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Türkische Polizei räumt Gezi-Park in Istanbul *

Zehntausende Menschen haben am Samstag abend in Istanbul gegen einen Angriff der Polizei auf das Protestcamp im Gezi-Park am zentral gelegenen Taksim-Platz demonstriert. Als am Abend die begonnene Räumung bekannt geworden war, formierten sich in mehreren Stadtteilen der Millionenmetropole spontane Demonstrationszüge, um in das Zentrum zu gelangen. Die Sicherheitskräfte sperrten daraufhin die Umgebung weiträumig ab, der Fährverkehr zwischen dem europäischen und dem asiatischen Teil der Stadt wurde eingestellt.

Regierungschef Recep Tayyip Erdogan hatte den Demonstranten am Samstag vormittag ein Ultimatum gestellt. Der Platz müsse bis zum Beginn einer Kundgebung seiner islamisch-konservativen Regierungspartei AKP geräumt sein. Die Protestierenden, die seit rund zwei Wochen in der Grünanlage ausharren, um eine Bebauung des Areals zu verhindern, lehnte das zwar ab, erklärten sich jedoch bereit, die Zahl der Zelte zu reduzieren und politische Transparente zu entfernen. Eine Beendigung der Aktionen sei jedoch nicht möglich, solange etwa die für den Tod mehrerer Demonstranten verantwortlichen Polizisten nicht strafrechtlich verfolgt würden.

Zahlreiche bei der Räumung verletzte Menschen fanden Zuflucht im nahegelegenen Divan-Hotel. Dort habe es ausgesehen „wie auf den Fluren eines Krankenhauses“, berichteten Augenzeugen. Die Polizei umstellte das Gebäude und versuchte, die verschlossenen Türen aufzubrechen. Wie die Tageszeitung Hürriyet Daily News berichtete, schossen Polizisten auch Tränengasgranaten in das Innere des Hotels, die Verletzten suchten daraufhin Zuflucht in höheren Etagen.

Betroffen von der Polizeiattacke waren auch mehrere Bundestagsabgeordnete. Die Parlamentarierinnen der Linken, Sevim Dagdelen und Heike Hänsel, sowie Claudia Roth von den Grünen hatten sich in Istanbul selbst ein Bild von der Lage machen wollen. "Das war wie im Krieg", zeigte sich Roth gegenüber dem ZDF schockiert. Über Facebook berichtete Sevim Dagdelen: „Jetzt werden Panzer der paramilitärischen Gendarmerie-Verbände eingesetzt. Erdogan setzt auf die völlige Eskalation.“ Im Divan-Hotel habe ihr eine Ärztin berichtet, dass es zwar zum Glück keine Toten gegeben habe, aber sehr viele Verletzte, darunter auch Kinder. „Erdogan muß weg! Taksim ist überall - Überall ist Widerstand!“ unterstrich die Abgeordnete. Zudem veröffentlichte sie im Internet Fotos einer Tränengasgranate, die vor ihren Füßen gelandet sei. Deutlich zu sehen darauf ist die Inschrift „Made in USA“.

* Aus: junge Welt (online), Sonntag, 16. Juni 2013


Kein freies Leben unter Tränengas

Momentaufnahmen von der Erstürmung eines bunten Volksfestes in Istanbul

Von Anja Krüger, Istanbul **


Der Taksim-Platz in Istanbul war am Sonntagmittag noch immer weiträumig abgesperrt. Da, wo wenige Stunden zuvor noch fröhliche Menschen getanzt und gesungen haben, herrschen jetzt bewaffnete Polizisten, Bulldozer und Reinigungskräfte.

Samstagabend in Istanbul. Die Atmosphäre auf dem Taksim-Platz und vor allem in dem angrenzenden Gezi-Park erinnert an eine Mischung aus Volksfest und überfülltem Campingplatz. Dicht an dicht stehen die Zelte, Aktivisten verschiedenster politischer Organisationen haben Stände aufgestellt und legen Flugblätter, Zeitschriften und Bücher aus. Neben den Biologen, die für den Erhalt des botanischen Gartens der Universität Unterschriften sammeln, werben die Mitglieder einer linken Partei für die Einheit des Proletariats, säkulare Feministinnen stören sich in ihrer »belästigungsfreien Zone« nicht an den wenige Meter entfernten Frauen mit Kopftüchern von den »antikapitalistischen Muslimen«. Überall sitzen Gruppen und diskutieren.

