Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Orwell’sches Neusprech im Tschad:

Militäreinsätze als "Entwicklungshilfe"

Von Jürgen Wagner, Informationsstelle Militarisierung e.V. (IMI)

Am 15. Oktober 2007 hatte die Europäische Union beschlossen, eine Militärmission in den Tschad und die Zentralafrikanische Republik zu entsenden. Nachdem Österreich von den bislang stationierten 1790 Soldaten des EUFOR Chad/RCA-Einsatzes 151 stellt, sorgte Mitte April die Meldung für große Empörung, dass die Kosten hierfür in Höhe von zunächst 25 Mio. Euro dem Entwicklungshilfeetat entnommen werden. So skandalös es ist, dass hiermit Gelder, die zur Armutsbekämpfung gedacht sind, regelrecht zweckentfremdet werden, ist dies jedoch keineswegs ein grundlegend neues Phänomen. Vielmehr ist die Querfinanzierung von Militäreinsätzen mit Hilfe von Entwicklungshilfegeldern innerhalb der EU schon länger gängige Praxis.

Ohne Sicherheit keine Entwicklung?

Mit der UN-Resolution 2626 vom 24. Oktober 1970 haben sich die Industriestaaten explizit darauf verständigt, mindestens 0,7% ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Entwicklungshilfe aufzuwenden. Zwar wird diese Marke bis heute von den meisten Ländern bei weitem nicht erreicht, gerade deshalb ist es aber eine entscheidende Frage, welche Ausgaben als Öffentliche Entwicklungshilfe (Official development Assistance – ODA) verrechnet werden können. Als solche werden Leistungen der öffentlichen Hand angerechnet, die an Länder vergeben werden, die von der OECD als Entwicklungsländer eingestuft werden und das Ziel der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung verfolgen. Nachdem militärische Aspekte jahrzehntelang kategorisch ausgeschlossen wurden und Entwicklungshilfe sich – zumindest formell – auf Armutsbekämpfung im engeren Sinne konzentrieren musste, liegt es auf der Hand, dass jede Öffnung der ODA-Kriterien zugunsten sicherheitspolitischer Ausgaben die Rüstungsetats entlasten hilft, eine Erhöhung der Entwicklungshilfe lediglich vorgaukelt und so gleichzeitig die miserable Bilanz der Geberländer schönen hilft.

Die Attraktivität einer solchen Querfinanzierung sicherheitspolitischer Aufgaben ist offensichtlich, sie erfordert aber ein Konstrukt, mit dem Militäreinsätze zu einem entwicklungspolitischen Projekt umdefiniert werden können. Obwohl in der Kriegsursachenforschung mittlerweile nahezu unstrittig Armut als wichtigster Faktor für das gewaltsame Eskalation von Konflikten in der sog. Dritten Welt identifiziert wurde, hat sich mittlerweile die Sichtweise durchgesetzt, Bürgerkriege in „gescheiterten Staaten“ seien ausschließlich auf Binnenfaktoren zurückzuführen (habgierige Warlords, ethnische Konflikte, etc.).

Da hierdurch westliche Investitionen und damit eine nachhaltige Entwicklung verhindert würden, bedürften solche Staaten der externen Stabilisierung durch das Militär. Mit der dahinter stehenden „Logik“ wird die entwicklungspolitische Prioritätensetzung auf den Kopf stellt. So formulierte z.B. der Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Jürgen Thuman „Die Grundhypothese ‚ohne Entwicklung keine Sicherheit‘ stellt sich häufig genau anders herum dar. ‚Ohne Sicherheit keine Entwicklung‘.“ Aus dem Bestreben, militärisch für die Realisierung von Profitinteressen zu garantieren und die bestehenden Hierarchie- und Ausbeutungsverhältnisse der Weltwirtschaftsordnung militärisch abzusichern, wird somit schamlos ein entwicklungspolitisches Projekt gemacht.

