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Türkei geht erneut gegen Anwälte vor

Neun weitere Juristen inhaftiert

Von Thomas Schmidt *

Wieder haben türkische Behörden Anwälte wegen Terrorverdachts verhaftet. Viele von ihnen sind Mitglieder der Anwaltsvereinigung ÇHD, die sich vor allem durch juristischen Beistand in Prozessen gegen Menschenrechtsverletzungen hervortut.

Seit über einer Woche sitzen weitere neun türkische Anwälte wegen angeblicher Unterstützung einer terroristischen Vereinigung in Haft - eine Jahre andauernde Justizposse wird fortgesetzt. Nachdem die Staatsanwaltschaft Haftbefehle gegen 16 Anwälte erlassen hatte, wurden deren Wohnungen und Büros sowie die der türkischen Anwaltsorganisation ÇHD von der Polizei aufgebrochen. Die Suche nach Waffen war jedoch ergebnislos. Inzwischen bestätigte das Gericht, drei Anwälte seien frei gelassen worden. Vier werden weiter gesucht.

Bei der groß angelegten Aktion am 18. Januar hatte die Polizei in mehreren Städten insgesamt 85 Verdächtige aus dem linksradikalen Spektrum festgenommen. Nach Medienberichten waren unter ihnen neben Anwälten auch Lehrer und Studenten.

Es ist die zweite Welle von Massenverhaftungen türkischer Anwälte, die politische Angeklagte verteidigen. Im November 2011 wurden bereits 46 Juristen festgenommen, von denen 27 noch inhaftiert sind. Ihnen wird vorgeworfen, als Strafverteidiger Abdullah Öcalans Informationen weitergetragen und so Aktivitäten der verbotenen Kurischen Arbeiterpartei PKK organisiert zu haben. Ein Prozess begann im Juli 2012. Zahlreiche Beobachter aus dem Ausland haben daran teilgenommen und die unzumutbaren Prozessbedingungen scharf kritisiert. Jetzt wurden etliche Verteidiger der angeklagten Anwälte festgenommen.

Die Regierung begründet ihr Vorgehen mit dem Verdacht der Unterstützung der verbotenen Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C). Die Gruppe wird für mehrere Anschläge in der Türkei seit Ende der 70er Jahre verantwortlich gemacht. Sie steht, wie die PKK, auf der Terrorliste der EU, die jedoch juristisch äußerst umstritten ist und vom Europäischen Gerichtshof mehrfach für rechtswidrig erklärt wurde.

Die kurdische Partei für Frieden und Demokratie (BDP) wertete die neuen Verhaftungen als politisch motivierte Aktion gegen oppositionelle Stimmen: »Diese Operation zielt darauf, Tausenden Menschen eine juristische Verteidigung zu nehmen.«. Wie bereits im ersten Massenprozess gegen Anwälte werden diese in unzulässiger Weise mit ihren Mandanten gleichgesetzt. Die Verhaftungen richten sich offenbar auch gegen die ÇHD (Vereinigung Progressiver Anwältinnen und Anwälte in der Türkei), deren Präsident Selçuk Kozağaçlı zu den Inhaftierten gehört. Die ÇHD ist bekannt für die Verteidigung linker Aktivisten.

* Der Autor ist Rechtsanwalt und Generalsekretär der Europäischen Vereinigung von Juristinnen und Juristen für Demokratie und Menschenrechte in der Welt e.V.

Aus: neues deutschland, Montag, 28. Januar 2013


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