Wasserwerfer fahren auf

In der Bewegung gibt es erhebliche Differenzen darüber, wie es mit dem Protest weiter gehen soll. Das Bündnis »Taksim-Solidarität«, das aus mehr als 110 Gruppen und vielen Einzelpersonen besteht, will das Camp durch ein symbolisches Zelt ersetzten. »Wir wollen den Protest in die Gesellschaft tragen«, sagt ein Vertreter von ihnen. Doch die »Taksim-Plattform«, Teil des Bündnisses, lehnt das ab. Die Aktivisten wollen die Differenz nicht öffentlich machen, sie fürchten, dass das die Bewegung schwächen würde.

Bei beginnender Dunkelheit ziehen immer mehr Menschen über die Treppe vor dem Park auf den Taksim-Platz. Ein langer Korso von Motorradfahrern eines linkes Klubs fährt mit lautem Getöse vorbei. Passanten bejubeln den Korso. Aber die Stimmung beginnt zu kippen. Die Menschen spüren: Es liegt Unheil in der Luft.

Jetzt formieren sich Polizeitruppen. Über Lautsprecher werden die Demonstranten aufgefordert, den Platz zu räumen. Doch dazu sind sie nicht bereit. Stattdessen strömen aus dem Park immer mehr Menschen zu den Demonstranten auf den Taksim. Viele sind mit einem Mundschutz ausgestattet. In der Zeltstadt im Gezi-Park breitet sich Nervosität aus.

Am Ende des Parks stehen Dutzende von Einsatzkommandos und Wasserwerfer. Die Polizisten tragen Helme und haben Tränengaspistolen dabei. Hinter den Kommandos in Uniform stehen Dutzende Männer in Zivilkleidung. Sie haben die gleichen Helme auf und Plastikschilde mit der Aufschrift »Polizei« in der Hand. Als es dunkel ist, geht es los. Zuerst schlagen die Einsatzkräfte auf dem Taksim zu. Die Polizisten knüppeln die Demonstranten vom Platz. Wasserwerfer rücken vor, die Luft ist voller Tränengas.

Hotels sind Fluchtpunkte

Wer das Gelände nicht verlassen kann, und das ist nicht einfach, bekommt einiges ab – Glück hat, wen nur das Tränengas trifft. Die Aktivisten am Anfang der Zeltstadt bekommen die Knüppel zu spüren. Mit den Polizisten kommen die Bulldozer und Wegräumer auf den Taksim-Platz. Die türkischen Ableger von NTV und CNN berichten bis in die frühen Morgenstunden auch von Protesten in Ankara und Izmir live.

Wer von den Protestierenden es geschafft hat, in eines der Hotels am Ende des Gezi-Parks zu fliehen, kann das in der Bar oder der Lobby verfolgen. Am Rande des Parks hat sich eine ganze Reihe von Luxushotels angesiedelt. Das Hotelpersonal ist auf die tränengasgeschädigten Besucher eingestellt. In den Lobbys liegen Zitronen und Servietten. Mit Zitronensaft beträufelte Tücher mildern den Schmerz. »Die Geschäfte laufen schlecht«, sagt ein Barmann im auf Scheichbesuch spezialisierten Hotel »Rixos«. Trotzdem ist man zu den Aktivisten nett, wie auch in anderen Hotels und Bars. Gegen 21.30 Uhr zeigt NTV die menschenleere Zeltstadt im Gezi-Park. Wenig später beginnen die Einsatzkräfte, die provisorischen Behausungen, Tische und Sitzgelegenheiten zu Müllbergen zusammen zu schieben. Zur gleichen Zeit zerstreut die Polizei immer wieder Gruppen von Protestierenden. Auf der Kleidung einiger Aktivisten ist Blut zu sehen, manche haben Kopfwunden. In den Straßen rund um den Taksim-Platz finden die ganze Nacht regelrechte Straßenschlachten statt. Der Reporter von NTV kreuzt regelmäßig nach dem Geschehen dort auf und berichtet live.

