Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Sturm überm Gezi-Park

"Diese Eskalation war geplant"

Von Fabian Köhler, Istanbul *

Ein zerstörtes Camp und verstörte Demonstranten – das ist die Bilanz des mitternächtlichen Polizeieinsatzes im Istanbuler Gezi-Park.

Nach fast 24 Stunden Straßenschlacht ist im Istanbuler Gezi-Park wieder Ruhe eingekehrt. Einige Demonstranten reisen erschöpft ab. Andere bauen ihr zerstörtes Lagen wieder auf – und die Barrikaden gegen den nächsten Polizeiangriff gleich mit.

Es ist ein trauriger Mittwochmorgen im Park. Als Meral im Regen vor ihrem Zelt beim Frühstück sitzt, blickt sie zum ersten Mal seit zwei Wochen auf freie Plätze in der Anlage. »Ein Sturm ist über uns hereingebrochen«, sagte sie und meint nicht das Unwetter, welches am Morgen den letzten Rest Tränengas aus der Luft wusch.

Vom Dienstag auf Mittwoch erlebte Istanbul eine der gewaltsamsten Nächte seit Beginn der Proteste vor zwei Wochen. Bis in die Morgenstunden lieferten sich Tausende Demonstranten Straßenschlachten mit der Polizei. Das »Ende der Toleranz«, von dem der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan zuvor gesprochen hatte, war faktisch der Aufruf zu massiver Gewalt.

»So etwas habe ich noch nie erlebt«, sagt Hassan mit roten Augen. Neben der verwüsteten Baustelle westlich des Parks wurde die Einkaufsstraße Istiklal zum Zentrum des Protests. Fußallfans wie der 24-jährige Besiktas-Anhänger gelten als eine Art Elitetruppe des Protests. Blumenkübel, Abwasserrohre von einer Baustelle, selbst ein aus dem Boden gerissenes Wachhäuschen werden zu Barrikaden gestapelt. Aus den Gewehren der Polizei fliegen unterdessen unaufhörlich Tränengasgranaten. Selbst Passanten sieht man nur noch mit Atemmaske.

Während die ganze Nacht aus allen Teilen Istanbuls neue Unterstützer strömen, kritisieren manche aber auch den Protest. Als der Übertragungswagen eines Fernsehsenders in Flammen aufgeht und der dunkle Qualm über ganz Istanbul zu sehen ist, applaudieren Dutzende Passanten dem Einsatz des Polizei-Wasserwerfers.

»Geht doch bitte nach Hause« ist nicht nur die zynische Forderung aus den Lautsprecherwagen der Polizei, sondern auch die Forderung vieler Menschen im Istanbuler Stadtteil Beyoglu.

»So unfähig können sie nicht sein. Diese Eskalation war geplant«, sagt der Anarchist Kazim. Er ist am Mittwochmorgen damit beschäftigt, im Camp einen Versorgungsstand zu reparieren. Hier wurden Kekse, Medikamente und Tränengasmasken verteilt. Nun liegt alles zwischen zerrissenen Zeltplanen und gebrochenen Gestängen. Stundenlang lässt die Polizei am Dienstag einige gewalttätige Demonstranten gewähren. Immer wieder schleuderten Vermummte Molotowcocktails und Steine auf die Polizisten. »Keiner von uns weiß, wer das war, und anscheinend wurde auch keiner von ihnen festgenommen«, sagt Kazim. »Die Polizei wollte, dass es zu Unruhen kommt, um einen Vorwand zu haben, gegen uns vorzugehen«, fügt er hinzu. Derlei Vermutungen werden gestützt von Fotos, auf denen zwei Demonstranten offenbar Polizei-Funkgeräte in den Taschen tragen.

Zumindest zum Teil ging dieser Plan auf. Trotz gegenteiliger Versprechen riss die Polizei am Dienstagabend Teile des Parks ab. »Wir haben Glück, dass niemand totgetrampelt wurde«, erinnert sich Kazim. Mit Schallgranaten löste die Polizei zwischenzeitlich auf dem Taksim-Platz eine Massenpanik aus. Der einzige freie Fluchtort für Tausende Demonstranten war der bereits überfüllte Gezi-Park. »Danach haben sie uns auch noch mit Tränengas eingedeckt«, sagt Kazim über die Stunden, in denen die Sanitätstruppen des Camps fast minütlich Verletzte durch den Park trugen.

Am Morgen danach wollen nicht alle mit dem Protest weitermachen. Viele haben in der Nacht aus Angst ihre Zelte abgebaut, die Gestänge für den Barrikadenbau gespendet. »Lange kann ich diesen Terror nicht mehr ertragen«, sagt auch Meral, während entfernt schon wieder Sprechchöre nach dem Rücktritt Erdogans zu hören sind: »Tayyip istifa« – »Tayyip, hau ab!« Am Taksim-Platz klappen Touristen unterdessen ihre Schirme zusammen und posieren vor Wasserwerfern.

