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Wir werden bleiben

Vollmond und blauer Himmel, einschlagende Granaten und Aufräumarbeiten. Das Syrien dieser Tage ist ein Land zwischen Leid, Trauer und Hoffnung

Von Karin Leukefeld, Damaskus und Maalula *

Sehen Sie mal dort oben, sehen Sie den Mond?« Hussam begegnet mir auf dem Dach, wo an diesem sommerlichen Juniabend eine leichte Brise die Hitze des Tages vertrieben hat. Morgens, mittags und abends prüft er hier den Wasserstand in den Tanks. Mit lautem Ruckeln und Klappern läßt er den Meßstab im Dunkel der Tanks verschwinden, um ihn kurz darauf wieder hervorzuziehen. Mit einem zufriedenen Nicken verschließt er dann die Öffnung und steigt über die schmale Leiter herunter. Die Reserve wird vorerst reichen, doch Sorgen machen die Syrer sich schon, ob die Quellen und Speicher den Sommer über genügend Wasser haben werden. Im vergangenen Winter hat es kaum geschneit und viel zuwenig geregnet. Und die Türkei hat die Durchlaufmenge im Euphrat auch reduziert. Doch für heute und die nächsten Tage dürfte es reichen, meint Hussam. Dann zeigt er in den Himmel und wiederholt gutgelaunt: »Sehen Sie den Mond? Vollmond, blauer Himmel, und die Fahne von Syrien weht! Es muß einfach besser werden!«

Tatsächlich wehen auf vielen Dächern von Damaskus die Fahnen. Die meisten sind auf Halbmast gehißt, täglich finden noch immer zuviele Menschen den Tod. Die Fahnen zeigen, daß man hier nicht aufgibt. Aus Stolz, Trotz oder weil es gar keinen anderen Ausweg aus der Tragödie gibt, als erhobenen Hauptes und mutig jeden Tag weiterzuleben. Wie viele seiner Landsleute ist Hussam überzeugt, daß die Armee sich durchsetzen wird. Und dann, so hofft er jedenfalls, wird es an den Wiederaufbau gehen. Schon lange hat er aufgehört, mit Onkeln und Cousins zu diskutieren, die eine ganz andere Meinung als er haben. Nicht, daß er keine Kritik an der Regierung habe, aber das Syrien seiner Verwandten entsteht bei Al-Dschasira, Al-Arabija und France 24. Nach deren Berichten rücken die Kampfverbände täglich weiter vor auf die Hauptstadt. Die Granaten, mit denen Kämpfer aus einigen der letzten besetzten Vorstädte die Zivilbevölkerung täglich beschießen, sind für Hussams Verwandte das Zeichen, daß die syrischen Sicherheitskräfte die Menschen nicht schützen können oder wollen.

Der Apotheker Anmar ist Hussams Cousin. Vor zwei Jahren mußte er seine Apotheke und sein Haus verlassen, weil in dem Damaszener Vorort schrecklich gekämpft wurde. Nun hat er am Rande der Altstadt von Damaskus bei seinen Eltern Zuflucht gefunden. »Meine Hände sind sauber geblieben«, sagt er stolz und dreht seine geöffneten Hände hin und her. Keiner der Finger weist Spuren der Tinte auf, mit der am Tag der Präsidentenwahl die Wähler einen Finger markieren mußten. Anmar und seine Familie sind überzeugt, daß die Wahlen eine Farce waren. Täglich verfolgt er Blogs und Facebook-Seiten der Kampfverbände, die ihre eigenen Nachrichten verbreiten. »Die Menschen verhungern, und täglich werden sie von der Luftwaffe angegriffen«, sagt er zornig. Vor wenigen Tagen beobachtete er eine schwarze Rauchsäule, die am Abbasidenplatz in den Himmel stieg. »Sie haben einen Militärposten in die Luft gesprengt«, ist er überzeugt. »Durch einen Tunnel haben sie Sprengstoff dorthin transportiert und gezündet.« Am Abend werde es das neueste Informationsbulletin der Kampfverbände geben, dann wisse man mehr. Doch das Bulletin bleibt aus, statt dessen ist zu erfahren, daß drei Zivilisten in der Nähe des Platzes durch Mörsergranaten verletzt worden seien. Das berichtet neben anderen syrischen Medien auch eine Facebook-Seite, die Tag für Tag die Einschläge der Granaten aus dem Umland zählt: Mal sind es 50, mal 60, mal 160.

