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Tschetschenien nach der Parlamentswahl:

Von Normalisierung keine Spur und keine politische Lösung in Sicht

Am 27. November 2005 wurde in der russischen Nordkaukasus-Republik Tschetschenien ein neues Parlament gewählt. Inwieweit die Wahlen frei und gleich waren, inwieweit das Ergebnis der Wahl die tatsächlichen Verhältnisse in der Rebellenrepublik widerspiegeln, kann nicht so einfach beantwortet werden. Im Folgenden dokuemntieren wir

  1. die Agenturmeldung über das Wahlergebnis,
  2. einen Bericht der Moskau-Korrespondentin des "Neuen Deutschland", der vor der Stimmabgabe erschien,
  3. einen Bericht von Nowosti über die politischen Konstellationen nach der Wahl.


"Nowyje Iswestija": Lieber schlechte Wahlen als ein guter Krieg

Am Montag sind in Tschetschenien die Ergebnisse der Parlamentswahlen ausgewertet worden. Besondere Sensationen brachten sie nicht: Die Partei "Einheitliches Russland" bekam die Mehrheit.

Spannender entwickelte sich der Kampf um Platz zwei: Die Kommunisten liegen mit einem Prozent Vorsprung vor der Union Rechter Kräfte (SPS), schreibt die "Nowyje Iswestija" am Dienstag.

Ohne den offiziellen Schlussstrich abzuwarten, erklärten Grosny und Moskau traditionsgemäß, die Wahlen seien nach Gesetz verlaufen. Zugleich äußerten Vertreter der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ihre Zweifel am "korrekten" Wahlverlauf, während die offizielle Wahlbeteiligungszahl von 60 Prozent nach Worten von Bürgerrechtlern nicht der Wirklichkeit entspricht.

In der Zeitung äußern sich einige Politologen zu den Ergebnissen der Wahlen in Tschetschenien.

Dmitri Oreschkin, Leiter der Gruppe Mercator: Lieber schlechte Wahlen als ein guter Krieg. Es ist klar, dass diese Wahlen im Regime der "gelenkten Demokratie" verliefen, weil unter den Kandidaten hauptsächlich nur diejenigen vertreten waren, die ihre Positionen im Voraus mit (dem 1. Vizeregierungschef) Ramsan Kadyrow abgestimmt hatten. Klar war auch, dass "Einheitliches Russland" auf die notwendige Stimmenzahl kommen wird. Wenn man noch von einer gewissen Objektivität der Wahlergebnisse in den Wahlbezirken sprechen kann, in denen Beobachter präsent waren, so werden die Stimmen aus entfernten Dörfern ganz bestimmt "wie es sein muss" ausgewertet. In einer solchen Situation wird das Parlament höchstens ein gewisses Beratungsorgan sein. Andererseits werden dort nicht nur Ramsans Leute sitzen, deshalb könnten die Abgeordneten, die von ihm nicht kontrolliert werden, in Krisensituationen als ein Gegengewicht zur herrschenden Elite auftreten.

Alexej Malaschenko, Mitglied des wissenschaftlichen Rates des Moskauer Carnegie-Zentrums: Die tschetschenische Führung hat nach den Wahlen einen legitimen Status bekommen. Bereits jetzt kann man sagen, dass kaum eine Opposition entstehen wird. Und das trotz der Tatsache, dass die jetzige Macht nicht populär ist und die Volksliebe zu Ramsan Kadyrow weitgehend nur ein Märchen ist. Hauptsache, die Unzufriedenheit mit den Ergebnissen führt nicht zu einem ernsthaften Konflikt. Insofern könnte der jetzige taktische Sieg Moskaus und Kadyrows in Zukunft zu einer Destabilisierung in der Republik führen.

Quelle: RIA Nowosti, 29.11.2005; http://de.rian.ru


Die Region ist längst noch nicht befriedet

Von Irina Wolkowa, Moskau

Am Sonntag werden die Bürger Tschetscheniens erneut an die Urnen gebeten. Mit der Wahl eines Zwei-Kammern-Parlaments werde die »Wiederherstellung eines in vollem Umfang funktionsfähigen Machtsystems« abgeschlossen, die Rebellenrepublik kehre zur Normalität zurück, heißt es offiziell. Selbst frühere Rebellen kandidieren für das tschetschenische Parlament. Der bekannteste ist Magomed Chambijew, einst Verteidigungsminister unter dem im März dieses Jahres getöteten Präsidenten Aslan Maschadow, mit dem Moskau nicht hatte verhandeln wollen.

Ungeachtet der Kandidatur Chambijews und anderer ehemaliger Maschadow-Vertrauter sind die bewaffneten Separatisten nach wie vor ein Machtfaktor in Tsche-tschenien. Die rund 80 000 russischen Soldaten in der Republik sind fast täglich mit Positionsgefechten, Überfällen und Anschlägen konfrontiert und erfahren auf diese Weise, wie dünn die reale Machtbasis Moskaus in der Republik ist.

