner zwischen den verschiedenen Brennpunkten des Protests.

Sie haben die neoliberale Politik erwähnt. Wie sieht die ökonomische Entwicklung des Landes aus?

Das stärkste Element in Erdogans Herrschaft ist der ökonomische Fortschritt. Tatsächlich hat sich in den zehn Jahren, seitdem er im Amt ist, das durchschnittliche Einkommen pro Kopf und Jahr auf umgerechnet etwas mehr als 10 000 US-Dollar verdoppelt. Die ärmsten 20 Prozent stehen nun nicht mehr kurz vor dem Verhungern, sind aber immer noch arm. Relativ gesehen hat sich die ökonomische Situation also verbessert. Auf der anderen Seite hat sich die Schere zwischen den reichsten 20 Prozent und den ärmsten 20 Prozent weiter geöffnet.

Für diejenigen allerdings, die von ihrem Lohn leben müssen – also Arbeiter, Angestellte des öffentlichen Dienstes, irreguläre Arbeitskräfte, Landarbeiter –, hat sich die Situation verschlechtert. Denn sie leben weder von Kapitaleinkommen und Profiten, noch von staatlicher Unterstützung. Die Krise hat 2008 auch die Türkei erreicht, und insbesondere die Arbeiterklasse. Deren Lage hat sich zunehmend verschlechtert. Es gab in den vergangenen fünf Jahren unzählige Proteste deswegen. Bei den aktuellen wurde nie direkt über diese Dinge gesprochen: Die Menschen haben nicht gesagt: Wir wollen bessere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen. Sie haben auch nicht gesagt: Wir wollen Jobs. Was sie fordern, ist Freiheit. Das ist insofern interessant, weil mehr als 50 Prozent der Protestierenden Arbeiter sind.

Und welche Rolle spielt der Umbau der Stadt?

Die Umstrukturierung ist einer der wesentlichen Gründe des Protestes. Die türkische Regierung steckt viele Milliarden US-Dollar in das, was sie »städtische Transformation« nennt. Das ist ein Prozeß der Gentrifizierung. Die staatliche Wohnbaugesellschaft ist der größte Bauunternehmer der Türkei geworden. Sie dominiert mittlerweile 80 Prozent des Bausektors.

Die Regierung sagt, sie habe in den vergangenen zehn Jahren zwei Millionen Häuser gebaut. Aber ihr Interesse liegt nicht einfach beim Bau von Wohnungen, sie will den Charakter von Städten wie Istanbul, Ankara und Konya ändern. Arme Menschen, die in den Slumgegenden der Stadtzentren gewohnt haben, werden verdrängt und es werden neue Luxusprojekte gebaut. Reiche ziehen ins Zentrum.

Außerdem steht dahinter auch eine ideologische Motivation: Alle neue Bauten sind wie Brandzeichen, die die neue Regierung, die neue dominierende Macht, in den Herzen der Städte hinterläßt.

Die Neubauten sind also ein ökonomischer wie ideologischer Grund für die Proteste. Erdogan will den Taksim-Platz quasi islamisieren. Man hält den Taksim für das alte, christliche Zentrum der Stadt, also will die Regierung in dieser Gegend ihre Präsenz zeigen. Es gab ein früheres Projekt, eine Moschee auf dem Taksim zu bauen, weil es zwar rundherum welche, aber direkt im Zentrum keine gibt – wohl aber Kirchen. Also sagte Erdogan: Ich werde die alte griechische Kirche dort renovieren und daneben eine neue türkische Moschee bauen, dann wird der Platz der Ausdruck der Geschwisterlichkeit der Zivilisationen.

Angesichts solcher Projekte sagen die Menschen: Du kannst die Stadt nicht einfach umbauen, wie es dir paßt. Und du kannst die Armen nicht einfach aus dem Zentrum werfen, wie es dir paßt. Das ökonomische Element in den Aufständen ist also durchaus vorhanden, aber es drückt sich eher indirekt aus. Es ist eher ein Widerstand gegen neoliberale Stadtumstrukturierungspläne als gegen die neoliberale Lohnpolitik.

