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Niemand ist mehr sicher

Ausbleibende TouristInnen, leere Restaurants, sinkende Grundstückpreise: Die eskalierende Gewalt in Südthailand hat viele Folgen

Von Alois Leinweber, Petaling Jaya*

«Ein Malaysier und elf Thais bei Bombenanschlag auf einem Markt an der Grenze verletzt.» Das meldete der Nachrichtenticker der thailändischen Tageszeitung «Bangkok Post» am vergangenen 20. November aus Sungai Kolok, einer kleinen Grenzstadt zu Malaysia im Süden Thailands. Wenige Minuten nach der ersten Explosion detonierte eine zweite Bombe, nur ein paar Meter entfernt vom Ort des ersten Anschlags.

Anschläge wie diese gehören in Südthailand mittlerweile zum Alltag. Seit über zwanzig Monaten werden die vorwiegend muslimischen Südprovinzen Thailands - Narathiwat, Pattani und Yala - fast täglich von Mord- und Bombenanschlägen erschüttert. Niemand kann sich mehr sicher fühlen. Da wird ein Imam vor der Moschee erschossen, ein Mann mit Benzin übergossen und verbrannt, und irgendwo explodiert eine Bombe mit meist tödlichen Folgen. Kautschukzapfer wagen sich nachts nicht mehr in die Plantagen, nachdem mehrere ihrer Kollegen mitten in der Nacht ermordet - einige sogar geköpft - wurden. Es sind Fälle bekannt, in denen an Leichen geköpfter Buddhisten Zettel geheftet waren mit der Nachricht, der Mord sei ein Racheakt für Übergriffe der Sicherheitskräfte.

Sungai Kolok, die am gleichnamigen Fluss gelegene Grenzstadt, verödet langsam, seit die TouristInnen ausbleiben. Sie kamen vor allem aus dem benachbarten Kelantan, dem nördlichsten Bundesstaat Malaysias. Die Restaurants und die Bordelle bleiben leer, und auch Familienbesuche sind nicht mehr so häufig. Viele Geschäfte, die früher bis 22 Uhr oder 23 Uhr geöffnet hatten, schliessen mittlerweile um 20 Uhr, weil ihre BesitzerInnen um ihr Leben fürchten. Grundstücke in der Gegend sind nur noch halb so viel wert wie noch vor zwei Jahren. Der Terror richtet sich nicht nur gegen die BuddhistInnen, die als RepräsentantInnen der Zentralregierung gelten. «Ob Muslime oder Buddhisten, es trifft alle hart», sagt Azmi Tohmeena, Muslim und Manager einer Leihfirma, zu den Überfällen. Seit Beginn der Auseinandersetzungen Anfang letzten Jahres sind in den vorwiegend muslimischen Südprovinzen Thailands über 1100 Menschen getötet worden.

Koordinierte Anschläge

Dabei hatte im Süden Thailands jahrelang weitgehend Ruhe geherrscht. Separatistische Organisationen wie die Pulo (Pattani United Liberation Organization, die sich mittlerweile in einen «neuen» und einen «alten» Flügel gespalten hat), die Gerakan Mujahidin Islam Pattani oder die Revolusi Barisan Nasional waren praktisch bedeutungslos geworden. Erst eine gut koordinierte Anschlagserie gab Anfang 2004 den Anstoss zu einer Welle von Gewalt, in deren Sog auch die genannten Organisationen wieder an Kraft gewinnen: Am 4. Januar brannten unbekannte Täter zwanzig Schulen in der Südprovinz Narathiwat nieder und plünderten ein Militärlager; dabei wurden vier Soldaten getötet. Am nächsten Tag kamen zwei Polizisten bei einem Bombenanschlag in der Stadt Pattani ums Leben. In den darauf folgenden Wochen und Monaten eskalierte die Gewalt.