Vor dem Hotel »Rixos« bauen Aktivisten eine Barrikade aus Müllcontainern. Schnell rücken Einsatzkräfte an. Immer wieder sättigt sich die Luft mit Tränengas, hier und in anderen Straßen des Viertels. Viele Menschen sitzen in Bars oder Restaurants fest und wagen sich nicht vor die Tür. Weit kämen sie ohnehin nicht, denn die Polizei hat Straßen abgesperrt.

Nachdem sie die Nachricht von der Räumung des Gezi-Parks gehört haben, wollen viele Istanbuler in die Innenstadt. Doch die Polizei sperrt den Weg. Die Brücke, die Asien und Europa verbindet, ist dicht. Im Stadtteil Taksim geht gar nichts mehr. Die U-Bahn ist geschlossen, sämtliche Wege zum Taksim-Platz von der Polizei abgeriegelt.

Reste für die Müllabfuhr

Sonntagmorgen in Istanbul. Die Polizeipräsenz ist immer noch enorm. Der Gezi-Park bietet einen deprimierenden Anblick. Wo gestern noch Zelte standen und die türkische Demokratiebewegung feierte, herrscht Öde. Müllarbeiter und Polizisten haben das Gelände besetzt. Nichts erinnert mehr an die sympathische bunte Gemeinschaft, die hier nicht nur für, sondern selbst ein freies Leben in Vielfalt demonstriert hat.

** Aus: neues deutschland, Montag, 17. Juni 2013


Erdogan mobilisiert Konservative

Türkisch-nationalistische Massen verstehen den Aufstand ohnehin nicht

Von Jan Keetman ***


Nachdem es ihm nicht gelungen war, die am Istanbuler Gezi-Park spontan entstandene Protestbewegung durch einige Zugeständnisse wieder auf eine reine Bewegung von Parkschützern zu reduzieren, hat der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan erneut zur Niederschlagung der Proteste angesetzt. Die Räumung des Parks und die Auseinandersetzungen in Istanbul in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag waren nur der Anfang. Der Gouverneur von Ankara hat faktisch ein Demonstrationsverbot über die türkische Hauptstadt verhängt, auch wenn er es nicht so nennt. Tausende Polizisten aus den hauptsächlich von Kurden bewohnten Städten im Osten des Landes wurden nach Istanbul geflogen. Von der Zollbehörde der Hauptstadt wurden 350 Beamte abgezogen. Der für die Beziehungen zur Europäischen Union zuständige Minister Egemen Bagis hat angekündigt, dass jeder, der noch am Taksim demonstrieren würde, »leider« vom Staat als Terrorist angesehen werden müsse. Während Gegendemonstranten folglich als »Terroristen« gebrandmarkt werden, organisiert Erdogans Partei AKP Riesenaufmärsche für den Ministerpräsidenten.

Dass eine gut organisierte Partei von der Größe der AKP dies kann, darf ebenso wenig verwundern wie die Tatsache, dass Erdogan nach wie vor viele Anhänger im eigenen Lande hat. Doch interessant ist, dass er offenbar erstmals auch Unterstützung von außerhalb seiner Partei bekommt. Bei seiner Massenkundgebung in Ankara erschienen Unterstützer mit Transparenten, auf denen die drei Halbmonde der Partei der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) zu sehen waren. Und Erdogan grüßte sie ausdrücklich. Ebenso grüßte er Demonstranten der religiösen Glückseligkeitspartei (SP) und solche der islamistisch-nationalistischen Partei der Großen Einheit (BBP).

Für Erdogan wichtig und zugleich politisch aufschlussreich ist die Unterstützung durch die ultranationalistische MHP, immerhin die drittgrößte Partei der Türkei. Noch vor Kurzem war die MHP scharf von Erdogan abgerückt – wegen der Verhandlungen mit Abdullah Öcalan, dem gefangenen Führer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Doch nun haben die Kurden nicht der Versuchung widerstanden, sich den Protesten anzuschließen.