Außerdem muß man konstatieren, Erdogans persönlicher Stil ist ein weiterer Grund für die Proteste. Um eine Metapher zu verwenden: Er tötet die Menschen nicht einfach. Er tötet sie und pißt ihnen dann noch in den Mund. Das macht die Menschen im ganzen Land so wütend.

Kann die Protestbewegung die Regierung stürzen?

Im Moment noch nicht. Aber die Bewegung kann die Regierung behindern und stören, sie kann Druck ausüben. Man muß die Spannungen in der AKP bedenken. Sie ist ein Block, keine monolithische politische Kraft. Es gibt innerhalb der AKP Koalitionen, Absprachen, Allianzen. Und manche Strömungen sind dafür, dem Druck nachzugeben. Sie sagen: Laßt uns eine Übereinkunft mit den Menschen auf den Straßen anstreben, wenn wir sie eine weitere Dekade lang regieren wollen.

Erdogan selbst sträubt sich noch hartnäckig, Zugeständnisse zu machen. Trotzdem denke ich, der Druck der Bewegung wird einige Resultate erzielen, wenn auch keine vollständige Lösung der Probleme bringen. Wenn die Frage ist, gibt es eine Alternative, kann Erdogan geschlagen und abgesetzt werden, dann muß ich sagen: Ich glaube nicht, daß er allein von der städtischen Jugend geschlagen werden kann. Es muß eine breite demokratische und soziale Allianz geschaffen werden, die Teile der AKP-Basis anziehen kann. Es sieht so aus, als gebe es nach dem Aufstand nur wenig Veränderungen in der Unterstützung, die Erdogan in der Bevölkerung hat. Aber in der Hälfte der Gesellschaft, die ihn nicht wählt, gibt es Veränderungen, Neugruppierungen. Hieraus könnte eine besser organisierte Opposition entstehen.

Außerdem wird der Ministerpräsident Zugeständnisse machen müssen. Es ist nicht möglich, vorzugeben, eine demokratische Regierung zu sein und das Land ausschließlich durch Gewalt zu regieren. Das ruiniert Erdogans Prestige international, insbesondere in der Wahrnehmung in den Vereinigten Staaten, in der EU und bei den Vereinten Nationen.

Die kurdische Freiheitsbewegung steht den Protesten teilweise skeptisch gegenüber. Stellungnahmen ihrer Repräsentanten klingen manchmal eher distanziert, als hätte man Angst, daß nach Erdogan etwas noch Schlimmeres kommen könnte ...

Dieses Vorsicht der kurdischen Bewegung ist vernünftig, aber sie könnte besser in Worte gefaßt werden, als das der Fall ist. Ein geschultes Auge kann sehen, daß es hinter dieser Massenbewegung keine verborgene, sie steuernde Hand gibt. Die Kurden haben zunächst drei, vier Tage abgewartet und beobachtet. Ich hatte aber von Anfang an keine Zweifel, deshalb habe ich begonnen, den Aufstand zu unterstützen. Die Angst der Kurden war, daß es ein Komplott sein könnte, daß einige Elemente des Protests mit »Ergenekon« verbunden sein könnten. Aber das war nicht der Fall.

Die kurdische Bewegung brauchte einige Tage, um sich ein Bild vom Aufstand zu machen. Klar, die ersten Reaktionen führten zu einiger Verwirrung, auch bei Teilen der Protestierenden, denn sie erwarteten die volle Unterstützung. Außerdem gibt es einen rechten Flügel in der kurdischen Bewegung. Dieser will ein Minimalübereinkommen mit Erdogan und glaubt, nur er könne die kurdische Frage lösen. Nach einer Woche wurde offensichtlich, daß die kurdische Bewegung, insbesondere auch Abdullah Öcalan selbst, die Proteste voll unterstützt. Aber nach wie vor bleibt man vorsichtig gegenüber den nationalistischen und rassistischen Personen unter den Protestierenden.