Das Unwetter hat sich verzogen. Das nächste kommt bestimmt.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 13. Juni 2013


Der Premier und die Topfschläger

Groteske Regierungsauftritte – hat Erdogan den Kontakt zur Wirklichkeit verloren?

Von Jan Keetman **


Erst das Dialogangebot der türkischen Regierung, dann Knüppelgarden. Ist das ein Ausdruck perfider Strategie der türkischen Regierung oder zunehmender Kopflosigkeit?

Noch am Montag setzte die Regierung auf Entspannung, so schien es zumindest. Da kündigte Bülent Arinc, Stellvertreter von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, ein Gespräch des Premiers mit Vertretern der Protestbewegung an. Am nächsten Morgen begann die Polizei die Räumung des Taksim-Platzes in Istanbul. Fast gleichzeitig hielt Erdogan eine im Fernsehen übertragene Rede, in der er zwischen wahren Umweltschützern und denen unterschied, die mit ihrem Protest ganz anderes wollen. Diese bestünden aus ganz kleinen Gruppen, die sich als Umweltschützer tarnten, aber gleichzeitig »Lärmbelästigung« verursachten. Und Lärmbelästigung sei doch schließlich auch ein Umweltproblem. Offenbar spielte Erdogan auf das Schlagen von Töpfen, Pfannen und Löffeln an, das jeden Abend um 21 Uhr in Istanbuler Stadtvierteln aus Protest gegen seine Regierung ertönt.

Indessen begründete der Gouverneur von Istanbul, Hüseyin Avni Mutlu das Einschreiten der Polizei am Taksim damit, dass das Andenken an den Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk gewahrt werden müsse. Am Taksim-Platz befindet sich ein Atatürk-Kulturzentrum, und auf dem Platz steht ein Denkmal des Gründers der modernen Türkei. Für die Leute auf dem Platz ist die Aussage des Gouverneurs eine ziemliche Frechheit – ist es doch gerade die Regierung, die bestrebt ist, das Erbe Atatürks zu verdrängen.

Gouverneur Mutlu hat es ohnehin rasch geschafft, seinen Ruf zu ruinieren. Den Besetzern des Gezi-Parkes am Taksim hatte er getwittert, dass er gerne mit ihnen zusammen morgens die Stimmen der Vögel hören würde… Der selbe Herr mit dem graumelierten Haar und gepflegtem Schnurrbart ließ nun den Taksim-Platz gewaltsam räumen.

Doch der Tag sah noch mehr grotesk-komische Auftritte. Da verwarnte Ali Babacan, der mit seinen 46 Jahren schon zweimal Wirtschafts- und einmal Außenminister der Türkei war und derzeit zu den Stellvertretern Erdogans gehört, allen Ernstes im Parlament die Banken wegen der Demonstrationen in der Türkei. Ob er es auch selbst glaubt, dass die Leute auf der Straße von der Finanzbranche dirigiert werden, um Spekulationsgewinne abzuschöpfen, wie sein Chef Erdogan behauptet hat?

Natürlich präsentieren Politiker gerne alle möglichen Sündenböcke. Doch bei Erdogan scheinen schier unmögliche Theorien über die Ursachen des Aufruhrs mehr zu sein als bloße Zweckbehauptungen. Anscheinend hat Erdogan den Kontakt zur Wirklichkeit einfach verloren.

Anders ist die Entschlossenheit, mit der er seinen politischen Zug an die Wand fährt, kaum noch zu verstehen. Nicht einmal auf sein Bauprojekt am Taksim-Platz, für dessen Gestaltung er eigentlich gar nicht zuständig ist, hat Erdogan bisher aufgegeben. Dabei ist er ein Politiker mit langer Erfahrung in schwierigen Situationen.

Die seiner Partei handzahm gemachten Medien folgen ihm und mögen damit den Realitätsverlust des Premiers mitverursacht haben. Indessen laufen die Kunden den traditionellen Medien mehr und mehr davon. Das Internet wird immer wichtiger, manch bisher kleinere Publikation kann ihre Auflagen enorm steigern.

So schaffte die kleine linke Zeitung Birgün in einer Woche einen Auflagensprung von 49 Prozent. Ähnliches gilt für Fernseh- und Radiosender. Es gibt sogar einen neuen Fernsehsender im Internet: CapulTV. Das Wort capul bedeutet »Raub« und bezieht sich auf capulcu »Räuber« oder auch »Marodeur«, Erdogans Lieblingswort für die Demonstranten.

