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"Es liegen Felsen auf den Herzen"

Die trauernden Eltern im nordossetischen Beslan fragen noch immer nach dem Wer und Warum des Terroranschlags vom 1. September

Von Andrea Strunk*

Auch nach dem Ende der 40-tägigen Trauerzeit steht Beslan in Nordossetien weiter unter Schock. Die Schule Nummer 1, der Ort des Grauens, ist zu einer Pilgerstätte für die Bewohner aus dem ganzen Land geworden. Täglich kommen Schulklassen und Busladungen voller Menschen, um mit den Eltern zu trauern, die dort beten und weinen, wo man die Leichen ihrer Kinder gefunden hat. Mit bleichen Gesichtern wandern die Menschen durch die zerstörten Räume und brechen beim Anblick der halbverbrannten Schuhe und brennenden Kerzen wieder und wieder in Tränen aus.

Jenseits des Weinens aber wird der Ruf nach Rache laut. Je weniger Antworten es auf die Frage nach den Hintergründen und der Urheberschaft des Terrors gibt, desto mehr Hasardeure finden sich unter den jungen Männern, die das Recht in die eigene Hand nehmen und es den Inguschen, die man in Ossetien als wahre Schuldige ausgemacht hat, heimzahlen wollen. Gleich nach der Geiselnahme wurde in der Landeshauptstadt Wladikawkas für eine Ausweisung aller in Ossetien lebenden Inguschen demonstriert. Seitdem hat die russische Menschenrechtsorganisation Memorial etliche Fälle von Übergriffen auf Inguschen dokumentiert, die "als Rache für Beslan" zusammengeschlagen wurden.

Und die örtlichen Medien tragen ihren Teil dazu bei. Kein Tag, an dem es in russischen und kaukasischen Zeitungen nicht neue Meldungen über die "geplante Blutrache" gibt oder Interviews mit Männern, die eigenhändig Inguschen töten wollen. Da sich unter den 33 Terroristen neun Inguschen befanden, steht für die Osseten fest, dass der Terrorangriff nichts weiter als ein Racheakt war: für den Bürgerkrieg, den es 1992 mit Inguschetien gab, und für die inguschische Region Progorodnij, die Stalin den Osseten gab, als er die Inguschen seinerzeit in die Verbannung schickte.

Zwar bezweifeln Experten, dass Ossetien die militärische Schlagkraft für eine neuen Krieg gegen das Nachbarland Inguschetien hätte, doch die ethnischen Animositäten sind seit den entsetzlichen Septembertagen von Beslan allenthalben spürbar.

Verzweiflung und Ratlosigkeit bestimmen das Leben in Beslan. Die Hinterbliebenen und überlebenden Opfer fühlen sich von der russischen Regierung allein gelassen. Spendengelder sind vor Ort nicht angekommen, psychologische Hilfe erhalten die Wenigsten. Wo Licht im Dunkeln das Leid der Eltern mindern könnte, gibt es zu viele Gerüchte. Die offizielle Todeszahl wird seit der Vorwoche mit 344 angegeben. Die Einwohner von Beslan dagegen berufen sich auf die Zählung einer aus Lehrern bestehenden Kommission, der zufolge 400 Kinder und fast 200 Erwachsene getötet worden seien.

Für viele Tote gibt es keinen Platz auf dem alten Friedhof der Stadt. So hat man die Opfer des 3. September, als die Terroristen ihre Sprengladungen zündeten und die Schule gestürmt wurde, auf einem steinigen Acker daneben begraben, den Bauarbeiter erst jetzt mit Marmorsteinen begrenzen und mit Wegen zwischen den Gräberreihen versehen.

Noch am letzten Wochenende der Trauerzeit gibt es 23 Bestattungen. Eine davon für die 14-jährige Dsara Totiewa. Das sechste Kind, das die Familie Totiew begräbt. Erst eine DNA-Analyse hat Dsaras Identität und die vieler anderer klären können, deren Körper verbrannt und verstümmelt sind.

Von 76 Kindern - aber niemand scheint in der Lage zu sein, diese Zahl mit absoluter Gewissheit nennen und begründen zu können - fehlt jede Spur. Tag für Tag beendet das ossetische Fernsehen seine Nachrichtensendungen mit Fotos dieser Kinder und bittet um Hinweise über ihren Verbleib. Die verzweifelten Familien klammern sich an die Legende, wonach entflohene Terroristen auf ihrem Rückzug die Kinder als Geiseln mitgenommen hätten. Das ossetische Innenministerium verneint dies auf Anfrage - alle vermissten Kinder seien tot, heißt es. Eine schlüssige Erklärung, warum es keine Überreste dieser Kinder gibt, bleibt aus. Einer aus der Totiew-Familie glaubt, die Antwort zu kennen: Beim Sturm auf die Schule hätten die Spezialeinheiten Flammenwerfer eingesetzt. "Von unseren Kindern ist nicht einmal Asche geblieben."

Seine Anschuldigung ist Teil einer anderen Frage, die sich die Einwohner von Beslan immer wieder stellen. War der Sturm auf die Schule doch eine geplante Aktion? Manches spricht dafür. Eine von der Moskauer Duma eingesetzte Untersuchungskommission will Hinweise auf entsprechende Vorkehrungen gefunden und den Einsatz schwerer Waffen festgestellt haben. Am 2. September seien Panzer und gepanzerte Fahrzeuge in das Umfeld der Schule gebracht worden. Außerdem habe man Strahlrohr-Behälter von Flammenwerfern auf dem Dach eines Gebäudes in der Nähe gefunden. Wladimir Chabalow, Chirurg am Kinderkrankenhaus im ossetischen Wladikawkas, berichtet von ungewöhnlich schweren Brandverletzungen bei einigen der Opfer. "Die Kinder, die ich auf dem Operationstisch hatte, sahen aus wie Soldaten nach einer Schlacht."

