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Militäraktion in Syrien

Ankara lässt Truppen ins Nachbarland einmarschieren, um Wachmannschaft eines Grabkomplexes in türkischer Enklave zu evakuieren

Von Nick Brauns *

Türkische Bodentruppen sind in der Nacht zum Sonntag weit auf syrisches Territorium vorgestoßen, um von den Dschihadisten des »Islamischen Staates« (IS) eingeschlossene Soldaten aus einem Grabkomplex zu retten. Die Rettungsaktion galt der aus rund 40 türkischen Elitesoldaten bestehenden Wachmannschaft des Suleiman-Schah-Grabmals. Diese Ruhestätte des Großvaters des Begründers des Osmanischen Reiches, Osman I., liegt rund 35 Kilometer tief in Syrien auf einer Halbinsel am Euphrat. Aufgrund eines 1921 mit der damaligen syrischen Mandatsmacht Frankreich geschlossenen Abkommens betrachtet die Regierung in Ankara die Grabstätte völkerrechtlich als zur Türkei gehörig. Dortige Oppositionsmedien hatten unter Berufung auf Militärquellen behauptet, die normalerweise vierteljährlich ausgetauschte Besatzung des Grabmals sei seit elf Monaten vom IS eingeschlossen und auf die Versorgung durch die Dschihadisten angewiesen.

Nach Angaben von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu waren an der »potentiell mit erheblichen Risiken« verbundenen Sah-Firat-Operation 572 Soldaten mit 39 Panzern und Dutzenden gepanzerten Fahrzeugen sowie Kampfflugzeugen beteiligt. Die Operation habe einen »guten Verlauf« genommen, es sei zu keinen militärischen Auseinandersetzungen gekommen, erklärte Davutoglu am Sonntag auf einer Pressekonferenz mit dem Verteidigungsminister und dem Generalstabschef in Ankara. Ein Soldat sei bei einem Unfall ums Leben gekommen, die anderen wurden über den Grenzübergang der im Januar von kurdischen Kämpfern vom IS befreiten Stadt Kobani sicher in die Türkei gebracht. Die sichergestellten Reliquien aus dem Osmanengrab sollen in den kommenden Tagen an einem von der türkischen Armee gleichzeitig mit der Evakuierungsaktion besetzten Ort beim syrischen Dorf Esmesi 200 Meter von der Grenze entfernt beigesetzt werden.

Seine Regierung habe bei keiner »ausländischen Partei« um Erlaubnis gefragt, doch die Anti-IS-Koalition informiert, behauptete Davutoglu. Offenbar gab es dabei eine – von der türkischen Regierung nicht öffentlich eingestandene – Kooperation mit den Volksverteidigungseinheiten (YPG) im syrisch-kurdischen Selbstverwaltungsgebiet von Kobani. So hatte YPG-Sprecher Can Polat bereits am Freitag über Twitter mitgeteilt, die türkische Armee habe die kurdischen Milizen um Beistand bei einer geplanten Rettungsaktion gebeten. Der Verteidigungsminister des Kantons Kobani habe seine Erlaubnis für den Truppendurchmarsch gegeben, meldete die kurdische Nachrichtenagentur Firat am Sonntag. Es habe sich um eine gemeinsame Operation der türkischen Armee und der YPG zur Rettung der Soldaten gehandelt. Ankara betrachtete die YPG bislang als terroristische Vereinigung.

Bereits im Frühjahr letzten Jahres hatte der IS gefordert, dass die türkische Fahne über dem Grabkomplex entfernt werden müsse. Der damalige Ministerpräsident – und jetzige Präsident – Recep Tayyip Erdogan hatte daraufhin erklärt, ein Angriff auf die Grabstätte werde als Angriff auf die Türkei verstanden und militärisch beantwortet. Eine Evakuierung des Grabes wurde von der AKP-Regierung bislang abgelehnt, da die nationalistische Öffentlichkeit der Türkei dies als Zurückweichen verstehen würde. Dass die Regierung jetzt doch solche Maßnahmen ergriffen und faktisch türkisches Territorium dem IS-Kalifat überlassen hat, deutet auf eine massive Verschlechterung des Verhältnisses zum IS hin. Lange hatte Ankara die Aktivitäten der Dschihadisten von türkischem Territorium aus logistisch unterstützt, um mit deren Hilfe die Etablierung einer kurdischen Selbstverwaltungszone an seiner Grenze zu verhindern. Doch nach der Niederlage des IS in Kobani häufen sich Meldungen über in der Türkei festgenommene IS-Kämpfer. Der türkische Geheimdienst warnte zudem vor einem erhöhten Anschlagsrisiko. Anstatt auf den unkontrollierbar gewordenen IS setzt Ankara jetzt verstärkt auf die gemeinsam mit den USA zum Kampf gegen den IS und die syrische Regierung ausgebildeten »gemäßigten« Rebellen.

* Aus: junge Welt, Montag, 23. Februar 2015


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