Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Aufdringliche Helfer

Syrien: UN-Sicherheitsrat debattiert Unterstützung ohne Zustimmung aus Damaskus

Von Karin Leukefeld *

Im UN-Sicherheitsrat (UNSR) in New York ist am Montag (Ortszeit) erneut über eine grenzüberschreitende UN-Mission nach Syrien debattiert worden. Anfang Juni hatten die UNSR-Mitgliedsstaaten Austra­lien, Jordanien und Luxemburg einen Resolutionsentwurf eingebracht, der die Lieferung von humanitärer Hilfe aus den Nachbarländern ohne die Zustimmung der syrischen Regierung vorsieht. Die neue Initiative soll an die UNSR-Resolution zu Hilfen vom Februar dieses Jahres anknüpfen, die einstimmig verabschiedet worden war. Kurz darauf hatte UN-Generalsekretär Ban Ki Moon allerdings die humanitäre Hilfe erneut als unzureichend bezeichnet. Im Mai hätten weniger Menschen humanitäre Hilfe erhalten als im April. In einem Schreiben an den UN-Sicherheitsrat teilte Ban Ende Juni mit, die UN könne »rasche, pragmatische und praktische Vereinbarungen an den kritischen Grenzübergängen« einleiten, um über diese mehr Hilfe zu liefern. Demnach könnten UN-Konvois die Grenze nach Syrien »in ihren eigenen Fahrzeugen, ohne Sondergenehmigungen oder Visa« passieren.

Der nun vorgelegte Resolutionsentwurf soll festlegen, daß Hilfskonvois von UN- und anderen mit ihnen kooperierenden Organisationen aus dem Irak, der Türkei und aus Jordanien nach Syrien fahren sollen. Die Grenzübergänge aus der Türkei werden – in Kooperation mit der türkischen Armee – von verschiedenen irregulären Kampfverbänden kontrolliert. Dort werden nicht nur Waffen und Kämpfer nach Syrien, sondern auch Diebesgut und Rohstoffe aus Syrien in die Türkei gebracht. Rußland fordert die Verurteilung des illegalen Verkaufs syrischen Öls durch bewaffnete Gruppen und fordert alle Staaten auf, diesen Handel zu unterbinden. Die Hilfslieferungen der UNO sollen an diesen Grenzübergängen durch ein UN-internes Kontrollsystem überwacht werden. Wer die »sofortige und ungehinderte Lieferung« humanitärer Hilfe blockiert, soll bestraft werden können. Die Art der Bestrafung soll im Einzelfall vom UN-Sicherheitsrat beschlossen werden.

Die syrische Regierung warnte den UN-Sicherheitsrat, daß Damaskus eine von Syrien nicht autorisierte grenzüberschreitende Mission in die Gebiete, die von bewaffneten Gruppen gehalten werden, als »Angriff auf die Souveränität des Staates« ansähe. Unterstützt wird diese Position von Dutzenden syrischen und arabischen Rechtsanwälten, die sich mit einem Schreiben an den UN-Sicherheitsrat gewandt haben. Das einzige Ziel einer solchen Opera­tion sei, »unter der Fahne der Vereinten Nationen logistische Hilfe für Terroristen« in Syrien zu leisten, heißt es in dem Brief.

Rußland hat sich derweil mit der syrischen Regierung darauf verständigt, daß UN-Hilfsoperationen aus Nachbarstaaten unter bestimmten Bedingungen zugestimmt werden könne. Der syrische UN-Botschafter Baschar Al-Dschafari bestätigte, man sei mit der UNO im Gespräch über die Öffnung der Grenzübergänge, fordere allerdings eine syrische Kontrolle. Australien hat diesen Vorschlag bereits als »nicht gut genug« zurückgewiesen. Das UN-Büro für Rechtsangelegenheiten geht einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters zufolge davon aus, daß grenzüberschreitende UN-Missionen auch ohne die Zustimmung der syrischen Regierung zulässig seien. Die Vereinten Nationen und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) führen derzeit mit Partnerorganisationen in Syrien umfassende Hilfsoperationen durch. Die syrische Armee untersagt häufig in umkämpften Gebieten die Passage von Konvois »aus Sicherheitsgründen«. Kampfverbände blockieren ebenfalls die Lieferung von Hilfsgütern.

IKRK-Sprecher Ralph El Hage sagte im Gespräch mit jW in Damaskus, die humanitäre Arbeit werde in Syrien wenig verstanden. Bei vielen der irregulären Kampfgruppen gäbe es keine Kenntnis und keine Akzeptanz der grundlegenden Prinzipien des internationalen humanitären Rechts. Darum bereite das IKRK nun Informationsbroschüren und Schulungen vor. Das IKRK operiere in Syrien seit Jahrzehnten mit der Zustimmung der Regierung, nicht zuletzt, um die Sicherheit der Mitarbeiter zu gewährleisten, so Hage. Das entspreche IKRK-Prinzipien in jedem Land, bedeute aber nicht, daß man tue, was die Regierung wolle. An grenzüberschreitenden humanitären Operationen beteilige man sich nur, wenn sie von der syrischen Regierung bewilligt seien. Die Abstimmung im UN-Sicherheitsrat stand bei Redak­tionsschluß noch aus.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 8. Juli 2014