Das brutale Vorgehen der ohnehin ungeliebten Sicherheitskräfte tat ein Übriges, die Stimmung weiter anzuheizen. Am 28. April 2004 stürmte die Polizei die Krue-Se-Moschee in Pattani und erschoss 32 Menschen. Die Männer hatten sich nach einem Überfall auf eine Polizeiwache in der Moschee verschanzt; die meisten von ihnen waren Teenager. Am 25. Oktober 2004 protestierten 3000 Menschen, vorwiegend Jugendliche, vor der Polizeistation in Tak Bai in der Provinz Narathiwat. Sie forderten die Freilassung von sechs Mitgliedern einer lokalen «Sicherheitsgruppe», der vorgeworfen wurde, Waffen an Militante weitergegeben zu haben. Der Protest eskalierte, Autos wurden umgestürzt, und die Menge versuchte, die Polizeistation zu stürmen. Die Polizei setzte bei der sechs Stunden dauernden Auseinandersetzung Tränengas und Wasserwerfer ein. Ein Demonstrant wurde getötet, 1300 verhaftet und in ein Armeelager in Pattanis Nong-Chik-Distrikt gebracht. Dafür wurden sie mit auf den Rücken gebundenen Händen auf Lastwagen übereinander gestapelt. 78 von ihnen erstickten bei der Fahrt in das 130 Kilometer weit entfernte Armeelager.

Gescheiterte Propaganda

In den Monaten nach den ersten Anschlägen hatten Polizei und Militär noch versucht, mit einer Propagandakampagne die muslimischen Thai-Malaien und -Malaiinnen für sich zu gewinnen. Die Vorfälle in der Kru-Se-Moschee und das Massaker von Tak Bai liessen dieses Vorhaben definitiv scheitern. «Die Menschen werden die Soldaten und die Polizei nur noch mehr hassen», hiess es in einem Kommentar in der «Bangkok Post». «Die Menschen wurden wie Tiere behandelt.»

Die Zentralregierung verliert nach und nach die Kontrolle über das Geschehen im Süden des Landes, auch wenn sie das nicht zugibt. Mit koordiniert ausgeführten Anschlägen demonstrieren die Militanten, wie hilflos die Regierung ist. So gab es am 7. November, wenige Stunden nach dem Besuch von Premierminister Shinawatra Thaksin in Narathiwat, praktisch gleichzeitig Anschläge auf zwanzig verschiedene Einrichtungen der Zentralregierung: auf Polizeistationen, Strassenkontrollpunkte, aber auch auf Schulen. Auch der Ausnahmezustand, den die Regierung am vergangenen 29. Juli ausrief und am 19. Oktober um weitere drei Monate verlängerte, hat nicht zur Beruhigung der Situation beigetragen. Im Gegenteil: Statt ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, verschaffen die massiven Truppenbewegungen und -stationierungen den Menschen das Gefühl, im Krieg zu leben.

Drogenhändlerinnen? Islamisten?

Wer steckt hinter den Anschlägen? Klarheit darüber gibt es nicht, es kursieren bloss Vermutungen. «Es können Waffenschieber, Drogenhändler, das Militär oder Separatisten sein», sagt eine Dozentin am Institut für Südostasiatische Studien der Universität von Malaysia in Kuala Lumpur. «Allerdings bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob die Separatisten überhaupt noch beteiligt sind. Die sind nicht in der Lage, so viele Menschen zu mobilisieren.» Islamistische Separatisten, militante Muslime - solche und ähnliche Worthülsen, die immer wieder gebraucht werden, helfen nicht, das Problem zu erhellen. Und die oft zitierten Verbindungen lokaler Gruppen zu ausländischen militanten Gruppierungen wie der indonesischen Jemaah Islamiyah oder al-Kaida stehen keineswegs fest. Gemäss der International Crisis Group (ICG), die weltweit Expertisen zu gewalttätigen Konflikten erstellt, gibt es keine Hinweise auf solche Verbindungen. Die Befürchtungen seien aber berechtigt, dass bei einem weiteren Eskalieren der Gewalt ausländische Dschihad-Gruppen die Gunst der Stunde nutzten, um Trainingscamps in der Region aufzubauen.

