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Nur noch weg

Zahlreiche Syrer sind vor dem Krieg in ihrem Land nach Ägypten geflohen. Seit dort das Militär seine Macht offen ausübt, stehen sie unter Terrorverdacht und sind Repressalien schutzlos ausgeliefert

Von Sofian Philip Naceur und Mohamad Hassan Mansouri *

Wir wollen nur noch weg aus Ägypten, so schnell wie möglich und egal wohin«, sagt die 35jährige Sara aus Damaskus. Vor zwei Jahren flüchtete sie aus Syrien. Gemeinsam mit ihren zwei Kindern bestieg sie ein Flugzeug nach Kairo. Ihr Mann war kurz zuvor verhaftet worden, konnte sich jedoch nach Jordanien retten. Saras Einreise nach Ägypten verlief damals problemlos, auch Unterkunft und Arbeit fand sie schnell. Wie viele andere Flüchtlinge aus Syrien zog sie in die »Stadt des 6. Oktober«, eine in den 1990er Jahren aus dem Boden gestampfte Satellitensiedlung rund 40 Kilometer westlich von Kairo, und begann, in einer Näherei zu arbeiten. Zehntausende syrische Staatsangehörige haben sich seit Beginn des Krieges in ihrer Heimat 2011 hier angesiedelt, fanden Unterschlupf, Hilfe und Arbeit. Doch heute, drei Jahre nach Kriegsbeginn und fast ein Jahr nach dem Sturz von Ägyptens Staatspräsident Mohammed Mursi, ist alles anders. Am Nil gestrandete syrische Flüchtlinge versuchen mit aller Kraft, das Land zu verlassen. Zu gefährlich ist das Leben für Syrer in Ägypten geworden.

Dabei war dieser Staat zu Beginn des blutigen Konfliktes zwischen den Truppen des syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad und den zahlreichen bewaffneten Oppositionsmilizen ein bevorzugtes Ziel für Flüchtlinge. Menschen aus Syrien waren hier willkommen. Sie brauchten kein Visum, ihr Paß wurde bei der Einreise gestempelt und gegen Vorlage eines Miet- oder Arbeitsvertrages oder einer Studienbescheinigung war die Erneuerung der Aufenthaltsgenehmigung reine Formsache. Arbeit zu finden war einfach, trotz der schon damals angespannten Wirtschaftslage in Ägypten. Die Regierung in Kairo legte ihnen keine Steine in den Weg und behandelte sie nicht wie Flüchtlinge aus Ost- oder Westafrika, die in Ägypten keine staatliche Unterstützung erhalten und ausufernder Polizeiwillkür ausgesetzt sind. Syrer und Sudanesen waren die einzigen Migranten, die ihre Kinder in staatlichen Schulen unterbringen konnten, während zum Beispiel denen aus Eritrea oder Äthiopien der Zugang zum staatlichen Schul- und Gesundheitssystem versperrt ist. Ägyptens Exekutive schert sich nicht um die Grundsätze der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, die das Land unterzeichnet und ratifiziert hat, und ignoriert das für Flüchtlinge so wichtige Dokument und die damit einhergehenden Verpflichtungen. Aber für Menschen aus Syrien schien Ägypten lange Zeit ein sicherer Hafen zu sein.

Anders als in Jordanien, der Türkei und dem Libanon gibt es in Ägypten nur ein einziges Flüchtlingslager: Saloum im Westen des Landes nahe der libyschen Grenze. Das Camp war vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) während des Bürgerkrieges in Libyen aufgebaut worden, doch die meisten Menschen aus Libyen sind inzwischen in ihre Heimat zurückgekehrt. Das Lager soll im Juni 2014 geschlossen werden. Flüchtlingen in Ägypten bleibt die Qual eines Lebens in abgeschotteten Camps erspart. Doch heute, elf Monate nach dem Sturz des aus den Reihen der islamistischen Muslimbruderschaft stammenden Präsidenten Mohammed Mursi, hat sich für syrische Flüchtlinge, aber auch Migranten aus anderen Ländern, die Situation drastisch verändert. Vorbei ist die Zeit, in denen Syrer ihre Kinder in staatlichen Schulen sicher wußten. Vorbei ist die Zeit, in der sie problemlos ihre Aufenthaltspapiere erneuern konnten und vorbei ist die Zeit, in der sie von der ägyptischen Bevölkerung mit offenen Armen empfangen wurden. Heute haben Menschen syrischer Herkunft Angst, auf die Straße zu gehen, verhaftet und abgeschoben zu werden, und sie haben Angst, auf offener Straße als Syrer erkannt zu werden. Denn inzwischen grassiert Rassismus in der ägyptischen Bevölkerung. Syrische Flüchtlinge wollen meist nur noch weg aus Ägypten.