Doch mitunter wissen die Leute auch einfach so, was los ist. Die U-Bahnstrecke zum Taksim ist zwar immer wieder gesperrt, doch wenn ein Zug durchkommt, klatschen die Wartenden. Der Applaus gilt denen, die zur Demo kommen. Diese klatschen dann den Wartenden, denn diese kommen von der Demo. Und jeden Abend um 21 Uhr dröhnt das Viertel vom Lärm aneinander geschlagener Töpfe, Pfannen und Löffel – eine halbe Stunde lang. Ob diese Leute alle von ihrer Bank einen Scheck bekommen haben, damit sie das machen?

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 13. Juni 2013


Kriegsschauplatz Türkei

Brutale Gewalt gegen Hunderttausende Demonstranten in Istanbul. Kritik an Erdogan im Bundestag

Von André Scheer ***


Mit »Terroristen« ist der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan am Mittwoch in Ankara zusammengekommen, um über die seit fast zwei Wochen anhaltende Protestwelle zu sprechen. Wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete, bestand die Delegation, die sich der islamisch-konservative Politiker eingeladen hatte, aus Studenten, Akademikern und Künstlern. Praktisch im selben Atemzug warf das Sprachrohr der Regierung den Protestierenden vor, »terroristischen Organisationen« anzugehören.

Das Taksim-Bündnis, das den Protest vor 17 Tagen begonnen hatte, um eine von der Regierung geplante Zerstörung des an den Platz im Zentrum Istanbuls angrenzenden Gezi-Parks zu verhindern, wies das Treffen am Mittwoch als Inszenierung zurück. Die Teilnehmer sprächen nicht für die Bewegung und gehörten ihr nicht an, erklärten Vertreter gegenüber der Hürriyet Daily News. Tatsächlich befanden sich unter den angeblichen Protestlern sogar Mitglieder von Erdogans eigener Partei AKP, berichtete Today’s Zaman. Es könne keine Gespräche geben, solange die Polizei weiter mit Gewalt gegen die Protestierenden vorgehe, unterstrich das Bündnis.

Am Dienstag und in der Nacht zum Mittwoch war die türkische Polizei mehr als 18 Stunden lang brutal gegen Hunderttausende Demonstranten vorgegangen, die sich auf dem Taksim-Platz versammelt hatten. Zahlreiche Menschen wurden verletzt; unbestätigten Informationen zufolge sollen auch mehrere Menschen getötet worden sein. Auf Fernsehbildern war zu sehen, wie die Wasserwerfer sogar Jagd auf Rollstuhlfahrer machten.

Solche Aufnahmen will die türkische Zensurbehörde, der Oberste Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK), künftig verhindern. Die Fernsehsender Halk-TV, Ulusal-TV, Cem-TV und Em-TV wurden wegen ihrer Berichterstattung über die Proteste mit Geldstrafen belegt. Die Liveübertragungen vom Taksim-Platz gefährdeten Kinder und Jugendliche, hieß es zur Begründung.

Unterdessen schwingen sich in Berlin die Bundestagsparteien zu Hütern der Menschenrechte auf. Auf Antrag der Regierungsfraktionen debattierte das Parlament am Mittwoch in einer »Aktuellen Stunde« über die Ereignisse in der Türkei. Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) forderte dabei, die Modernisierung des Landes dürfe sich nicht auf die Wirtschaft beschränken. Die Protestbewegung sei die wohl größte Bewährungsprobe Erdogans seit seinem Amtsantritt. Die Linken-Abgeordnete Sevim Dagdelen kritisierte hingegen die fortgesetzte polizeiliche, militärische und geheimdienstliche Kooperation der Bundesrepublik mit Ankara. »Das ist meines Erachtens angesichts dieser harschen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei unverantwortlich. Diese Kooperation mit der AKP-Regierung muß beendet werden.« Dazu gehöre auch, die »Patriot«-Raketen der Bundeswehr aus der Türkei abzuziehen.

Die Verletzung des Demonstrationsrechts am vorletzten Wochenende in Frankfurt am Main bei der polizeilichen Einkesselung der »Blockupy«-Demonstration wurde nur durch mehrere Anfragen von Linke-Abgeordneten im Rahmen der Fragestunde behandelt.

Diskrete Unterstützung erhält Erdogan hingegen aus Israel. Wie die Hürriyet Daily News am Mittwoch meldete, traf am Montag in Ankara der Chef des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad, Tamir Pardo, mit dem Vizechef des türkischen Geheimdienstes, Hakan Fidan, zusammen. Offizielle Themen der Unterredung waren die Lage in Syrien und im Iran – ob auch die Proteste vor der eigenen Haustür die Herren bewegten, wurde nicht bekannt.

*** Aus: junge Welt, Donnerstag, 13. Juni 2013


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