Sicherheitspolitische ODA-Kriterien

Dennoch ist diese Sichtweise mittlerweile in nahezu jedem sicherheitspolitischen und seit einiger Zeit auch entwicklungspolitischen Grundsatzdokument anzutreffen. So äußern sich nicht nur zahlreiche Politiker in diese Richtung, sondern auch die im Dezember 2003 verabschiedete Europäische Sicherheitsstrategie: „Eine Reihe von Ländern und Regionen bewegen sich in einem Teufelskreis von Konflikten, Unsicherheit und Armut.“ Während es sich hierbei noch um eine weit gehend unstrittige Tatsache handelt, ist die entscheidende Frage jedoch, wie aus diesem Teufelskreis ausgebrochen werden kann und welche Prioritäten damit gesetzt werden: „Sicherheit ist eine Vorbedingung für Entwicklung.“

Der große Dammbruch erfolgte in den Jahren 2004 und 2005 auf den alljährlichen Treffen des zuständigen OECD-Entwicklungshilfeausschusses. Dort beschlossen die jeweiligen Fachminister, die ODA-Kriterien um sicherheitsrelevante Aspekte zu erweitern. Seither sind folgende Maßnahmen ODA-anrechenbar:
  1. Verwaltung der Sicherheitsausgaben
  2. Stärkung der Rolle der Zivilgesellschaft im Sicherheitssystem
  3. Kindersoldaten (Prävention und Demobilisierung)
  4. Reform des Sicherheitssektors
  5. Zivile Friedensentwicklung, Krisenprävention und Konfliktlösung
  6. Handfeuerwaffen und leichte Waffen
„Friedenserzwingende“ Maßnahmen

Derzeit werden bereits die Mittel zur Unterstützung von Militärmissionen der Afrikanischen Union (AU) über die African Peace Facility finanziert und damit dem Topf des Europäischen Entwicklungsfonds entnommen, ODAanrechenbar sind diese Gelder bislang jedoch noch nicht. In diesem Zusammenhang wurde allein die AU-Mission im Sudan (AMIS) mit mehr als 300 Mio. Euro unterstützt, ein Einsatz, der direkt erhebliche wirtschaftliche und strategische EU-Interessen berührt. Obwohl betont wurde, bei dieser Querfinanzierung handele es sich um „eine aus der Not geborene Ausnahmelösung“, wurden für die Jahre 2008 bis 2010 erneut 300 Mio. Euro eingestellt. Auch im Tschad und der Zentralafrikanischen Republik sollen in den nächsten fünf Jahren in diesem Rahmen Ausgaben in Höhe von 436 Mio. Euro dem Topf des Europäischen Entwicklungsfonds entnommen werden. Mit der Peace Facility wurde ein Präzedenzfall geschaffen, an dem die Forderung nach einer Erweiterung der ODA-Kriterien auf Militäreinsätze aufgehängt werden kann.

Noch weiter gehen die Forderungen, sog. Peace Support Operations, friedenserhaltende und selbst friedenserzwingende UN-Einsätze mit einem Mandat zur offensiven Gewaltanwendung ODA-anrechenbar zu machen. Sollte dieses gelingen, würde hiermit Schätzungen zufolge eine Erhöhung der Öffentlichen Entwicklungshilfe um 8-12% erfolgen, ohne dass die Geberländer einen Cent mehr in die Armutsbekämpfung investieren müssten. Gegenwärtig am teuersten sind jedoch Einsätze, die nicht von den Vereinten Nationen geführt werden (Afghanistan, Kosovo, Tschad, etc.). Sollte sich die Forderung durchsetzen, selbst solche Einsätze als ODA zu deklarieren, würden die ODA-Zahlen rapide ansteigen. Allein für Deutschland würde dies eine „Erhöhung“ um 25% bedeuten.

„Entwicklungshilfe“ im Tschad

Auch in Österreich werden Militäreinsätze wie im Tschad mit dem oben beschriebenen neuen entwicklungspolitischen Paradigma begründet. So äußerte sich Hans Winkler, Staatssekretär im Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten, folgendermaßen: „Nachhaltige Entwicklung kann ohne Sicherheit und Stabilität nicht erfolgen.“

Ungeachtet der österreichischen Neutralität, beteiligt sich das Land deshalb mit dieser Begründung mit derzeit 151 Soldaten am EU-Einsatz im Tschad. Offiziell verfolgt der Einsatz das Ziel, Flüchtlingslager militärisch zu schützen, eine Maßnahme, die den ODAKriterien zufolge eigentlich nicht anrechenbar sein dürfte. Da darüber hinaus heutzutage nahezu jeder Kriegseinsatz humanitär begründet wird – man erinnere sich nur an die Bombardierung Jugoslawiens im Jahr 1999 –, könnte die österreichische Argumentation der groß angelegten Zweckentfremdung von Entwicklungshilfe Tür und Tor öffnen. Wohin diese Entwicklung führen könnte, deuten Aussagen des deutschen CDU-Haushaltspolitikers Ole Schröder an: „Missionen wie zum Beispiel in Nordafghanistan und im Kongo sind eindeutig Entwicklungshilfe.“ Entlarvend ist jedoch Schröders Zusatz, durch eine Finanzierung solcher „humanitärer Missionen“ aus dem Entwicklungshilfe-Etat könne der Wehretat „in Millionenhöhe entlastet“ werden.

