Orwell’sches Neusprech im Tschad:
Militäreinsätze als "Entwicklungshilfe"
Von Jürgen Wagner, Informationsstelle Militarisierung e.V. (IMI)
Am 15. Oktober 2007 hatte die
Europäische Union beschlossen, eine
Militärmission in den Tschad und die
Zentralafrikanische Republik zu entsenden.
Nachdem Österreich von den
bislang stationierten 1790 Soldaten
des EUFOR Chad/RCA-Einsatzes 151
stellt, sorgte Mitte April die Meldung
für große Empörung, dass die Kosten
hierfür in Höhe von zunächst 25 Mio.
Euro dem Entwicklungshilfeetat entnommen
werden. So skandalös es ist,
dass hiermit Gelder, die zur Armutsbekämpfung
gedacht sind, regelrecht
zweckentfremdet werden, ist dies jedoch
keineswegs ein grundlegend
neues Phänomen. Vielmehr ist die
Querfinanzierung von Militäreinsätzen
mit Hilfe von Entwicklungshilfegeldern
innerhalb der EU schon länger gängige
Praxis.
Ohne Sicherheit keine Entwicklung?
Mit der UN-Resolution 2626 vom
24. Oktober 1970 haben sich die
Industriestaaten explizit darauf verständigt,
mindestens 0,7% ihres Bruttoinlandsprodukts
(BIP) für Entwicklungshilfe
aufzuwenden. Zwar wird
diese Marke bis heute von den meisten
Ländern bei weitem nicht erreicht,
gerade deshalb ist es aber eine entscheidende
Frage, welche Ausgaben
als Öffentliche Entwicklungshilfe (Official
development Assistance – ODA)
verrechnet werden können. Als solche
werden Leistungen der öffentlichen
Hand angerechnet, die an Länder vergeben
werden, die von der OECD als
Entwicklungsländer eingestuft werden
und das Ziel der wirtschaftlichen und
sozialen Entwicklung verfolgen. Nachdem
militärische Aspekte jahrzehntelang
kategorisch ausgeschlossen
wurden und Entwicklungshilfe sich –
zumindest formell – auf Armutsbekämpfung
im engeren Sinne konzentrieren
musste, liegt es auf der Hand,
dass jede Öffnung der ODA-Kriterien
zugunsten sicherheitspolitischer Ausgaben
die Rüstungsetats entlasten
hilft, eine Erhöhung der Entwicklungshilfe
lediglich vorgaukelt und so
gleichzeitig die miserable Bilanz der
Geberländer schönen hilft.
Die Attraktivität einer solchen Querfinanzierung
sicherheitspolitischer Aufgaben
ist offensichtlich, sie erfordert
aber ein Konstrukt, mit dem Militäreinsätze
zu einem entwicklungspolitischen
Projekt umdefiniert werden
können. Obwohl in der Kriegsursachenforschung
mittlerweile nahezu
unstrittig Armut als wichtigster Faktor
für das gewaltsame Eskalation von
Konflikten in der sog. Dritten Welt
identifiziert wurde, hat sich mittlerweile
die Sichtweise durchgesetzt, Bürgerkriege
in „gescheiterten Staaten“
seien ausschließlich auf Binnenfaktoren
zurückzuführen (habgierige Warlords,
ethnische Konflikte, etc.).
Da hierdurch westliche Investitionen
und damit eine nachhaltige Entwicklung
verhindert würden, bedürften solche
Staaten der externen Stabilisierung
durch das Militär. Mit der dahinter
stehenden „Logik“ wird die entwicklungspolitische
Prioritätensetzung auf
den Kopf stellt. So formulierte z.B. der
Chef des Bundesverbandes der Deutschen
Industrie (BDI), Jürgen Thuman
„Die Grundhypothese ‚ohne Entwicklung
keine Sicherheit‘ stellt sich
häufig genau anders herum dar. ‚Ohne
Sicherheit keine Entwicklung‘.“ Aus
dem Bestreben, militärisch für die
Realisierung von Profitinteressen zu
garantieren und die bestehenden Hierarchie-
und Ausbeutungsverhältnisse
der Weltwirtschaftsordnung militärisch
abzusichern, wird somit schamlos
ein entwicklungspolitisches Projekt
gemacht.
