Komplott gegen den Vizepremier?
Türkisches Militär muss seine geheimsten Archive öffnen
Von Jan Keetman, Istanbul *
Seit Tagen wühlt die Staatsanwaltschaft im geheimsten Archiv des
Militärs in Ankara, um ein mysteriöses Mordkomplott gegen den
stellvertretenden Ministerpräsidenten Bülent Arinc aufzuklären. Über den
eigentlichen Anlass hinaus wird die Tatsache der Durchsuchung als
weitere Schwächung der Militärs gewertet.
Es begann wie in einem Agententhriller: Am Abend des 19. Dezember wird
die Polizei auf zwei Personen aufmerksam, die sich unweit der Wohnung
des stellvertretenden Ministerpräsidenten Bülent Arinc verdächtig
verhalten. Einer der beiden hat ein Stück Papier bei sich, das er zu
verschlucken versucht, doch die Beamten können es ihm entwinden. Auf dem
Papier steht die Adresse des Vizepremiers. Bei der Feststellung der
Personalien erweist sich, dass es sich bei den Verdächtigen um einen
Oberst und einen Major einer Spezialeinheit in Ankara handelt.
Zunächst werden die beiden wieder freigelassen, doch die Geschichte
zieht ihre Kreise. In der Presse kommt der Verdacht auf, dass das
Militär die Ermordung von Bülent Arinc plante. Arinc ist nach Recep
Tayyip Erdogan der wohl einflussreichste Politiker in der regierenden
Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), er steht der stärker
islamisch ausgerichteten Richtung in der AKP nahe. Eine weniger
mörderische Version besagt, die Militärs hätten Bülent Arinc lediglich
ausforschen wollen.
Einige Tage lang schwiegen die Uniformierten zu dem Vorfall, dann aber
ging der Generalstab zur Verteidigung über und erklärte, die beiden
Offiziere seien einem Mitarbeiter des Militärs auf der Spur gewesen, der
geheime Unterlagen weitergegeben haben soll. Generalstabschef Ilker
Basbug suchte Ministerpräsident Erdogan auf und sprach zwei Stunden mit
ihm, anderthalb Stunden lang ließ sich auch Staatspräsident Abdullah Gül
von Basbug über den Fall informieren.
Nicht überzeugt von der Erklärung des Militärs war indes Bülent Arinc
selbst, und auch die Staatsanwaltschaft ermittelte weiter. Am
vergangenen Freitag (25. Dez.) wurden die verdächtigen Offiziere zusammen mit sechs
Kameraden erneut festgenommen. Die Durchsuchungen begannen.
Zunächst aber verweigerte das Militär den Zutritt zu einigen Räumen,
weil dort Staatsgeheimnisse aufbewahrt würden. Was eigentlich als
Staatsgeheimnis gilt, ist juristisch unklar, ein Gesetzentwurf dazu ist
seit zwei Jahren in Vorbereitung. Aufgrund eines Gerichtsbeschlusses
muss das Militär jedoch alle Dokumente vorweisen. Ilker Basbug sprach
daraufhin noch einmal, diesmal ganze dreieinhalb Stunden, mit
Regierungschef Erdogan. Zweifellos ging es um Wichtiges. Noch vor nicht
allzu langer Zeit stand das Militär in der Türkei völlig außerhalb der
üblichen Rechtsordnung. Diese Zeiten sind wohl endgültig vorbei. So darf
man gespannt darauf sein, was die Staatsanwälte schließlich im
Militärarchiv finden werden. So etwas wie einen neuen Putschplan
erwarten nicht wenige.
Aber auch andere ungesetzliche Aktivitäten des Militärs könnten ans
Licht kommen. So wurden gleichzeitig, aber in einem ganz anderen
Zusammenhang bei einem Militärangehörigen Auszüge aus einem Register
gefunden, das Personen innerhalb und außerhalb der Streitkräfte mit
ihren religiösen und politischen Neigungen, Lebensgewohnheiten sowie
auffälligen verwandtschaftlichen Beziehungen auflistet. Besonderen Wert
legten die Autoren der Liste offenbar darauf, Linke und Mitglieder der
religiösen Minderheit der Alewiten in den Streitkräften auszumachen.
Aber auch sonst ist die Liste voller Verdächtigungen und Vorurteile.
Etwa so: »Major... Religionsfeind, Atheist«; »Alkoholiker, sittenlos mit ...
befreundet«; »Schwiegervater war (beim linken Ministerpräsidenten
Bülent) Ecevit Leibwächter«; »seine Frau hat Krebs; er trifft sich mit
Abgeordneten der DSP (Partei der Demokratischen Linken)«; »in alles
steckt er seine Nase, alles bringt er durcheinander. Ein ziemlicher
Taugenichts, niemand mag ihn. Seine Ehefrau sammelt in Amerika Eindrücke.«
* Aus: Neues Deutschland, 31. Dezember 2009
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