Man muss kein Experte sein, um sich an der Schulruine von Beslan den stundenlangen Kampf vorstellen zu können, den sich russische Soldaten, zu allem bereite Eltern und Terroristen hier lieferten. Intakt ist dort kein Fenster, keine Wand mehr. Mauern sind zur Hälfte weggeschossen, in allen Klassenzimmern liegen Hefte, Bücher, Blumenkästen über den Boden verstreut. Im Raum neben der Turnhalle, den die Terroristen als Gebetsraum nutzten - verkohlte Turnbeutel, verwaiste Schuhe, Kleidungsfetzen und auf dem Schulhof Patronenhülsen, dutzendweise.

Die Häuserblocks, die in direkter Nachbarschaft der Schule liegen, werden renoviert. Jede Familie, die hier wohnt, hat mindesten ein Mitglied verloren. Mit versteinerten Gesichtern sitzen die Mütter in den Zimmern. Sie legen Beileidsgästen Foto um Foto ihrer Kinder vor und stoßen in Abständen lange Seufzer aus, als könnten sie damit die Felsen von ihren Herzen wälzen. Die Männer stehen mit düsterem Blick im Hof, wo bis vor ein paar Wochen noch die Kinder spielten. Jetzt herrscht gespenstische Stille. "Hier gibt es keine Kinder mehr. 34 aus unserem Haus sind tot", erzählt ein Vater, dessen zehnjährige Tochter Alena ebenfalls unter den Opfern ist. Als Alena noch lebte, habe auch er an Frieden mit den Nachbarn und an Menschlichkeit geglaubt. Nun aber sei alles in ihm zerstört. "Schreiben Sie, die Inguschen sind gekommen und haben unsere Kinder getötet."

Andere Geiseln wie Semfira S., die ihren Nachnamen nicht nennen will, berichten, die Terroristen hätten viel telefoniert und nach diesen Gesprächen immer wieder erklärt, man habe ihnen eine Falle gestellt. Offenbar waren sie sich nicht im Klaren darüber, in welcher Stadt sie sich befanden, sie hätten geglaubt, in Waldikawkas, der ossetischen Hauptstadt, zu sein. Nach einem Treffen mit dem inguschischen Ex-Präsidenten Ruslan Auschew, so die Geiseln, seien die Terroristen regelrecht in Panik geraten. "Sie haben herum geschrieen, jetzt müssten wir alle zusammen sterben", erzählt Semfira S.

Trotz aller Vermutungen und Spekulationen formt sich aus den Aussagen der Geiseln und den ersten Untersuchungsergebnissen ein Bild der Täter. Posthume Blutuntersuchungen ergaben, dass die Männer erhebliche Mengen an Drogen konsumiert hatten, offenbar nicht nur vor dem Angriff auf die Schule, sondern über Jahre hinweg. Außerdem haben fast alle Attentäter eine kriminelle Vergangenheit. Aber war es so? Drogenabhängige Verbrecher werden für Geld angeheuert, eine Schule zu überfallen? Man schiebt ihnen ein paar Forderungen unter, die so utopisch sind, dass sie nicht erfüllt werden können. Und was bedeutet es, dass sich wenige Tage nach den Ereignissen von Beslan der tschetschenische Warlord Shamil Bassajew zu dem Attentat bekannt hat? Die hohe Zahl inguschischer Angreifer zeigt, dass vermutlich ethnische Vorurteile und Feindschaften instrumentalisiert wurden, um die moralische Hemmschwelle zu senken und einen perfiden Angriff auf Kinder zu rechtfertigen. Am Ende brennt der Kaukasus, und jene, die vom Krieg leben, reiben sich die Hände. Wird sich die Frage nach den Auftraggebern und dem höheren Ziel des Terrors in Beslan jemals klären lassen?

Vor der Schule Nummer 1 wachen seit dem Attentat russische Soldaten, die selber noch wie Kinder aussehen. Er fürchte sich entsetzlich, sagt ein junger Gefreiter. Jede Nacht sähe er eine Frau mit einem Kind auf dem Arm über den Schulhof gehen. "Und dann höre ich viele Kinder weinen. Ich hoffe, man findet die Schuldigen bald, damit die Toten hier endlich zur Ruhe kommen."



Die kaukasischen Teilrepubliken der Russischen Föderation

Tschetschenien: 570.000 Einwohner
Dagestan: 2.500.000 Einwohner
Inguschetien: 540.000 Einwohner
Nordossetien: 710.000 Einwohner

Anschläge außerhalb Tschetscheniens
  • Dagestan: Es gab seit 1996 vier schwere Bombenattentate, die von tschetschenischen Kommandos verübt wurden und denen 189 Menschen zum Opfer fielen.
  • Nordossetien: Bis zum 3. September 2004 kamen bei Terroranschlägen 127 Menschen ums Leben, über 500 wurden verletzt.
  • Inguschetien: Bei Überfällen auf Polizeistationen und Busse wurden allein 2003 mehr als 100 Menschen getötet.



* Aus: Freitag 45, 29. Oktober 2004


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