Dass die militärischen Einsätze den Süden nicht zur Ruhe bringen können, zeigt sich immer deutlicher. Der thailändischen Regierung schlägt die ICG vor, regelmässig gemeinsame Beratungen mit religiösen Führern und Gemeindevertretern zu organisieren, um so die kulturelle Kluft zwischen dem muslimischen Süden und dem buddhistischen Teil Thailands zu überbrücken. Eine weitere Massnahme könnte darin bestehen, bei der Besetzung von Regierungs- und Verwaltungsstellen der malaiisch-muslimischen Bevölkerungsmehrheit Rechnung zu tragen. Denn obwohl die Mehrheit der Menschen in den Südprovinzen muslimisch ist, sind Behörden und Polizei mehrheitlich von Angehörigen des buddhistischen Glaubens besetzt.

Tiefes Misstrauen

Eine angemessene Untersuchung und Bestrafung der Verbrechen ist unter den Bestimmungen des Ausnahmezustands, die Armee und Polizei Straffreiheit garantieren, nicht möglich. Die Bevölkerung versucht deshalb immer häufiger, selbst für Sicherheit zu sorgen und die «Sicherheitskräfte» der Zentralregierung aus ihren Gemeinden zu verbannen.

Dass unterschiedliche Religionen einem friedlichen Zusammenleben der Menschen nicht im Wege stehen müssen, zeigt das Beispiel der Thai-Gemeinden im nördlichsten Zipfel Kelantans im malaysischen Grenzgebiet zu Thailand. Dort leben buddhistische Thais seit Generationen im muslimischen Umfeld. «Bei uns, speziell in meinem Wahlbezirk in Tumpat, gibt es viele Buddhastatuen und buddhistische Tempel. Die Thais schenken Alkohol in ihren Restaurants aus und züchten Schweine», erzählt Dato’ Kamarudin Jaffar, Mitglied des malaysischen Parlaments und Sekretär der Oppositionspartei PAS. «Das alles ist möglich. Mir ist nichts davon bekannt, dass es da jemals Spannungen gegeben hat.»


Armut und Unmut

In Thailand leben rund 6 Millionen MuslimInnen - bei einer Gesamtbevölkerung von 62 Millionen Menschen. Achtzig Prozent der MuslimInnen Thailands leben in den drei Südprovinzen Narathiwat, Pattani und Yala. Die MalaiInnen, die zu nahezu hundert Prozent muslimischen Glaubens sind, waren die ursprünglichen SiedlerInnen der heutigen Südprovinzen Thailands. Diese waren Teil des malaiischen Königreichs Pattani, das dem Königreich Siam tributpflichtig war. 1902 annektierte Siam das Königreich Pattani. 1909 schlossen Siam und Britannien einen Vertrag, in dem die britische Kolonialmacht ihre Grenzen gegenüber Thailand festlegte. Die Sultanate Perlis, Kedah, Kelantan und Terengganu kamen unter britische Kontrolle und gehören heute zu Malaysia. Siam (das sich ab 1939 Thailand nannte) behielt Pattani, Narathiwat, Songkhla und Yala. In diesen Provinzen fand eine umfassende kulturelle Kolonisierung statt. Die MalaiInnen mussten Thai-Namen annehmen, ihre Sprache, Malaiisch, wurde lange unterdrückt. Dazu kommt die Diskriminierung und Vernachlässigung auch im wirtschaftlichen Bereich. Schliesslich hat auch die grosse Korruption bei Polizei, Armee und anderen Regierungsstellen Unruhe und den Unmut in den Grenzregionen lebendig gehalten und die wirtschaftliche Entwicklung behindert, sodass die Region heute zu den ärmsten im Land gehört.



Aus: Wochenzeitung WOZ, 8. Dezember 2005; (www.woz.ch)


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