Von der Militärdiktatur zum Polizeistaat
Vor zehn Jahren gewann die islamisch-konservative AKP die türkischen Parlamentswahlen. Seitdem baut sie das Land streng religiös und neoliberal um
Von Nick Brauns *
Diyarbakir am Abend des 3. November 2002: Kurz nachdem im Fernsehen ein Erdrutschsieg der seit knapp einem Jahr bestehenden islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) bei den Parlamentswahlen verkündet wurde, gingen in unserem Stadtviertel in der kurdischen Metropole im Südosten der Türkei die Lichter aus. Dort waren wir als unabhängige Wahlbeobachter untergebracht. Dieser Stromausfall erscheint im Rückblick als dunkles Omen. Aus dem Stand hatte die AKP (Adalet ve Kalknma Partisi) 34,43 Prozent der Stimmen und – da bis auf die kemalistische Republikanische Volkspartei CHP alle anderen Parteien an der Zehn-Prozent-Hürde gescheitert waren – die absolute Mehrheit der Sitze erhalten. Damit konnte sie als erste religiöse Partei in der Geschichte der Republik eine Alleinregierung bilden. Die Kerngruppe ihrer Gründer, darunter der frühere Istanbuler Bürgermeister Recep Tayyip Erdogan, entstammte der radikalislamischen Tugendpartei. Sie war im Juni 2001 als Nachfolgepartei der 1997 vom Militär aus der Regierung verdrängten Wohlfahrtspartei verboten worden. Erdogan und seine Anhänger hatten ihre bislang vertretenen antiwestlichen Auffassungen über Bord geworfen und bekannten sich zu Demokratie, Marktwirtschaft, NATO-Mitgliedschaft und EU-Beitritt der Türkei. Sie erhielten Zulauf von Politikern verschiedener konservativer und nationalistischer Parteien.
Dem Wahlerfolg vorangegangen war im Februar 2001 die schwerste Wirtschaftskrise in der Geschichte der Republik. Gegen die als korrupt verschrienen etablierten Parteien präsentierte sich die AK-Partei (»ak« bedeutet auf Türkisch »weiß«) als saubere Alternative. Unterstützung erhielt die AKP durch das »grüne Kapital«. Diese frommen anatolischen Kapitalisten hatten von der nach dem Militärputsch von 1980 eingeleiteten neoliberalen Wende wirtschaftlich profitiert. Doch sie waren durch die laizistische Staatsbürokratie und den von dieser repräsentierten staatlichen Kapitalsektor von der politischen Macht ausgeschlossen. Der als »Mann aus dem Volk« erscheinende Erdogan, der als junger Mann für einen Fußballverein in einem Istanbuler Arbeiterviertel spielte und aufgrund des Zitierens eines bekannten islamistischen Gedichts 1998 eine Gefängnisstrafe verbüßen mußte, ist eine Identifikationsfigur für die aufstiegsorientierten anatolischen Mittelschichten.
Wurde die AKP im Westen aufgrund ihrer islamischen Wurzeln anfangs noch skeptisch betrachtet, gelang es Erdogan schnell, sich durch eine konsequent wirtschaftsliberale Politik der Privatisierung öffentlichen Eigentums, der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und der völligen Marktöffnung für ausländisches Kapital die Unterstützung von EU und USA zu sichern. In ihrer ersten Legislaturperiode präsentierte sich die Partei dabei als Reformkraft, die im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses die Todesstrafe abschaffte und den Einfluß des Nationalen Sicherheitsrats beschnitt, der bisher als militärisches Schattenkabinett gewirkt hatte.
