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"Wir Frauen wissen, dass es um die eigene Befreiung geht"

Kurden in Nordsyrien: Frauenquote von 40 Prozent nicht nur in Behörden, sondern auch in der Armee. Ein Gespräch mit Cihan Mihamed *


Cihan Mihamed ist stellvertretende Sprecherin des Amts für Außenbeziehungen im Kanton Afrin im kurdischen Autonomiegebiet in Rojava in Nordsyrien. Neben dem vom Islamischen Staat (IS) attackierten Kobani gibt es dort die beiden Kantone Afrin und Cizire.

Mitten im Krieg wollen die Bewohner des Kantons Afrin im kurdischen Autonomiegebiet Rojava in Nordsyrien eine fortschrittliche Selbstverwaltungs aufbauen. Wie kann das funktionieren, wenn auch Afrin von der Terrormiliz IS bedroht ist?

Aktuell ist die Lage in Afrin im Vergleich zu Kobani ruhig. Freilich hat der IS das gesamte Gebiet unseres Kantons, der von Bergen umgeben ist, quasi eingeschlossen. Immer wieder versuchen dessen Kämpfer, Panik zu verbreiten, indem sie Bergdörfer angreifen. Uns Kurden ist daran gelegen, mit umliegenden arabischen Dörfern Frieden zu wahren. Die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten - YPG und YPJ - halten jedenfalls in den 365 Bergdörfern unseres Kantons Wache, um Attacken des IS abzuwehren.

Vor Kriegsbeginn hatten in Afrin etwa 500.000 Menschen gelebt, zur Zeit sind es wegen der vielen Flüchtlinge etwa 1,2 Millionen. Etwa zehn Prozent davon sind Araber, die vor dem Bürgerkrieg aus den syrischen Städten Aleppo und Damaskus zu uns geflohen sind. Die Lage im ganzen Land ist instabil. Einerseits gibt es in Afrin noch den normalen Alltag, Menschen verrichten täglich ihre Arbeit. Auf der anderen Seite rüsten wir uns für einen Krieg, um uns gegebenenfalls verteidigen zu können. Unsere Bevölkerung übt den Umgang mit der Waffe - und ja, es gibt unser fortschrittliches Selbstverwaltungsprojekt, das wir auch nicht aufgeben wollen. Denn wir sind sehr freiheitsliebend.

Wie gestaltet sich die Selbstverwaltung?

Wir haben 2011 begonnen, sogenannte Volksräte in den Nachbarschaften und Stadtvierteln zu bilden. Wir müssen jetzt viele neue Aufgaben wahrnehmen. Zum Beispiel sind mein Kollege Süleyman Jaffer und ich erst seit kurzem als Sprecher im Amt für Außenbeziehungen in Afrin tätig. Er ist von Beruf Beamter, ich bin Lehrerin.

Bei uns regiert sich das Volk selber, wir sind aber offen für Meinungen und Vorschläge, die von außen an uns herangetragen werden. Möglichst zügig wollen wir freie Wahlen vorbereiten; noch hindert uns der Krieg daran. In Afrin gibt es drei Parteien, eine davon ist die der PKK nahestehende PYD (Partei der Demokratischen Union).

Sie wollen auch die Gleichberechtigung der Frauen vorantreiben - in welcher Weise?

Bei uns gilt generell eine Geschlechterquote von 40 Prozent in allen zivilen, ökonomischen und militärischen Bereichen. Das betrifft auch die Behörden und die kurdische Armee. Ministerpräsidentin in Afrin ist Hevi Ibrahim Mustafa. Es gibt 22 Ministerien, jeweils mit einer Frau und einem Mann besetzt - darunter ist ein Ministerium für Frauen, das eigens zu deren Schutz gegründet wurde. Nur wenn die Frauen frei sind, kann eine Gesellschaft befreit werden.

Während der Reise, die mein Kollege und ich zur Zeit durch Europa machen, ist uns aufgefallen: Die europäischen Frauen haben wahrgenommen, dass es sich bei unseren Abwehrgefechten gegen den IS vor allem auch um einen Kampf gegen die Frauenunterdrückung handelt. Insbesondere die finnischen Frauen sehen es so, die in ihrem Land selber stark im Parlament vertreten sind.

Kurdische Frauen leisten also im Kampf gegen den IS einen besonderen Einsatz?

Ja, denn sie wissen, dass es um ihre eigene Befreiung geht. Sie sagen sich: Bevor wir sterben müssen oder uns unterjochen lassen, werden wir uns mit allem wehren, was wir haben. Deshalb hatte sich die Kämpferin Arin Mirxan, als sie sich in einer aussichtslosen Situation befand, selbst in die Luft gesprengt und dabei etliche IS-Terroristen mit in den Tod gerissen.

Wie kommen Sie damit zurecht, dass die USA den Kampf gegen den IS mit Angriffen aus der Luft unterstützt?

Die Situation ist so aktuell dramatisch, dass wir diese Luftangriffe auf den IS in Kobani gutheißen, auch wenn dabei jedesmal unser eigenes Gebiet ein wenig mehr zerstört wird. Es geht einfach nicht anders, das Wichtigste ist erst einmal, dass wir überleben.

Interview: Gitta Düperthal

* Aus: junge Welt, Samstag, 13. Dezember 2014


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