Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Kein Freispruch, aber frei

Türkisches Gericht entläßt den Schriftsteller und Menschenrechtler Dogan Akhanli

Von Albrecht Kieser, Istanbul *

Der Delinquent bekam die Gerichtsentscheidung nicht mehr mit. Die Soldaten zerrten ihn in der letzten Verhandlungspause in den vergitterten Gefangenenbus und transportierten ihn ab. Zehn Minuten später öffnete der Gerichtsdiener die Tür zum Vorraum und reichte die Entscheidung des Gerichts auf einem Zettel nach draußen. »Freilassung«. Der Jubel unter den etwa hundert Wartenden war groß, Freudentränen flossen, aber die Begeisterung erreichte den Gemeinten nicht mehr.

Der erfuhr erst nach zwei Stunden Fahrt in Handschellen vom durchaus überraschenden Ergebnis dieses Tages. In der Haftanstalt Tekirdag klärte ihn die Gefängnisleitung auf, daß er wieder gehen könne. Das Verfahren werde zwar am 9. März fortgesetzt, er sei jedoch ein freier Mann.

Ein denkwürdiger Spruch, den das Schwurgericht in Istanbul nach vierstündiger Verhandlung am Mittwoch gefällt hatte. Kein Freispruch ohne Wenn und Aber, sondern die Aufhebung der Untersuchungshaft und der Verzicht auf jede aufenthaltsbeschränkenden Auflagen. Obwohl die Staatsanwaltschaft der vor sich hin siechenden Beweiskraft seiner Behauptungen auch während der mündlichen Verhandlung kein neues Leben einhauchen konnte, versetzte das Gericht seiner Anklage nicht den Todesstoß. Eine Verbeugung vor dessen Bemühen, einen Mann abzustrafen, der zwar kein strafrechtlich relevantes Delikt verübt hatte, der aber wegen seines aktiven Widerstands gegen die Militärdiktatur und seiner Aufarbeitung des Genozids an den Armeniern bei den türkischen Nationalisten im Justizapparat in Ungnade gefallen war.

Die Verteidigung hat diese Zusammenhänge hergestellt und im Gerichtssaal das Verfahren noch einmal als rechtsstaatliche Farce angegriffen. Staatsanwalt und Gericht mußten sich eine Nachhilfestunde in Sachen Strafprozeßordnung anhören – denn auch im türkischen Recht gilt z.B. die Unschuldsvermutung oder das Verbot, Aussagen, die unter Folter erzwungen wurden, in ein Verfahren einzubringen. Solche Grundsätze sind in diesem Verfahren gröblich verletzt worden. Allein deshalb hätte dieser erste Verhandlungstag mit einem Freispruch enden müssen.

Daß dem Gericht der Mut für diese Entscheidung fehlte, offenbart seine Beschränktheit: Um gegenüber den Hurrapatrioten das Gesicht zu wahren, beschloß es die Fortsetzung des Verfahrens. Um gegenüber der kritischen Öffentlichkeit, in der Türkei wie international, sein Gesicht zu wahren, ließ es den Angeklagten frei.

Den aus dem Geburtsort von Dogan Akhanli angereisten Menschen, seinen Freunden aus Istanbul und Deutschland, der internationalen Beobachterdelegation, unter ihnen Günter Wallraff, den Vertreterinnen der deutschen Botschaft, unter ihnen die Generalkonsulin Wagner und nicht zuletzt den Verteidigern war der Eiertanz des 11. Strafgerichts erst einmal Erfolg genug. Zu Recht. Ohne die erfolgreiche Solidaritätsarbeit zahlreicher Einzelpersonen und Organisationen, die diesen skandalösen Unrechtsfall massiv in die internationalen Medien gebracht hat, die türkischen zumal, hätte das Gericht nicht vortanzen müssen – es hätte als betonharte Gesinnungsjustiz weitergemacht wie während der vier Monate währenden Haft und Dogan Akhanli mindestens bis zum nächsten Verhandlungstag weiter in Haft gehalten.

Damit ist es gescheitert. Der Schriftsteller und Menschenrechtler kann gehen, wohin er will. Seine Freunde holten ihn noch in der Nacht aus dem 150 Kilometer entfernten Tekirdag zurück nach Istanbul. Dort, im pulsierenden Taxim, wurde bis in die frühen Morgenstunden gefeiert: Für den Freigelassenen und für die Freiheit der vielen anderen Inhaftierten in der Türkei.

* Aus: junge Welt, 10. Dezember 2010


Zurück zur Türkei-Seite

Zur Menschenrechts-Seite

Zurück zur Homepage