Gibt es eine Chance dafür, daß die engere Zusammenarbeit der alevitischen, kurdischen und türkischen Linken bestehen bleibt?

Ja, dafür gibt es nun die Gelegenheit, und das könnte das Beste sein, was in der Türkei je passiert ist. Die sozialistische Linke, die Frauen-, die alevitische und die kurdische Bewegung – wenn diese vier Elemente zusammenkommen, könnten sie die Quelle einer neuen Opposition sein, die eine demokratische Entwicklung in der Türkei vorantreibt.

Jeder sieht, daß das eine wirkliche Alternative wäre. Deshalb versuchen sowohl die AKP-Regierung als auch die CHP-Opposition, diese Entwicklung zu stören. Sie streuen Gerüchte, wollen die unterschiedlichen Fraktionen gegeneinander ausspielen. Und insbesondere die Regierung ist darauf aus, alle Elemente dieser Bewegung zu kriminalisieren.

Interview: Thomas Eipeldauer

* Aus: junge Welt, Samstag, 22. Juni 2013


Stummer Protest

Der Protest gegen die AKPRegierung in der Türkei hat eine weitere Facette. Nachdem zunächst ein Performancekünstler durch stummen Protest auf dem Taksim-Platz in Istanbul für eine neue Ausdrucksform gesorgt hat, gibt es an vielen Orten nun »Schweigende Frauen gegen Vergewaltigungen«. Ihre Manifestation richtet sich gegen die Freilassung von fünf Polizeioffizieren, die zwei Jahre lang in Bingöl ein heute 16jähriges Mädchen vergewaltigt haben sollen und von ihrem Opfer als Täter identifiziert wurden. Die Polizisten waren im Rahmen der Ermittlungen zunächst festgenommen, dann aber in dieser Woche wieder auf freien Fuß gesetzt worden.

Der stille Protest der empörten Frauen hat bereits Reaktionen auf höchster Ebene hervorgerufen. Das Familien- und Sozialministerium hat angekündigt, die Freilassung der mutmaßlichen Täter anfechten zu wollen. Die prokurdische Partei für Frieden und Demokratie (BDP) verurteilte das Verbrechen und die Freilassung der Verdächtigen. Im Internetdienst »Twitter« zeigen sich unter »#TecavüzeSessizKalma « (Schweige nicht zu Vergewaltigungen) Hunderte empört, vor allem angesichts der brutalen Repression gegen friedliche Demonstranten in den vergangenen Tagen: »Demo ist ein Schwerverbrechen. Eine 16jährige mehrfach vergewaltigen jedoch nicht«, hieß es da, und: »Diese Doppelmoral widert mich nur noch an Einvernehmliches Küssen verboten, aber Vergewaltigung erlaubt«. Die Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International, Selmin Caliskan, beklagte eine »Politik der Einschüchterung « in der Türkei. Ganze Berufsgruppen würden strafrechtlich verfolgt, sagte sie gegenüber AFP. Dazu zählten Anwälte, die Demonstranten vertreten, Journalisten, aber auch Ärzte, die verletzte Demonstranten vor Ort versorgen.

Angesichts der möglichen Aussetzung der EU-Beitrittsgespräche bestellte die türkische Regierung am Freitag den deutschen Botschafter ins Außenministerium ein. Bundesaußenminister Guido Westerwelle hatte kurz zuvor den Botschafter Ankaras ins Auswärtige Amt kommen lassen, offensichtlich in Reaktion auf Äußerungen des türkischen Europaministers Egmen Bagis ob der Kritik der Bundeskanzlerin am brutalen Vorgehen der Polizei: »Wenn Frau Merkel nach innenpolitischen Themen für ihren Wahlkampf sucht, dann sollte das nicht die Türkei sein«, sagte der laut Spiegel online Journalisten am Donnerstag. »Wenn Frau Merkel sich die Angelegenheit anschauen wird, wird sie sehen, dass diejenigen, die sich in die Angelegenheiten der Türkei einmischen, kein vielverheißendes Ende nehmen.« (jW)

** Aus: junge Welt, Samstag, 22. Juni 2013


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