Rojava in Gefahr

»Islamischer Staat« greift selbstverwaltete Kurdengebiete in Nordsyrien an. Erbeutete Waffen aus dem Irak im Einsatz

Von Nick Brauns **


Die seit zwei Jahren selbstverwalteten kurdischen Landesteile Syriens stehen vor ihrer bisher schwersten Bedrohung. Tausende Dschihadisten der Gruppe »Islamischer Staat« (IS) haben Mitte vergangener Woche einen Großangriff auf Kobani begonnen, den kleinsten der drei Kantone der Rojava genannten Region. Zum Einsatz kommen schwere Waffen, die die Miliz, die sich zuvor »Islamischer Staat im Irak und in der Levante« (ISIL) nannte, bei der Einnahme der irakischen Stadt Mossul von der Armee erbeuten konnte. Darunter sind auch mindestens zehn Panzer.

Innerhalb von nur vier Tagen wurden nun 3000 Mörsergranaten auf Kobani abschossen. Die IS-Kämpfer versuchen, die an die türkische Provinz Urfa grenzende Region einzuschließen. Die Volksverteidigungseinheiten (YPG) der Selbstverwaltungsregion haben die Zivilbevölkerung aus dem derzeitigen Kampfgebiet bei Zor Mixar, 45 Kilometer westlich der Stadt Kobani, evakuiert. Die Zahl der in den vergangenen Tagen Getöteten – die Mehrheit davon auf Seiten der Dschihadisten – geht YPG-Angaben zufolge bereits in die Hunderte. Die Kantonalregierung von Kobani hat die Generalmobilmachung angeordnet. Sollte Kobani fallen, wäre die heute schon in weiten Teilen von den islamischen Banden kontrollierte Verbindung zu den beiden anderen kurdischen Kantonen Afrin nördlich von Aleppo und Cazira im Nordosten Syriens abgerissen.

Dazu kommt die symbolische Bedeutung Kobanis als einer Hochburg der kurdischen Befreiungsbewegung. Tausende Guerillas aus der Region kämpften in den 90er Jahren in den Reihen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gegen die türkische Armee. Am 19. Juli 2012 begann in Kobani die Selbstverwaltung Rojavas mit der unblutigen Übernahme von Regierungsgebäuden durch eine von der Partei der Demokratischen Einheit (PYD) – einer Schwesterpartei der PKK – geführte Volksbewegung. Unter der Baath-Herrschaft wurde der kurdische Name Kobani in Ain Al-Arab – »Auge der Araber« – geändert. Die IS bezeichnet die Region heute als »Auge des Islam«.

Es sei der strategische Plan der IS, zuerst die Vorherrschaft über Rojava zu erringen, um dann die kurdischen Gebiete des Irak anzugreifen, warnte PKK-Exekutivratsmitglied Murat Karayilan im Fernsehsender Ronahi TV den Präsidenten der kurdischen Autonomieregion im Irak, Masud Barsani davor, gegenüber der terroristischen Bedrohung weiter passiv zu bleiben. »Nicht nur Kobani sondern alle Teile Kurdistans sind bedroht. Wenn die IS heute Kobani unter seine Kontrolle bringt, werden sie morgen Kirkuk kontrollieren.« Die PKK rief die »patriotische Jugend« in allen Teilen Kurdistans zur Massenmobilisierung für die Verteidigung Kobanis auf.

Die IS erhalte weiterhin logistische Unterstützung durch die türkische Regierung, behauptet unterdessen der Anführer der zur oppositionellen Freien Syrischen Armee (FSA) gehörenden Kurdischen Front, Hadschi Ahmed Kurdi. IS-Kämpfer überquerten offen die türkische Grenze, zudem seien von der IS gefangene Unterstützer der Kurdischen Front von türkischen Offizieren verhört worden. Die IS wolle zuerst die nahe der türkischen Grenze gelegene Stadt Azaz unter ihre Kontrolle bekommen, um von dort aus einen Angriff auf den kurdischen Kanton Afrin zu starten. Andere Einheiten der FSA und der Islamischen Front seien in Auflösung, so daß nur noch die Kurdische Front Widerstand gegen die IS leiste, so Kurdi.

Unterdessen verpflichteten sich die YPG gegenüber einer Delegation der dem Schutz von Zivilisten in Kriegssituationen verschriebenen Schweizer Nichtregierungsorganisation Geneva Call, keine Minderjährigen mehr aufzunehmen. 130 unter 18jährige wurden bereits aus den YPG ausgeschlossen. »Die YPG ist eine nationale Kraft, die ihre Legitimation und ihre Loyalität zu humanitären Werten unter Beweis gestellt hat«, würdigte die Leiterin der Delegation des Geneva Call, Elizabeth Dikri Werna, die Unterzeichnung der Verpflichtungserklärung.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 8. Juli 2014


Zurück zur Syrien-Seite

Zur Syrien-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur UNO-Seite

Zur UNO-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage