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Kaukasische Konflikte

Russische Politik in Tschetschenien ist gescheitert - Hintergründe des Geiseldramas von Beslan

Die Frankfurter Rundschau erschien am 6. September 2004 mit einer Themenseite (Seite 2: "Thema des Tages") über das Geiseldrama von Beslan, dem weit über 300 Menschen, darunter viele Kinder, zum Opfer gefallen sind. Zwei Hintergrundartikel - Autor: Karl Grobe - dokumentieren wir im Folgenden in voller Länge.



In einem Interview, das sich ebenfalls auf der Themenseite befindet, kommt Anna Schor-Tschudnowskaja, Wissenschaftlerin an der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, zum Ergebnis, dass Putin mit seiner Gewaltstrategie gegen den Terrorismus auf der ganzen Linie gescheitert sei.
"Das Gewaltmuster wiederholt sich immer wieder, alle Geiselnahmen, die Putin zu meistern hatte, hat er ziemlich blutig gemeistert."

So wird er auch sein innenpolitisches Ziel, seine Autorität zu festigen, verfehlen. Zwar sei es richtig, dass die Tschetschenien-Frage Putin an die Macht gebracht habe, heute sei seine Popularität durch eben jene Tschetschenien-Politik wieder im Sinken begriffen. Eskalieren wird indessen die "Gewaltwelle". Am Ende plädiert Schor-Tschudnowskaja für eine politische Lösung:
"Man muss eine politische Lösung finden, man muss in Tschetschenien nach Kräften suchen, die zu einer politischen Lösung bereit sind. Man sollte sich auch um eine Vermittlung bemühen, von europäischer Seite, seitens der UN, der USA oder durch ehemalige Sowjetrepubliken, also die heutigen GUS-Staaten. Bei einem solchen langandauernden, blutigen Konflikt braucht man eine dritte Seite. Und man muss eine andere Informationspolitik betreiben. So wie sie in Russland heute aussieht, wenn man die Massenmedien betrachtet, werden die Tschetschenen als Feinde dargestellt und die russische Bevölkerung nimmt sie nur als Feinde wahr. So wird man keinen Krieg beenden können."




Im Folgenden aber nun einen Hintergrundbericht und eine Analyse des Russland- und Kaukasus-Experten der Frankfurter Rundschau, Karl Grobe.

Putin setzt auf starken Staat

Der russische Präsident spricht von einer "direkten Intervention des internationalen Terrorismus"

VON KARL GROBE


"Wir haben Schwäche gezeigt, und auf den Schwachen trampelt man herum". Um diesen Satz, so formuliert in seiner Fernsehrede, kreist das staatspolitische Denken Wladimir Putins. Dass Bewaffnete sich in einer Schule im nordossetischenBeslanan Wehrlosen, gar an Kindern vergreifen konnten, ist Inbegriff dieser Schwäche. Putin wusste, dass die chaotischen Aktionen rund um die besetzte Schule am Freitag mehr als 300 Todesopfer gefordert hatten. Er begriff, dass sein einziges verkündetes Ziel, das Leben der Kinder zu retten, grausam weit verfehlt worden war. Er war sichtlich erschüttert. Er räumte, ungewöhnlich für ihn, Fehler ein. Seine Folgerungen aber sind eine bittere Enttäuschung.

Putin griff auf die Ereignisse seit dem Zerfall der Sowjetunion zurück, "eines riesigen Staates, der sich unter den Bedingungen einer sich rasch verändernden Welt als nicht mehr lebensfähig erwies", dennoch sei es gelungen, den Kern, die Russische Föderation, zusammenzuhalten. Auf vieles sei man aber man nicht vorbereitet gewesen, etwa auf die Probleme einer Übergangswirtschaft, die den Ansprüchen der Gesellschaft und des politischen Systems nicht genüge. Und die internen Konflikte und ethnischen Widersprüche, die "die vorherrschende Ideologie in der zurückliegenden Epoche so hart unterdrückt hat", verschärften sich jetzt.

Als Russlands Präsident aber habe er geschworen, den Staat, seine territoriale Integrität und nicht zuletzt die russischen Bürger zu verteidigen. Darum kommt für ihn ein "Nachgeben gegenüber ihrer (der Geiselnehmer) Erpressung oder eine Panikreaktion" nicht in Frage.