Gewonnener Machtkampf
2007 kam es zur offenen Machtprobe der AKP mit der alten laizistischen Staatsbürokratie. Zuerst verbot das Verfassungsgericht eine Gesetzesänderung zur Aufhebung des Kopftuchverbots an Universitäten. Als die AKP dann den bisherigen Außenminister Abdullah Gül zum Staatspräsidenten wählen wollte, ließ die kemalistische Opposition die Wahl mit einem Abstimmungsboykott scheitern. Der durch die Wahl eines islamischen Politikers zum Oberbefehlshaber der Streitkräfte um seine Machtstellung fürchtende Generalstab drohte in einem Memorandum mit militärischem Eingreifen, während Millionen gegen eine Islamisierung der Gesellschaft demonstrierten. In dieser Situation ließ die AKP-Regierung am 22. Juli vorgezogene Neuwahlen durchführen, in denen sie ihren Stimmenanteil auf 46,6 Prozent steigern konnte. Insbesondere die vielen kurdischen Wähler, die der AKP aufgrund der scheinbaren Gegnerschaft zum Militär ihre Stimmen »geliehen« hatten, wurden schnell desillusioniert. Denn als Zugeständnis an die Generäle, die sich der Wahl Güls zum Präsidenten nun nicht mehr widersetzten, gab die AKP im Parlament grünes Licht für grenzübergreifende Militäroperationen gegen kurdische Rebellen im Nordirak.
Der Machtkampf innerhalb des Staatsapparates spitzte sich 2008 erneut zu, als das Verfassungsgericht ein Verbotsverfahren gegen die Regierungspartei als »Zentrum antilaizistischer Aktivitäten« einleitete. Das Verbot scheiterte am 30. Juli 2008 nur knapp mit einer scharfen Verwarnung der damit an die lange Leine des Staates gelegten AKP. Hatten juristische Kader der mit der AKP verbündeten pantürkisch-islamischen Fethullah-Gülen-Gemeinde (siehe jW-Thema vom 19.6.2009) bereits einen Großteil der untergeordneten Gerichte unter ihre Kontrolle gebracht, so mußte die AKP zur Absicherung ihrer Macht noch die leitenden Justizgremien gleichschalten. Diesem Ziel diente ein Verfassungsreferendum zum symbolträchtigen 30. Jahrestag des Militärputsches vom 12. September 1980, das die Besetzung der Justizaufsicht und des Verfassungsgerichts der Parlamentsmehrheit und dem Staatspräsidenten unterstellte. Kritiker dieser von 58 Prozent der Wähler angenommenen Justizreform wurden von Erdogan pauschal als Putschbefürworter verleumdet.
Um den Einfluß des sich als Hüterin des Laizismus gebärdenden Militärs zurückzudrängen, die 1960, 1971 und 1980 geputscht und 1997 den Rücktritt der islamischen Regierung von Ministerpräsident Necmettin Erbakan erzwungen hatten, leiteten AKP-nahe Juristen im Januar 2008 eine beispiellose Verhaftungsoperation ein. Hunderte Offiziere einschließlich des früheren Generalstabschefs Ilker Basbug sowie laizistische Akademiker und Journalisten wurden seitdem unter dem Vorwurf festgenommen, einem geheimen Netzwerk namens Ergenekon anzugehören. Sie sollen geplant haben, durch Anschläge Chaos hervorzurufen, um so einen Militärputsch vorzubereiten, heißt es in der phantastisch klingenden Anklageschrift, die kurzerhand sogar kurdische und kommunistische Untergrundorganisationen zum Teil der Ergenekon-Verschwörung erklärt.
Tatsächliche Kriegsverbrechen, die sich einige der Verhafteten in Kurdistan zuschulden kommen ließen, stehen dagegen nicht zur Anklage. Der Ergenekon-Prozeß dient der AKP vielmehr zur generellen Einschüchterung ihrer Kritiker. So wurden im März 2011 die militärkritischen Journalisten Nedim Sener und Ahmet Sik unter Ergenekon-Vorwürfen inhaftiert, weil sie die Unterwanderung der Polizei durch die Gülen-Gemeinde enthüllt hatten. Nachdem die US-Regierung – die traditionelle Schutzmacht der türkischen Streitkräfte – zur Säuberung der Truppe von den als unzuverlässig eingeschätzten Offizieren durch die AKP-Justiz schwieg, erklärte der türkische Generalstab im August 2011 kollektiv seinen Rücktritt. Anfang Oktober 2012 wurden schließlich in einem fragwürdigen Schauprozeß, der auf sichtlich konstruierten Beweisen beruhte, sechs ehemalige und aktive Generale aufgrund eines angeblich gegen die AKP-Regierung gerichteten Putschplans namens »Balyoz« (Vorschlaghammer) zu Haftstrafen von 18 bis 20 Jahren verurteilt.