Für Hussam ist klar, daß es zusätzlich zum Krieg auch einen Krieg der Medien in Syrien gibt. Seit mehr als drei Jahren beobachtet er alle arabischsprachigen Satellitenkanäle, die in Syrien zu empfangen sind. »Wir bekommen hier mehr Informationen als Sie in Europa«, ist er überzeugt. Inzwischen kann er die Sender gut einordnen. Die besten Nachrichten liefern ihm jedoch die Gäste, die täglich in dem Hotel ein- und ausgehen, in dem er arbeitet. Sie kommen aus Deir Ezzor, Kamischli und Al-Hasaka im Nordosten des Landes. Sie kommen aus Aleppo, Idlib oder Deraa, wo der Krieg weiter täglich Tote fordert.

Ein Mann, der mit seiner Frau aus Rakka gekommen ist, wo die Kämpfer der Gruppe »Islamischer Staat im Irak und in der Levante« (ISIL bzw. ISIS) das Kommando übernommen haben, erzählt von der Busfahrt. »Mit vorgehaltenem Gewehr haben sie angeordnet, daß die Frauen hinten und die Männer vorne im Bus sitzen müßten«, sagt der Alte. Alle Frauen hätten sich komplett schwarz verhüllen müssen. »Ich konnte nicht neben meiner Frau sitzen, und ich konnte sie nicht einmal erkennen, als ich mich umdrehte«, erinnert sich der Mann. Erst als er aufgestanden sei und nach ihr gerufen habe, habe sich eine schwarz verhüllte Figur erhoben und ihm zugewunken. »Wo sind wir hier eigentlich, so etwas gab es in Syrien nicht einmal im Mittelalter«, empört er sich, und ein anderer Mann nickt ihm zu. Er ist mit seiner Tochter aus Rakka gekommen. Die Tochter trägt Jeans, eine schicke Jacke und ein modisches Kopftuch. Vermutlich ist sie nicht einmal 20 Jahre alt. Der Mann möchte, daß sie nicht belästigt wird und ihre Universitätsprüfungen ungestört ablegen kann, erzählt er. In Rakka werde das durch die ISIL-Kämpfer verhindert.

Die Syrer sind müde und wollen, daß der Spuk endlich ein Ende hat. Statt der Nachrichten schalten sie immer häufiger die beliebten Serien im Fernsehen ein, die ab und zu das aktuelle Geschehen reflektieren. Der wöchentliche Feiertag am Freitag beginnt immer öfter wieder mit Trickfilmen für die Kinder. Die Arbeiter, die im Hof Hilfsgüter für Inlandsvertriebene in Taschen verpacken, hören die Lieder der libanesischen Sängerin Fairuz, schöne Erinnerungen aus längst vergangener Zeit. Aktuell allerdings läuft vor allem Fußball. Die Weltmeisterschaft interessiert Soldaten und Kämpfer, verfeindete Cousins und Nachbarn gleichermaßen. Daß Al-Dschasira, der Gigant aus dem Emirat Katar, sich sämtliche Übertragungsrechte gesichert hat, hatte zunächst für Unmut gesorgt. Umgerechnet 30 Euro kostet der Receiver, mit dem man die Weltmeisterschaft über dessen Sportkanal empfangen kann. Das ist viel Geld für die Syrer, die oft nicht mehr als einen Monatslohn von 80 Euro haben. Mit Beginn der Weltmeisterschaft aber geschah ein Wunder. Ein lokaler Fernsehsender hat sich – wie auch immer – Zugang zu der Satellitenübertragung verschafft und zeigt zur Freude aller die Spiele.

Brutale Zerstörung

Bei allem Wunsch nach Frieden und Normalität in Syrien kann niemand über das große Leid, die vielen Verluste und die enorme Zerstörung hinwegsehen, deren Spuren rund um Damaskus und an den ehemaligen Kriegsschauplätzen Maalula und Homs allgegenwärtig sind. Maalula ist ein aramäisches Wort und bedeutet »Eingang«. Der Ort liegt etwa eine Fahrstunde nördlich von Damaskus am Fuße einer tiefen Schlucht. Im Schutz hoher Felswände hat hier die Sprache Christi, das Aramäische, 2000 Jahre überlebt. Als ich Mitte Juni dorthin komme, ist Maalula verlassen. Vier verschiedene Kontrollpunkte müssen auf den wenigen Kilometern zwischen der Damaskus-Homs-Autobahn und dem Tor am Ortsanfang von Maalula passiert werden. Hier hatte sich am 4. September 2013 ein Mann mit seinem sprengstoffbeladenen Fahrzeug in die Luft gesprengt und sechs Soldaten mit in den Tod gerissen. Seine Kampfgefährten filmten die Aktion und stellten das Video ins Internet. Dann wurde der Ort von den Kämpfern durchkämmt, Männer wurden aus den Häusern gezerrt. Mit vorgehaltener Waffe sollten sie ihrem christlichen Glauben abschwören und zu Muslimen werden. Drei Männer wurden erschossen, als sie sich weigerten, andere wurden verschleppt. Die syrische Armee jagte die Angreifer die schmale Schlucht hinauf auf das Felsplateau, wo das Kloster des Heiligen Sergius aus dem 4. Jahrhundert steht. Hier und in dem nahegelegenen Hotel Al-Safir verschanzten sich die Kämpfer. Von dem hochgelegenen Ort nahmen sie Häuser und Straßen unter Feuer.