Sowohl von der Diskussion um die Verfassung, über die im März 2003 abgestimmt wurde, als auch von den bisherigen zwei Präsidentenwahlen blieben die Separatisten zwangsläufig ausgeschlossen. Statt mit dem Gegner, ätzte Ruslan Chasbulatow, bis 1993 Vorsitzender des russischen Parlaments und gebürtiger Tschetschene, verhandle der Kreml mit sich selbst, die Wahlen fänden ohne wirkliche Alternative statt.

Entsprechend schlecht war die Beteiligung. Offizielle Meldungen, in denen von über 80 Prozent die Rede war, wurden von Menschenrechtlern und Journalisten, die trotz Verbots auf eigene Faust unterwegs waren, ins Reich der Fabel verwiesen. Die Straßen in Grosny seien leer gewesen, in einem Wahllokal im Zentrum seien in mehr als einer Stunde nur zwei Wähler erschienen. Die amtlichen Ergebnisse, sagt Tatjana Lokschina, Direktorin des analytischen Zentrums »Demos«, das der Bürgerrechtsbewegung »Memorial« nahe steht, seien »eindeutig gefälscht« worden. Ähnliches befürchtet sie auch für die Abstimmung am Sonntag.

Zwar dürften Verwandte und Bekannte der 353 registrierten Kandidaten für den Rat der Republik und die Volksversammlung (Ober- und Unterhaus) dafür sorgen, dass die Beteiligung diesmal höher liegt. Dazu kommt, dass neben der Kreml-Partei »Einiges Russland« auch alle anderen namhaften Parteien Russlands – Kommunisten, Nationalisten, »Jabloko« und die Union Rechter Kräfte (SPS) – ihre Listen präsentieren. Ihre Programme, so Lokschina, gingen jedoch an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbei.

Schwerpunkte seien Soziales und Umwelt, dagegen werde der Kampf gegen die Gesetzlosigkeit, gegen Entführungen, Folter und Willkür vernachlässigt. Halblegale Milizen – befehligt von Vizepremier Ramsan Kadyrow, der als Tschetscheniens starker Mann gilt – würden inzwischen mehr gefürchtet als das russische Militär, gegen dessen Entgleisungen allerdings gerade erst wieder hunderte Menschen in Grosny protestierten. Ein Dorf war »irrtümlich« mit Raketen beschossen worden, in einem anderen Ort hatten betrunkene Soldaten in die Menge gefeuert.

Vor allem aber: Keine Partei hat auch nur Ansätze von Lösungen für das eigentliche Problem: den Dialog aller politisch relevanten Kräfte, die Tschetscheniens künftiges Verhältnis zu Moskau im Konsens definieren könnten.

Der ungelöste Konflikt hat inzwischen längst auf andere Regionen im Nordkaukasus übergegriffen. Spätestens nach den Unruhen in Naltschik Mitte Oktober ist man sich offenbar auch in Moskau dessen bewusst. Israelische Medien meldeten, Dmitri Kosak, Präsidentenvertreter im russischen Süden, habe sich bei seinem Israel-Besuch Anfang November vor allem für den »Sicherheitszaun« zu den palästinensischen Gebieten interessiert. Zwar dementierte Moskau umgehend. Dennoch: Als Wladimir Putin, damals noch Regierungschef, im Herbst 1999 zum zweiten Tschetschenien-Feldzug blies, ging es zunächst nicht um Krieg, sondern um eine »Isolation des Sumpfes«. So gesehen ist man bei der Befriedung der Region in den vergangenen sechs Jahren keinen Schritt vorangekommen. Aber bis zu 100 000 Zivilisten und Tausende russischer Soldaten haben das Debakel mit dem Leben bezahlt.

* Aus: Neues Deutschland, 26.11.2005


Politische Regelung in Tschetschenien kurz vor Abschluss

Nach den Wahlen geht Tschetschenien zur Tagesordnung über: zum Aufbau des friedlichen Lebens im Nordkaukasus

Von Juri Filippow, RIA Nowosti

MOSKAU, 29. November. Die tschetschenischen Parlamentswahlen am letzten Sonntag [27.11.2005] gelten als stattgefunden. Gemäß den Prognosen von Beobachtern, gewann die Präsidentenpartei "Einheitliches Russland" das Wahlrennen und wird in beiden Kammern die Mehrheit bilden.

Erstmals seit vielen Jahren hat sich eine Parteienstruktur im politischen Feld Tschetscheniens abgezeichnet. Erstaunlicherweise zeigte sie sich sogar ausgewogener als in vielen Regionen Russlands. Neben der starken Mitte ("Einheitliches Russland) sind dort zwei Flügel entstanden, die einander ausbilanzieren: die KP und die liberale Partei Union der Rechtskräfte (SPS). Beide Parteien bekamen laut Hochrechnungen jeweils mehr als zehn Prozent bei der Parteilistenwahl.