Ohnehin ist fraglich, wie es mit der Lösung der Kurdenfrage weitergehen könnte. Den ersten Schritt hat die PKK mit dem Beginn des Abzugs ihrer Kämpfer und Kämpferinnen aus der Türkei getan. Der zweite Schritt, betont der türkische Soziologe und Journalist Yücel Özdemir, müsste eine Verfassungsänderung sein. Es zeichnet sich aber nicht ab, wie eine solche Änderung des Grundgesetzes, in die Erdogan wohl auch noch dieses und jenes nach seinem Geschmack packen würde, durchs Parlament kommen sollte. Um ein Referendum über eine Verfassungsänderung einzuleiten, bräuchte der Regierungschef mindestens 60 Prozent der Stimmen im Parlament. Wenn Erdogan nun plötzlich Unterstützung von der MHP bekommt, kann man daraus eigentlich nur eines folgern: Die rechten Nationalisten sind davon überzeugt, dass der Ministerpräsident von seinem Kurdenprojekt abrücken wird. Und so sieht es aus.

Der Protest in Istanbul ist zwar sehr farbenreich, aber er trägt – insbesondere wenn man aufs ganze Land schaut – weitgehend ein laizistisch-westliches, alewitisches und kurdisches Gesicht. Die Türkei ist aber weitgehend konservativ, sunnitisch-religiös und türkisch-nationalistisch. Diese Massen, die den Aufstand kaum verstanden haben, die die Bilder vielleicht abgeschreckt haben und die von einer Erdogan weitgehend ergebenen Presse informiert oder eben nicht informiert wurden, mobilisiert der große Polarisierer Erdogan nun.

*** Aus: neues deutschland, Montag, 17. Juni 2013


Haben Kurden wieder Anlass zur Furcht?

Der türkische Parlamentsabgeordnete Ertugrul Kürkcü (BDP) glaubt nicht daran ****


Als Abgeordneter des türkischen Parlaments waren Sie vor der Erstürmung des Lagers im Gezi-Park. Welche Eindrücke hatten Sie?

Es gab dort Leute, die seit mehr als zwei Wochen dabei waren. Manche kamen aber auch nur für einen Tag vorbei – aus dem ganzen Land. Das war eine Art Wallfahrtsort für alle in der Türkei geworden, die Freiheit wollen. Im Laufe der Zeit waren vielleicht drei bis vier Millionen Menschen dort, wobei man natürlich nicht vergessen darf, dass Istanbul sehr groß ist.

Was für Menschen hatten sich dort versammelt?

Auffällig war, dass mehr als die Hälfte der Demonstranten Frauen waren. Das gab es noch nie in der Türkei. Neben Studenten waren auch sehr viele Arbeiter da, was ebenfalls ungewöhnlich ist, weil Gewerkschaften in meinem Land fast keinen Einfluss haben. Etablierte politische Strukturen spielten da keine Rolle. Es gab auch keine wirtschaftlichen oder sozialen Forderungen. Die Leute gehen auf die Straße, weil sie selbstbestimmt leben wollen.

Haben die Geschehnisse einen Einfluss auf die Bemühungen zur Befriedung des Konflikts zwischen der Regierung und den Kurden?

Im Kurdengebiet gab es in letzter Zeit kaum noch Auseinandersetzungen. Daher war überhaupt erst Luft dafür, über Fragen zu sprechen, die bisher wegen des Konflikts hintan standen. In den kurdischen Städten ist es bisher sehr ruhig geblieben. Die Menschen haben einfach Angst, die Erfolge der letzten Zeit zu gefährden. Andererseits spielten die Kurden bei den Protesten im Westen der Türkei, also außerhalb des angestammten Siedlungsgebiets, eine führende Rolle. Sowohl der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan als auch der BDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas haben die Proteste begrüßt. Sie haben allerdings davor gewarnt, dass die Kemalisten zu großen Einfluss bekommen.

Befürchten Sie einen Abbruch des Friedensprozess?

Ich schließe das eigentlich aus. In Iran, Irak und Syrien sind die Kurden sehr stark, Erdogan möchte da keine neuen Auseinandersetzungen, und auch die jetzige Militärführung möchte den Konflikt beenden. Allerdings gibt es einen Stillstand bei den Verhandlungen zwischen Guerilla und Armee. Wir von der BDP haben gefordert, dass das Parlament auf die Sommerpause verzichtet, um Verfassungs- und Gesetzesänderungen zu beschließen, die den Kurden Sicherheit geben würden. Das hat die AKP leider abgelehnt. Es kann natürlich sein, dass die Bevölkerung nicht so lange warten will und es wieder einen Aufstand gibt. Allerdings hat die Türkei auch wegen des arabischen Frühlings großes Interesse, den Konflikt zu lösen und als starke Macht dazustehen.