Sicherheitspolitische ODA-Kriterien
Dennoch ist diese Sichtweise mittlerweile
in nahezu jedem sicherheitspolitischen
und seit einiger Zeit auch
entwicklungspolitischen Grundsatzdokument
anzutreffen. So äußern sich
nicht nur zahlreiche Politiker in diese
Richtung, sondern auch die im Dezember
2003 verabschiedete Europäische
Sicherheitsstrategie: „Eine Reihe
von Ländern und Regionen bewegen
sich in einem Teufelskreis von Konflikten,
Unsicherheit und Armut.“ Während
es sich hierbei noch um eine weit
gehend unstrittige Tatsache handelt,
ist die entscheidende Frage jedoch,
wie aus diesem Teufelskreis ausgebrochen
werden kann und welche
Prioritäten damit gesetzt werden: „Sicherheit
ist eine Vorbedingung für Entwicklung.“
Der große Dammbruch erfolgte in den
Jahren 2004 und 2005 auf den alljährlichen
Treffen des zuständigen OECD-Entwicklungshilfeausschusses.
Dort beschlossen die jeweiligen Fachminister,
die ODA-Kriterien um sicherheitsrelevante
Aspekte zu erweitern.
Seither sind folgende Maßnahmen
ODA-anrechenbar:
-
Verwaltung der Sicherheitsausgaben
- Stärkung der Rolle der Zivilgesellschaft
im Sicherheitssystem
- Kindersoldaten (Prävention und
Demobilisierung)
- Reform des Sicherheitssektors
- Zivile Friedensentwicklung, Krisenprävention
und Konfliktlösung
- Handfeuerwaffen und leichte
Waffen
„Friedenserzwingende“ Maßnahmen
Derzeit werden bereits die Mittel
zur Unterstützung von Militärmissionen
der Afrikanischen Union (AU) über
die African Peace Facility finanziert
und damit dem Topf des Europäischen
Entwicklungsfonds entnommen, ODAanrechenbar
sind diese Gelder bislang
jedoch noch nicht. In diesem Zusammenhang
wurde allein die AU-Mission
im Sudan (AMIS) mit mehr als 300 Mio.
Euro unterstützt, ein Einsatz, der direkt
erhebliche wirtschaftliche und strategische
EU-Interessen berührt. Obwohl
betont wurde, bei dieser Querfinanzierung
handele es sich um „eine aus
der Not geborene Ausnahmelösung“,
wurden für die Jahre 2008 bis 2010
erneut 300 Mio. Euro eingestellt. Auch
im Tschad und der Zentralafrikanischen Republik sollen in den nächsten
fünf Jahren in diesem Rahmen Ausgaben
in Höhe von 436 Mio. Euro dem
Topf des Europäischen Entwicklungsfonds
entnommen werden. Mit der
Peace Facility wurde ein Präzedenzfall
geschaffen, an dem die Forderung
nach einer Erweiterung der ODA-Kriterien
auf Militäreinsätze aufgehängt
werden kann.
Noch weiter gehen die Forderungen,
sog. Peace Support Operations, friedenserhaltende
und selbst friedenserzwingende
UN-Einsätze mit einem
Mandat zur offensiven Gewaltanwendung
ODA-anrechenbar zu machen.
Sollte dieses gelingen, würde hiermit
Schätzungen zufolge eine Erhöhung
der Öffentlichen Entwicklungshilfe um
8-12% erfolgen, ohne dass die Geberländer
einen Cent mehr in die Armutsbekämpfung
investieren müssten. Gegenwärtig
am teuersten sind jedoch
Einsätze, die nicht von den Vereinten
Nationen geführt werden (Afghanistan,
Kosovo, Tschad, etc.). Sollte sich
die Forderung durchsetzen, selbst solche
Einsätze als ODA zu deklarieren,
würden die ODA-Zahlen rapide ansteigen.
Allein für Deutschland würde dies
eine „Erhöhung“ um 25% bedeuten.
„Entwicklungshilfe“ im Tschad
Auch in Österreich werden Militäreinsätze
wie im Tschad mit dem oben
beschriebenen neuen entwicklungspolitischen
Paradigma begründet. So
äußerte sich Hans Winkler, Staatssekretär
im Bundesministerium für
auswärtige Angelegenheiten, folgendermaßen:
„Nachhaltige Entwicklung
kann ohne Sicherheit und Stabilität
nicht erfolgen.“
Ungeachtet der österreichischen Neutralität,
beteiligt sich das Land deshalb
mit dieser Begründung mit derzeit 151
Soldaten am EU-Einsatz im Tschad.