Die Kämpfer nannten sich »Freie Syrische Armee« und Al-Nusra-Front, erinnert sich Madschd Haddad, der heute als Freiwilliger der Nationalen Verteidigungskräfte in Maalula Dienst tut. Der 27jährige wurde hier geboren und arbeitete früher als Fahrer. Ich treffe ihn in den Trümmern des Klosters des Heiligen Sergius, wo sich eine Einheit der Nationalen Verteidigungskräfte aufhält. Fotografieren solle ich ihn und die anderen Männer nicht, aber ohne Scheu spricht er in das Aufnahmegerät. Das Schlimmste war für ihn, daß Nachbarn aus Maalula die Kämpfer unterstützt und gefeiert hätten, erinnert er sich. Die sunnitisch-muslimische Familie Diab sei Anfang des letzten Jahrhunderts nach Maalula gekommen und hätte über Generationen hin »wie Geschwister« mit den aramäischen Christen zusammengelebt. Nach dem, was geschehen sei, werde man nie wieder zusammenleben können, sagt Madschd nun. Rita Haddad, eine junge Frau, die früher in dem Kloster gearbeitet hat, stimmt ihm zu: »Unmöglich«, flüstert sie leise. Wie könnte das gehen?!

Ich erinnere mich an sie. Im Mai 2012, vor fast genau zwei Jahren, war ich in Maalula, um die Stimmung vor den damaligen Parlamentswahlen zu erfahren. Sie hatte mich und eine Kollegin zum Priester gebracht, der aber mit Journalisten nicht hatte sprechen wollen. Dann hatte sie uns das kleine »Museum« des Klosters gezeigt. Ein Raum mit Fotos und Büchern, Postkarten und kleinen Geschenken, die die Pilger kaufen konnten. An der Wand hing damals eine Statistik, aus der hervorging, aus welchen Ländern wie viele Pilger das Kloster seit dem Jahr 2000 besucht hatten.

Nun ist die Anlage verwaist. Das Museum ist geplündert, die Caféteria verbrannt, das Zimmer des Priesters wurde durch Granaten zerstört. Auch sie habe alles durch den Angriff der Kämpfer verloren, sagt Rita. »Sieben Jahre haben wir nach der Hochzeit bei den Schwiegereltern gelebt, weil wir uns eine eigene Wohnung nicht leisten konnten«, erzählt sie. Ihr Mann habe einen kleinen Laden für Mobiltelefone und Zubehör eröffnet. Vor drei Jahren waren sie in ihr eigenes Haus gezogen. Nach dem Angriff der Kämpfer sei sie mit den Kindern in eine der Höhlen geflohen, die in den Felswänden schon vor Hunderten von Jahren den Menschen Schutz vor Verfolgung geboten hatten. Ihr Mann habe sich den Nationalen Verteidigungskräften angeschlossen, um Maalula zu verteidigen.

Erst drei Tage später konnten die Einwohner fliehen, erinnert sich Rita Haddad. Sie ging mit den vier Kindern nach Damaskus. Maalula wurde von den Kämpfern eingenommen. Sie verschanzten sich in den Kirchen und Wohnhäusern und übernahmen das Kloster der Heiligen Thekla, aus dem sie kurz vor Weihnachten die Oberin, 12 Nonnen und zwei Hausangestellte entführten, um Gefangene freizupressen. Täglich kam es zu Kämpfen mit der Armee, die Verwüstung nahm ihren Lauf. Als die syrischen Streitkräfte im März 2014 die Kampfverbände aus den nahegelegenen Kalamun-Bergen an die Grenze zum Libanon zurückdrängen konnten, war der Weg zum Felsplateau und damit auch Maalula wieder frei. Geholfen hatte bei der Befreiung die libanesische Hisbollah, deren Fahne gemeinsam mit der syrischen neben einem Kreuz im Wind flattert. An dem Tag, als die Armee die Befreiung von Maalula bekanntgab, wurden drei Mitarbeiter des libanesischen Fernsehsenders Al-Manar von Scharfschützen, die sich in den Häusern versteckt hatten, erschossen.