Zynisch gesagt, sollte sich diese Sichtweise durchsetzen, hätten die Industriestaaten keinerlei Schwierigkeiten ihre jahrzehntealten Zusagen, die Entwicklungshilfe substanziell zu erhöhen, einzuhalten, wenn dies über eine einfache Umschichtung von Rüstungsausgaben bewerkstelligt werden kann. Schon heute geben die OECDLänder 30% ihrer Gelder für Maßnahmen aus, die nicht unmittelbar der Armutsbekämpfung dienen und deren langfristige Wirkungen bestenfalls hochgradig fragwürdig sind (z.B. Ausgaben für ausländische Studenten und die Kosten für die Unterbringung von Asylbewerbern und Flüchtlingen, einschließlich der Abschiebungskosten!). In Deutschland beläuft sich diese „Phantomhilfe“ nach Berechnungen der Hilfsorganisation CONCORD auf 43% der gesamten ODA-Ausgaben, in Österreich sogar auf 62%. Sollte nun am Beispiel des Tschad tatsächlich eine generelle Anrechenbarkeit von Militäreinsätzen ermöglicht werden, verkommen alle vollmundigen Zusagen der Gebergemeinschaft, die Entwicklungshilfe substanziell zu erhöhen, zu einem schlechten Witz.

Ohne Gerechtigkeit keine Sicherheit!

Die westlich-dominierte neoliberale Weltwirtschaftsordnung hat eine drastische Verarmung weiter Teile der Weltbevölkerung verursacht, was die wichtigste Ursache für das gewaltsame Ausbrechen von Konflikten darstellt. Wird diese Tatsache nicht anerkannt, verbleiben alle Lösungsvorschläge dabei, Symptome wortwörtlich zu bekämpfen, statt die dem zugrunde liegenden Ursachen zu beseitigen.

Dies würde aber nicht nur eine Fokussierung der Entwicklungshilfe auf Maßnahmen zur strikten Armutsbekämpfung erfordern, sondern auch ein Nachdenken darüber, ob sich die Entwicklungsarbeit nicht grundsätzlich einen neuen Schwerpunkt suchen sollte. Dies erfordert aber eine systemkritische Fokussierung der Entwicklungspolitik, die es sich zur Hauptaufgabe macht, den im Norden liegenden Armutsursachen durch eine Veränderung der neoliberalen Weltwirtschaftsordnung entgegenzuarbeiten. Eine solche Kehrtwende wäre die einzig richtige Schlussfolgerung aus den gravierenden Problemen, vor denen die Welt heute steht. Da aber generell keinerlei Bereitschaft existiert, die Spielregeln der Weltwirtschaft zu verändern, setzen die westlichen Industrienationen immer stärker auf militärische Mittel, um die systemisch produzierten Armutskonflikte notdürftig unter Kontrolle zu halten und perpetuieren damit den Teufelskreis aus Armut und Gewalt. Umso schlimmer ist es, dass die Entwicklungspolitik immer mehr zum Komplizen dieser Politik zu werden droht und sich hierdurch zunehmend diskreditiert.

Weitere Infos hierzu unter: Wagner, Jürgen: Mit Sicherheit keine Entwicklung! Die Militarisierung der Entwicklungszusammenarbeit, August 2007.
URL: http://dokumente.linksfraktion.net/pdfmdb/7796242967.pdf



Dieser Beitrag erschien in: FriedensJournal, Nr. 4, Juli 2008

Das FriedensJournal wird vom Bundesausschuss Friedensratschlag herausgegeben und erscheint sechs Mal im Jahr. Redaktionsadresse (auch für Bestellungen und Abos):
Friedens- und Zukunftswerkstatt e.V.
c/o Gewerkschaftshaus Frankfurt
Wilhelm-Leuschner-Str. 69-77
60329 Frankfurt a.M.
(Tel.: 069/24249950); e-mail: Frieden-und-Zukunft@t-online.de )



Zurück zur Tschad-Seite

Zurück zur Homepage