Autoritärer Kurs
Entmachtet ist die Armeeführung, die mit der OYAK-Holding als einem der größten Konzerne des Landes ihre wirtschaftlichen Privilegien behält, heute keineswegs. Unter Verzicht auf ein direktes Eingreifen in die Politik haben die Generäle ihren Frieden mit der AKP geschlossen, deren neoosmanische Visionen sie teilen. Übereinstimmung besteht auch im militärischen Vorgehen gegen die für Autonomierechte kämpfende kurdische Befreiungsbewegung. Für Kontinuität steht hier insbesondere Generalstabschef Necdet Özel, der bereits Ende der 90er Jahre einen Giftgaseinsatz gegen kurdische Guerillakämpfer befehligte. So stellte sich Erdogan demonstrativ hinter die Armee, als diese im Dezember 2011 bei einem Luftangriff auf vermeintliche Kämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans PKK im Grenzgebiet zum Irak 34 Dorfbewohner tötete.
Im Parlamentswahlkampf 2011, der in den kurdischen Landesteilen in einer latenten Bürgerkriegsatmosphäre verlief, warb Erdogan mit einer chauvinistischen und erstmals auch offen religiösen Demagogie um Stimmen aus dem rechtsnationalistischen Lager. Damit verprellte er seine bisherigen liberalen Unterstützer und trieb gleichzeitig selbst religiöse Kurden in die Arme eines links-kurdischen Wahlblocks, der daraufhin zur stärksten Kraft in mehreren kurdischen Provinzen wurde. Während andere konservative und religiöse Parteien in der völligen Bedeutungslosigkeit versanken, gelang es der AKP nicht, die erneut mit 13 Prozent gewählte faschistische Partei der Nationalen Bewegung MHP unter die Zehn-Prozent-Hürde zu drücken. So gewann die AKP am 12. Juni 2011 zwar mit 49,9 Prozent abermals gegenüber der vorangegangenen Parlamentswahl dazu, verfehlte aber Erdogans selbstgestecktes Ziel einer verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit deutlich.
Der nationalistischen Rhetorik entspricht eine zunehmend autoritäre Politik der AKP. Es gibt heute kaum eine Demonstration von Gewerkschaftern, Sozialisten oder Kurden, die nicht von der zur schwerbewaffneten Bürgerkriegstruppe hochgerüsteten Polizei mit Gasgranaten und Wasserwerfern attackiert wird. Staatsanwaltschaften mit Sondervollmachten haben Tausende kurdische Aktivisten, Sozialisten, Gewerkschafter, Rechtsanwälte und regierungskritische Akademiker auf Grundlage der Antiterrorgesetze in Haft genommen. Rund 100 Journalisten und Medienmitarbeiter sitzen heute in der Türkei im Gefängnis – mehr als in jedem anderen Land. In kafkaesken Schauprozessen drohen Gegnern der AKP-Regierung langjährige Haftstrafen.
2009 hatten Gül und Erdogan die kurdische Frage noch zum dringendsten Problem des Landes erklärt. Doch von der angekündigten »kurdischen Öffnung« blieb am Ende kaum mehr als eine vom staatlichen Religionsamt Diyanet vorgenommene Kurdischübersetzung des Koran – als Symbol der von der AKP angestrebten Bindung der sunnitischen Kurden an den Staat im Namen des Islam. Dagegen erfolgte eine bis heute andauernde Verhaftungswelle von rund 9000 Politikern und Aktivisten der legalen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) und ihrer Ende 2009 verbotenen Vorgängerin DTP, darunter 30 Bürgermeister, sechs Abgeordnete sowie Hunderte Stadträte und Parteivorstände. Verhandlungen von Geheimdienstvertretern mit dem inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan und der PKK wurden auf Druck von Hardlinern im Staatsapparat vor den Parlamentswahlen im Mai 2011 abgebrochen. Seitdem pflegt Erdogan wieder die nationalistische Rhetorik von »einer (türkischen) Nation, einer Fahne, einer Sprache«, die kurdische Frage wird als »Terrorproblem« definiert. Indessen offenbart die repressive Kurdenpolitik der AKP ihr Scheitern. So begann die PKK im Sommer 2012 ihre seit den 90er Jahren stärkste Offensive, bei der Hunderte Soldaten getötet und ganze Landstriche im Bergland unter Guerillakontrolle gebracht wurden.
Regionale Großmacht