Fragen: Nicolas Šustr

**** Aus: neues deutschland, Montag, 17. Juni 2013


Wo bleibt das Stoppzeichen aus Deutschland?

Die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen (LINKE) über Solidarität mit der türkischen Opposition *****


Der Gouverneur von Istanbul sagt, man habe »illegalen Gruppierungen« genügend Zeit zur Flucht gelassen. Wen meint er?

Als ich im Gezi-Park war, sah ich Tausende Menschen, ältere, jüngere, Eltern kauften ihren Kindern Süßigkeiten. Es gab Musik, die Leute tanzten. Es war eine Feststimmung. Das Bild, das die Regierung zu zeichnen versucht, ist falsch. Und auch die Aussage, man habe den Leuten genügend Zeit zur Flucht gegeben, ist ein Märchen.

Laut Regierung gab es viele Gewaltbereite ...

Ich habe auf der Seite der Leute im Gezi-Park keinerlei Gewaltbereitschaft gespürt.

Die Opposition ist sehr weit gefächert. Was verbindet die Menschen, was eint sie im Protest?

Sie sind gegen die autoritäre AKP-Regierung. Sie protestieren gegen den Führungsstil von Erdogan. Auch ist die soziale Situation vieler Menschen trotz des Wirtschaftswachstums in der Türkei verzweifelt und verschärft sich weiter. Zudem einigt die Menschen eine Sehnsucht nach Frieden, sowohl innerhalb der Türkei wie nach außen. Sie wollen keinen Krieg gegen Syrien und erst recht keine Unterstützung islamistischer Rebellengruppen dort.

Wie groß ist die Solidarität mit den Menschen, die Erdogan die Stirn bieten?

Es gibt große Sympathien mit den Protestierenden. Wir haben vor dem Sturm der Polizei mit den Vertretern der Taksim-Solidarität gesprochen. Ich habe gefragt, wie wir helfen können. Man hat mir klar erklärt, dass man keine Geldspenden annehmen würde. Das Camp war sehr basisdemokratisch organisiert. Jeden Tag hat man Listen von Dingen angefertigt, die man braucht. Die werden im Internet veröffentlicht. Die Menschen aus der Gegend von Istanbul helfen, wo sie können. Egal ob es um Lebensmittel geht, um Medikamente oder Klamotten, Schuhe, Zelte, Decken ... Man hat also gar keinen Grund, von außen Hilfe zu erbitten.

Nun sagt aber die Regierung, der Protest sei vom Ausland gesteuert und wird auch von dort unterstützt.

Das kann ich überhaupt nicht bestätigen. Ich war vor zwei Wochen schon einmal hier, das war nach den ersten großen Polizeiangriffen. Auch damals gab es schon die Behauptung, alles sei vom Ausland in die Türkei getragen worden. Ich war die erste Parteipolitikerin, die auf dem Plenum der Taksim-Solidarität reden durfte. Schon daran lässt sich ablesen, dass die Behauptung, irgendwelche fremden Parteien würden alles steuern. Unsinn ist. Anders lautende Behauptungen sind Diffamierungs- und Kriminalisierungsversuche der türkischen Regierung. Man will Menschen, die die Freiheit lieben, die sich für Menschenrechte einsetzen, verunglimpfen.

Wie lange werden Sie noch in der Türkei bleiben?

Eigentlich wollte ich am Sonntag zurückfliegen. Doch jetzt bleibe ich. Gerade hat die Regierung damit begonnen, die öffentlichen Verkehrsmittel einzusetzen, um die Parteigänger der AKP zu einer Erdogan-Demonstration zu karren. Es gibt aber auch den Versuch der Opposition, heute massiv mit einer Million Menschen auf dem Taksim-Platz Flagge zu zeigen. Doch der Platz ist gesperrt. Die Gefahr ist sehr hoch, dass die Polizei alles weiter eskaliert. Es muss von Deutschland aus auch dringend ein Stoppzeichen wie die Aussetzung der Militärkooperation geben, sonst – befürchte ich – wird das in Ankara als grünes Licht für ein Verschärfung bis hin zum Bürgerkrieg verstanden.

Fragen: René Heilig

***** Aus: neues deutschland, Montag, 17. Juni 2013


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