Tschetscheniens Präsident Alu Alchanow zog ein politisches Fazit der Wahlen. Das Volk habe nach seinen Worten "das wirtschaftliche und das rechtliche Feld Russlands gewählt". Eine Wahl dieser Art haben die Tschetschenen nicht zum ersten Mal getroffen. Die Parlamentswahlen lassen sich als eine weitere Etappe der Realisierung des 2003 beschlossenen Plans zur politischen Regelung in Tschetschenien bewerten. Sein Wesen besteht in entgegenkommenden Schritten Tschetscheniens und der Russischen Föderation.

Zuvor gab es genauso ergebnisreiche Abstimmung über die neue tschetschenische Verfassung, mit der die Republik als ein unveräußerlicher Teil der Russischen Föderation definiert wurde. Im Mai 2003 wurde eine Amnestie für jene bewaffneten Separatisten verkündet, die keine schweren Verbrechen begangen hatten. Diese Amnestie war ebenfalls eine der Etappen der politischen Regelung und sie hat die Zeitprobe bestanden. Pessimisten, die meinten, dass die Separatisten, die ihre Waffen niedergelegt haben, mit der Zeit zu Objekten der Rache seitens der Föderationsstreitkräfte werden könnten, lagen falsch.

Ein weiteres und besonders markantes Beispiel ist das Schicksal des früheren Verteidigungsministers der nicht anerkannten tschetschenischen Republik Itschkeria, Magomed Chambijew, der jetzt auf der SPS-Liste ins tschetschenische Parlament gewählt wurde.

Der einzige Punkt der politischen Regelung, der unumkehrbare Veränderungen durchgemacht hat, betrifft die Wahlen des Präsidenten Tschetscheniens. Die Präsidentenwahlen in Tschetschenien fanden dort gemäß dem russischen Recht bereits zweimal statt. Der bei einem Terrorakt im Mai 2004 getötete Präsident Achmad Kadyrow wurde vom jetzigen Präsidenten Alu Alchanow abgelöst. Bald nach den Wahlen geschah der Terrorakt in Beslan. Eine Reaktion darauf war eine gesamtrussische Reform der Prinzipien der Bildung der regionalen Macht. Der Chef der Republik Tschetschenien wird jetzt wie auch die Chefs der anderen Regionen Russlands nicht mehr vom Volk gewählt, sondern vom regionalen Parlament nach einem Vorschlag des russischen Präsidenten bestätigt.

Damit ist auch eine gewisse Unklarheit der Tschetschenen-Politik verbunden. Alchanow wurde gefragt, ob er an Putin die Vertrauensfrage richten werde, um die Prozedur der Bestätigung durch das neue Parlament zu absolvieren. Der Status eines "bestätigten" Republikchefs gilt als stabiler als die Lage des "gewählten", weil er auf keinen Fall eine "hinkende Ente" sein kann. Alchanow erklärte darauf öffentlich, er werde diese Frage nicht an den Präsidenten richten und habe vor, seine von der Verfassung vorgesehene Amtszeit bis zum Schluss abzuleisten.

Es gibt genug Grund zur Annahme, dass dies auch geschehen wird. Unter anderem hat der erste Vizepremier der tschetschenischen Regierung, Ramsan Kadyrow, Sohn des getöteten Präsidenten Kadyrow, der heute die bewaffneten Strukturen der Republik kontrolliert und von vielen als der informelle Republikchef sowie als potentieller Kandidat für das Präsidentenamt angesehen wird, ebenfalls mehrmals erklärt, Alchanow sollte bis zum Abschluss seiner Amtszeit arbeiten. Kadyrow sieht seine aktuelle Aufgabe darin, gegen die bewaffneten Separatisten zu kämpfen und den Eintritt des friedlichen Lebens in seiner Heimat näher zu rücken.

Da aber die Position des tschetschenischen Republikchefs heute etwas unklar ist, sollte Moskau offenbar eine eindeutige Geste machen, die seinen Standpunkt in dieser Frage klar machen würde, weil es hinsichtlich der Aufrechterhaltung der Stabilität in der Republik wichtig ist.

Eine Gelegenheit dazu wird sich bald bieten. Der weitere und abschließende Punkt des Plans der politischen Regelung in Tschetschenien ist die Unterzeichnung eines Vertrags über die Abgrenzung der Vollmachten zwischen der Republik und der Russischen Föderation. Der Entwurf dieses Dokuments hat nach langwierigen Abstimmungen auf der Ebene des Föderationsbezirks Süd den Kreml erreicht. Dort wurde erklärt, dass das Dokument Anfang nächsten Jahres unterzeichnet werden könnte.

Wenn Alchanow seine Unterschrift unter den Vertrag setzt, dann wird er diesen in den nächsten Jahren auch realisieren. Außerdem wird ein Schlusspunkt in der politischen Regelung in Tschetschenien gesetzt: Weder Moskau noch Grosny werden einen weiteren Plan vorlegen oder annehmen. Es bleibt nur noch, gegen die bewaffneten Banditen zu kämpfen und das friedliche Leben aufzubauen - gerade damit befassen sich heute eigentlich so gut wie alle nordkaukasischen Republiken im Bestand Russlands.

Quelle: Nachrichtenagentur RIA Nowosti, http://de.rian.ru


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