Putin klammert sich weiter an seine fünf Jahre alte Strategie, mit Gewalt zu vernichten, was er als damals für tschetschenische Aufsässigkeit hielt und heute als einen Aspekt des internationalen Terrorismus ansieht. Drahtzieher vermag er nur im - muslimischen - Ausland zu erkennen. Die Indizien für eine Tatbeteiligung außertschetschenischer Banditen bläst er zum Propagandaballon auf: "Wir haben es mit einer direkten Intervention des internationalen Terrors gegen Russland zu tun, mit einem totalen, grausamen und gewaltigen Krieg". Am Kaukasus schlägt der internationale Terrorismus zu, ist das Putinsche Fazit.

Putin räumte auch Fehler ein: "Allgemein gesprochen müssen wir zugeben, dass wir kein Verständnis für die Komplexität und die Gefahren in unserem Lande und in der Welt gezeigt haben". Nicht hart genug sei durchgegriffen worden. Deshalb müssten die Sicherheitskräfte aufgestockt, das Krisenmanagement verbessert und die Grenzen von außen noch besser geschützt werden.

Ganz besonders aber muss, so Putin, "das Bewusstsein der Nation angesichts einer allgemeinen Gefahr" geschärft werden. Die internationale Erfahrung zeige, dass "die Terroristen" immer dann eine "angemessene Antwort" erhalten, wenn sie "einerseits auf die Macht des Staates und andererseits auf eine organisierte und vereinte Zivilgesellschaft" stoßen.

Freilich ist die Schärfung des Bewusstseins durch staatlich gelenkte Medien nicht viel anderes als Propaganda; und eine "organisierte und vereinte" Zivilgesellschaft dürfte in PutinsVerständnis so beschaffen sein, dass sie auch gelinde formulierten Widerspruch nicht duldet. Putins autoritäres Verständnis von Staat und Gesellschaft ist durch das Verbrechen von Beslan nicht erschüttert worden.

Den tschetschenischen Krieg haben zwei russische Präsidenten in der Hauptsache selbst begonnen, der eine (Jelzin) aus Schwäche gegenüber bramabarsierenden Generalen, der andere (Putin) mit dem Law-and-Order-Vorsatz, aber in krasser Fehleinschätzung der regionalen Verhältnisse. Der Tschetschenien-Krieg ist unter ihrer eindimensionalen Gewaltpolitik zu einer fortgesetzten Unternehmung umgeschlagen, Terrorismus zu züchten. Die Gruppe um Präsident Aslan Maschadow, des einzigen tschetschenischen Präsidenten, dessen Wahl nicht gefälscht war, war bisher stets mehrheitsfähig und ist zu Friedensgesprächen bereit. Sie wird durch den staatlichen Terror marginalisiert. So schafft die angebliche Terrorbekämpfung die nächste Terroristengeneration selbst.

Maschadows energische Distanzierung von den jüngsten Terrorakten und seine menschlich anrührende Beileidsbekundung für die Opfer von Beslan kommen in der russischen Presse nicht vor; und die Anläufe regionaler Spitzenpolitiker, nach Beslan mit Maschadow Kontakt aufzunehmen, werden abgeblockt. Politiker aus Nordossetien und Inguschetien, den Nachbarrepubliken Tschetscheniens, hatten Fühlung mit Maschadow aufgenommen, um ihn gegebenenfalls als Vermittler einschalten zu können. Der Tschetschene lehnte mit dem Hinweis ab, "unter den gegenwärtigen Umständen" könne er leider nicht kommen.

Aus: Frankfurter Rundschau, 6. September 2004 (Seite 2: Thema des Tages)


ANALYSE

Kaukasische Konflikte

VON KARL GROBE

Die russische Politik ist in Tschetschenien ganz offensichtlich gescheitert. Nur Gewalt hält Grosny bei Moskau. Die Nachbar- regionen wirken friedlich. Das aber kann sich schnell ändern.


