Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Komplott gegen den Vizepremier?

Türkisches Militär muss seine geheimsten Archive öffnen

Von Jan Keetman, Istanbul *

Seit Tagen wühlt die Staatsanwaltschaft im geheimsten Archiv des Militärs in Ankara, um ein mysteriöses Mordkomplott gegen den stellvertretenden Ministerpräsidenten Bülent Arinc aufzuklären. Über den eigentlichen Anlass hinaus wird die Tatsache der Durchsuchung als weitere Schwächung der Militärs gewertet.

Es begann wie in einem Agententhriller: Am Abend des 19. Dezember wird die Polizei auf zwei Personen aufmerksam, die sich unweit der Wohnung des stellvertretenden Ministerpräsidenten Bülent Arinc verdächtig verhalten. Einer der beiden hat ein Stück Papier bei sich, das er zu verschlucken versucht, doch die Beamten können es ihm entwinden. Auf dem Papier steht die Adresse des Vizepremiers. Bei der Feststellung der Personalien erweist sich, dass es sich bei den Verdächtigen um einen Oberst und einen Major einer Spezialeinheit in Ankara handelt.

Zunächst werden die beiden wieder freigelassen, doch die Geschichte zieht ihre Kreise. In der Presse kommt der Verdacht auf, dass das Militär die Ermordung von Bülent Arinc plante. Arinc ist nach Recep Tayyip Erdogan der wohl einflussreichste Politiker in der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), er steht der stärker islamisch ausgerichteten Richtung in der AKP nahe. Eine weniger mörderische Version besagt, die Militärs hätten Bülent Arinc lediglich ausforschen wollen.

Einige Tage lang schwiegen die Uniformierten zu dem Vorfall, dann aber ging der Generalstab zur Verteidigung über und erklärte, die beiden Offiziere seien einem Mitarbeiter des Militärs auf der Spur gewesen, der geheime Unterlagen weitergegeben haben soll. Generalstabschef Ilker Basbug suchte Ministerpräsident Erdogan auf und sprach zwei Stunden mit ihm, anderthalb Stunden lang ließ sich auch Staatspräsident Abdullah Gül von Basbug über den Fall informieren.

Nicht überzeugt von der Erklärung des Militärs war indes Bülent Arinc selbst, und auch die Staatsanwaltschaft ermittelte weiter. Am vergangenen Freitag (25. Dez.) wurden die verdächtigen Offiziere zusammen mit sechs Kameraden erneut festgenommen. Die Durchsuchungen begannen.

Zunächst aber verweigerte das Militär den Zutritt zu einigen Räumen, weil dort Staatsgeheimnisse aufbewahrt würden. Was eigentlich als Staatsgeheimnis gilt, ist juristisch unklar, ein Gesetzentwurf dazu ist seit zwei Jahren in Vorbereitung. Aufgrund eines Gerichtsbeschlusses muss das Militär jedoch alle Dokumente vorweisen. Ilker Basbug sprach daraufhin noch einmal, diesmal ganze dreieinhalb Stunden, mit Regierungschef Erdogan. Zweifellos ging es um Wichtiges. Noch vor nicht allzu langer Zeit stand das Militär in der Türkei völlig außerhalb der üblichen Rechtsordnung. Diese Zeiten sind wohl endgültig vorbei. So darf man gespannt darauf sein, was die Staatsanwälte schließlich im Militärarchiv finden werden. So etwas wie einen neuen Putschplan erwarten nicht wenige.

Aber auch andere ungesetzliche Aktivitäten des Militärs könnten ans Licht kommen. So wurden gleichzeitig, aber in einem ganz anderen Zusammenhang bei einem Militärangehörigen Auszüge aus einem Register gefunden, das Personen innerhalb und außerhalb der Streitkräfte mit ihren religiösen und politischen Neigungen, Lebensgewohnheiten sowie auffälligen verwandtschaftlichen Beziehungen auflistet. Besonderen Wert legten die Autoren der Liste offenbar darauf, Linke und Mitglieder der religiösen Minderheit der Alewiten in den Streitkräften auszumachen. Aber auch sonst ist die Liste voller Verdächtigungen und Vorurteile. Etwa so: »Major... Religionsfeind, Atheist«; »Alkoholiker, sittenlos mit ... befreundet«; »Schwiegervater war (beim linken Ministerpräsidenten Bülent) Ecevit Leibwächter«; »seine Frau hat Krebs; er trifft sich mit Abgeordneten der DSP (Partei der Demokratischen Linken)«; »in alles steckt er seine Nase, alles bringt er durcheinander. Ein ziemlicher Taugenichts, niemand mag ihn. Seine Ehefrau sammelt in Amerika Eindrücke.«

* Aus: Neues Deutschland, 31. Dezember 2009


Zurück zur Türkei-Seite

Zurück zur Homepage