Ihre Familie lebe nun im Kloster des Heiligen Sergius, sagt Rita Haddad. Von den Nationalen Verteidigungskräften erhalte ihr Mann einen Sold. Wie alle Einwohner von Maalula hofften sie auf Hilfe für den Wiederaufbau. »Für die Kirchen natürlich, aber auch für unser Haus.« Dann geht sie voran in die Klosterkirche, die einen traurigen Anblick bietet. Schutt und Staub bedecken Boden und Kirchenbänke, Bilder- und Ikonenrahmen sind leer. Der alte Altar ist zerschlagen. Jemand hat Heiligenbilder aufgestellt, ein einfaches Kreuz ist zusammengeflickt, auf der erhaltenen Hälfte des Altars lehnt daran eine Bibel. Daneben stehen eine Flasche Olivenöl und ein Öllämpchen. Ein Bild von Papst Johannes Paul II., der Syrien im Mai 2001 besucht hatte, liegt auch dort. Wie durch ein Wunder hängen die schweren, mit unzähligen Glastropfen üppig geschmückten Leuchter noch. Rita Haddad verschränkt die Arme, schließt die Augen und betet das »Vaterunser« in aramäischer Sprache. Der nationale Verteidigungskämpfer Madschd hat seine Waffe vor der Kirche abgelegt. Still steht er da in den Trümmern. Durch ein riesiges Loch in der Kuppel fällt gleißend das Licht der Mittagssonne.

Wir werden bleiben

Auf dem Weg hinunter in den Ort fahren wir an einem Aufräumtrupp der Provinzverwaltung vorbei. Mit Besen, Schaufeln und Schubkarren arbeiten sie sich durch die Straßen und die Treppen hinauf, die sie von Schutt und Gerümpel befreien. Häuser liegen in Trümmern, Fenster sind aus den Rahmen gesprungen, Wände und Türen verkohlt. Kaum eine der zahlreichen Kirchen hat noch ein Kreuz. Heiligenstatuen sind zertrümmert, Ikonen und alte Kulturschätze geraubt oder verbrannt.

Am Fuße der Felsen liegt das Kloster der Heiligen Thekla. Die ersten Gebäude des Frauenklosters entstanden im 1. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung. Kurz vor dem Krieg war es ein wichtiger Wallfahrtsort mit einem Waisenhaus. Wer immer einen Wunsch hatte, von einer Krankheit geheilt werden wollte oder von Sorgen befreit, der pilgerte zum Grab der Heiligen Thekla. Nun ist es leer und geplündert, der Eingang zum Kloster ist zerstört. Der Treppenaufgang ist mit Geröll und den Resten einer abgehackten Kiefer verschüttet. Im Inneren des Klostergangs steigt Brandgeruch mit einem Hauch Weihrauch in die Nase. Im Innenhof werden in einer Schubkarre Papierreste verbrannt. Einer der Wächter öffnet das Tor zur Klosterkirche: Das Innere ist vom Boden bis in die hohe Kuppel verbrannt.

Konstantin Khuri war Imker, bis der Krieg Maalula erreichte und sein Leben von Grund auf änderte. Wie andere Männer des Ortes schloß auch er sich den Nationalen Verteidigungskräften an. Er wisse nicht, warum die Kämpfer gekommen seien, sagt der 46jährige: »Hier gab es kein Militär, die Stadt ist strategisch unwichtig. Hier lebten nur knapp 3000 Menschen, und wir Christen wollten den Krieg nicht.« Daß die Kämpfer dennoch in die Stadt eingefallen seien, kann er sich nur so erklären: »Sie wollen uns Christen auslöschen und unsere Geschichte dazu.« Doch das werde nicht gelingen, auch wenn Europa diese Mörder unterstützt habe, ist Khuri überzeugt: »Wir waren vor den Muslimen hier, wir haben Syrien die Kultur gebracht. Wir Leute von Maalula haben eine Nachricht an die ganze Welt: Wir sind die ursprüngliche Bevölkerung Syriens, wir werden bleiben.«

* Aus: junge Welt, Samstag 28. Juni 2014


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