Ein weit verzweigtes Terrornetz muss es in Russland geben, teilte der Religions- und Politikwissenschaftler Alexander Ignatenko aus gegebenem Anlass der Tageszeitung Nesawissimaja gaseta mit. Al Qaeda habe in Russland "Saudis, Algerier, Marokkaner, Ägypter und andere Araber" sowie "wahhabitische Tschetschenen, Inguschen und Russen" in ihren Reihen. Wenn die heimkehren, nennt man sie in ihren Herkunftsländern samt und sonders "Tschetschenen".

Damit ist der Fall für Ignatenko klar, auch wenn er nicht so direkt sagt: Im Kaukasus, wo der Terror tobt, liegt die Wurzel allen postsowjetischen Übels. Die Folge ist logischerweise Konfrontation.

Russische und sowjetische Autoren haben das nicht immer so gesehen. Literaten des 19. Jahrhunderts, viele von ihnen waren als Offiziere im Nordkaukasus, entwarfen Bilder von "edlen Wilden". Diese sollten später sowjetische Politiker auf die Seite Moskaus ziehen. Das Schlagwort der sowjetischen Nationalitätenpolitik lautete zwischen 1920 und etwa 1927 korenisazija, Einwurzelung. Die Funktionäre sollten aus den Völkern stammen, russische Amtswalter mussten die regionalen Sprachen lernen und sich mit dem örtlichen Gewohnheitsrecht vertraut machen. Eine "Bergrepublik" fasste die nordkaukasischen Völker zusammen, für kurze Zeit. Das änderte sich mit Beginn der landwirtschaftlichen Kollektivierung unter Josef Stalin. Die "Bergrepublik" wurde aufgeteilt, nach angeblich ethnisch gerechten Grenzen, doch wurden immer wenigstens zwei Völker in einer Verwaltungseinheit zusammengespannt. Die zur Zeit der korenisazija gebildeten nationalen Kader wurden verfolgt und oft umgebracht.

Seitdem ist nie wieder so etwas wie eine auf Gleichheit fußende Völkerfreundschaft entstanden. Aufsteiger aus den kaukasischen Völkern integrierten sich in die russisch geprägte Sowjet-Elite; den nicht zur Russifizierung bereiten Einwohnern wurde so ihre intellektuelle Führungsschicht entzogen. Es begann neuer Widerstand, der zum Teil an die epischen Kämpfe um die Mitte des 19. Jahrhunderts anknüpfte.

Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs ordnete Stalin die Verbannung aller Tschetschenen, Inguschen und einiger kleiner Völker nach Zentralasien an. Das war tödlich für viele; die Überlebenden kamen nach ihrer Rehabilitierung 1956 mit durchaus gemischten Gefühlen wieder in die Heimat. Doch ihre alten Dörfer waren von anderen besiedelt worden - Russen, Ukrainern, Bürgern der UdSSR. Es gab neue Spannungen. Dennoch eine eigentlich friedliche Zeit; dem traditionellen Leben in den entlegenen Bergdörfern ließ der Staat die lange Leine, die Städter aber lebten neben der russischen urbanen Mehrheit her, rückten zum Teil auch in die Eliten auf. Doch selbst wenn sie so zu Sowjetbürgern wurden, behielten sie den Bezug zu ihrer Nation.

Diese Ambivalenz liegt der Entwicklung seit dem Zerfall der Sowjetunion zugrunde. Das tschetschenische Volk wurde dabei zu einer Speerspitze der frühen Autonomiebewegung. Überdurchschnittlich viele Tschetschenenwaren in die zivilen, militärischen und wissenschaftlichen Eliten aufgestiegen und wurden Vorkämpfer einer Bewegung, die wenigstens das Ausmaß an innerer Unabhängigkeit forderte, wie sie den Tataren von Präsident Boris Jelzin gewährt wurde. Den Kontakt zur Basis in den Bergen hatten diese Kräfte nicht eingebüßt; er gründete auf altüberkommenen Familien- und Clan-Beziehungen. In anderen kaukasischen Regionen, unter Karatschaiern und Adygern, (Nord-) Osseten und Tscherkessen sowie im Vielvölker-Dagestan setzten sich - teils gewendete - einst sowjetische Eliten zunächst durch. Diese Regionen wirken friedlich. Doch sie enthalten dieselben Widersprüche, dasselbe Konfliktpotenzial.

Aus: Frankfurter Rundschau, 6. September 2004 (Seite 2: Thema des Tages)


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