Offiziell verfolgt der Einsatz das Ziel,
Flüchtlingslager militärisch zu schützen,
eine Maßnahme, die den ODAKriterien
zufolge eigentlich nicht anrechenbar
sein dürfte. Da darüber
hinaus heutzutage nahezu jeder
Kriegseinsatz humanitär begründet
wird – man erinnere sich nur an
die Bombardierung Jugoslawiens im
Jahr 1999 –, könnte die österreichische
Argumentation der groß angelegten
Zweckentfremdung von Entwicklungshilfe
Tür und Tor öffnen. Wohin
diese Entwicklung führen könnte,
deuten Aussagen des deutschen
CDU-Haushaltspolitikers Ole Schröder
an: „Missionen wie zum Beispiel in
Nordafghanistan und im Kongo sind
eindeutig Entwicklungshilfe.“ Entlarvend
ist jedoch Schröders Zusatz,
durch eine Finanzierung solcher „humanitärer
Missionen“ aus dem Entwicklungshilfe-Etat könne der Wehretat
„in Millionenhöhe entlastet“
werden.
Zynisch gesagt, sollte sich diese
Sichtweise durchsetzen, hätten die Industriestaaten
keinerlei Schwierigkeiten
ihre jahrzehntealten Zusagen, die
Entwicklungshilfe substanziell zu erhöhen,
einzuhalten, wenn dies über
eine einfache Umschichtung von Rüstungsausgaben
bewerkstelligt werden
kann. Schon heute geben die OECDLänder
30% ihrer Gelder für Maßnahmen
aus, die nicht unmittelbar der
Armutsbekämpfung dienen und deren
langfristige Wirkungen bestenfalls
hochgradig fragwürdig sind (z.B. Ausgaben
für ausländische Studenten
und die Kosten für die Unterbringung
von Asylbewerbern und Flüchtlingen,
einschließlich der Abschiebungskosten!).
In Deutschland beläuft sich diese
„Phantomhilfe“ nach Berechnungen
der Hilfsorganisation CONCORD
auf 43% der gesamten ODA-Ausgaben,
in Österreich sogar auf 62%.
Sollte nun am Beispiel des Tschad tatsächlich
eine generelle Anrechenbarkeit
von Militäreinsätzen ermöglicht
werden, verkommen alle vollmundigen
Zusagen der Gebergemeinschaft,
die Entwicklungshilfe substanziell zu
erhöhen, zu einem schlechten Witz.
Ohne Gerechtigkeit keine Sicherheit!
Die westlich-dominierte neoliberale
Weltwirtschaftsordnung hat eine
drastische Verarmung weiter Teile der
Weltbevölkerung verursacht, was die
wichtigste Ursache für das gewaltsame
Ausbrechen von Konflikten darstellt.
Wird diese Tatsache nicht
anerkannt, verbleiben alle Lösungsvorschläge
dabei, Symptome wortwörtlich
zu bekämpfen, statt die dem
zugrunde liegenden Ursachen zu beseitigen.
Dies würde aber nicht nur eine Fokussierung
der Entwicklungshilfe auf
Maßnahmen zur strikten Armutsbekämpfung
erfordern, sondern auch ein
Nachdenken darüber, ob sich die Entwicklungsarbeit
nicht grundsätzlich
einen neuen Schwerpunkt suchen
sollte. Dies erfordert aber eine systemkritische
Fokussierung der Entwicklungspolitik,
die es sich zur Hauptaufgabe
macht, den im Norden liegenden
Armutsursachen durch eine Veränderung
der neoliberalen Weltwirtschaftsordnung
entgegenzuarbeiten. Eine
solche Kehrtwende wäre die einzig
richtige Schlussfolgerung aus den
gravierenden Problemen, vor denen
die Welt heute steht. Da aber generell
keinerlei Bereitschaft existiert, die
Spielregeln der Weltwirtschaft zu verändern,
setzen die westlichen Industrienationen
immer stärker auf militärische
Mittel, um die systemisch
produzierten Armutskonflikte notdürftig
unter Kontrolle zu halten und perpetuieren
damit den Teufelskreis aus
Armut und Gewalt. Umso schlimmer
ist es, dass die Entwicklungspolitik immer
mehr zum Komplizen dieser Politik
zu werden droht und sich hierdurch
zunehmend diskreditiert.
Weitere Infos hierzu unter: Wagner, Jürgen: Mit Sicherheit keine Entwicklung!
Die Militarisierung der Entwicklungszusammenarbeit, August 2007.
URL: http://dokumente.linksfraktion.net/pdfmdb/7796242967.pdf
Dieser Beitrag erschien in: FriedensJournal, Nr. 4, Juli 2008
Das FriedensJournal wird vom Bundesausschuss Friedensratschlag herausgegeben und erscheint sechs Mal im Jahr. Redaktionsadresse (auch für Bestellungen und Abos):
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