»Staatsfeinde« und »Terroristen«

»Anfangs war alles noch in Ordnung, doch nach der Absetzung Mohammed Mursis hat sich alles verändert«, sagt Mohammed. Er gehörte zu den ersten Flüchtlingen aus Syrien. Das war im März 2011. Mohammed hat in Syriens Hauptstadt Damaskus englische Literatur studiert. Als die ersten Proteste in seiner Heimatstadt Dera’a im Süden des Landes begannen, reiste er dorthin und fing an, auf Demonstrationen zu filmen und Fotos zu machen. Mohammed, der wie Sara seinen Namen nicht in der Presse lesen möchte, wurde ins Gesicht geschossen. Die Kugel trat an seiner Lippe ein und an der Wange wieder aus, hatte sein Auge zum Glück knapp verfehlt. Doch in ein Krankenhaus konnte er nicht gehen, da syrische Soldaten dort nach Verwundeten suchten und diese standrechtlich exekutierten. Er tauchte bei Freunden unter und ließ sich von einer Krankenschwester notdürftig versorgen. Mit einem Kopftuch vermummt reiste er schließlich nach Damaskus und wurde erst bei der letzten Kontrolle am Flughafen gezwungen, sein Tuch abzunehmen. »Die Beamten sahen die Verletzungen in meinem Gesicht und glaubten mir nicht. Sie wußten, daß ich auf einer Demonstration verwundet wurde, aber da ich nicht zu den vom Staat gesuchten Oppositionellen gehörte, ließen sie sich bestechen und ich konnte ins Flugzeug nach Kairo steigen«, die Erleichterung darüber ist bei Mohammed noch immer deutlich zu spüren. Er reiste zu Freunden nach Oberägypten, bevor er in Kairo medizinisch behandelt wurde. Vier Operationen waren nötig, um Gesicht und Gebiß wiederherzustellen. Heute kann er den Mund wieder öffnen, sprechen und essen. Nur die Narbe wird bleiben.

Am 3. Juli 2013 trat Ägyptens damaliger Verteidigungsminister, gegenwärtig der aussichtsreichste Anwärter auf das Amt des Präsidenten, Abdel Fattah Al-Sisi, vor die Kameras und erklärte den demokratisch gewählten Präsidenten des Landes Mohammed Mursi für abgesetzt. Wenige Tage später begann dessen Anhängerschaft, randalierend durch die Straßen zu ziehen, und auch das Militär legte seine Maske ab. Ägyptens Armee und die für ihre Rücksichtslosigkeit berüchtigten Hundertschaften der Polizei tauschten Schrotkugeln gegen scharfe Munition aus. Der Damm brach, die Gewalt am Nil eskalierte. Rund eine Woche nach Mursis Absetzung erlebte das Land das erste Massaker der Übergangsregierung. Tausende Anhänger der Muslimbrüder und Gegner des faktischen Staatsstreichs waren zum Hauptquartier der Republikanischen Garden, einer Sondereinheit der ägyptischen Armee zum Schutz der Hauptstadt, im Osten Kairos gezogen und protestierten gegen Mursis Absetzung. Die Armee zögerte nicht und eröffnete das Feuer. 53 Menschen wurden bei der gewaltsamen Konfrontation getötet, hunderte Demonstranten verletzt.

»An diesem Abend trat ein Sprecher des Militärs vor die Kameras und behauptete, Syrer und Palästinenser, die gemeinsam mit Anhängern der Bruderschaft demonstriert hatten, seien mit Schußwaffen auf Soldaten losgegangen. Er sagte, das Militär habe sich lediglich verteidigt«, erinnert sich Mohammed. Seither sind syrische Flüchtlinge und Palästinenser nicht mehr sicher in Ägypten. Willkürliche Verhaftungen und Abschiebungen, ausufernde Polizeigewalt, die Weigerung der Grenzpolizei, Syrer ins Land zu lassen und rassistische Übergriffe aus der Bevölkerung gehören seit dem Massaker vor dem Sitz der Republikanischen Garde zum Alltag von Flüchtlingen. Sowohl die Staatspresse als auch private Medien schlossen sich der Hetzkampagne an. Boykottappelle gegen syrische Geschäfte oder Cafés wurden lanciert. Selbst vor offenen Aufrufen zu Gewalt schreckten Journalisten und ägyptische Politiker nicht mehr zurück. Menschen aus Syrien und Palästina wurden pauschal mit den Muslimbrüdern und Mursi in Verbindung gebracht und gelten bei vielen in Ägypten seither als Staatsfeinde und Terroristen. Die Bruderschaft wurde im Dezember 2013 von der Regierung als »Terrorvereinigung« eingestuft, ihre Mitglieder und Sympathisanten werden von Polizei und Justiz entsprechend verfolgt. Syrer bekommen den Haß gegen die Muslimbruderschaft, den viele teilen, zu spüren und müssen als Sündenböcke herhalten. Richtig ist: Die Regierung Mursi stand Teilen der syrischen Opposition nahe und hatte die syrische Botschaft in Kairo schließen lassen, während die jetzige Übergangsregierung Ägyptens den Aufstand in der Arabischen Republik lieber zugunsten des Assad-Regimes beendet wissen will. Syriens Vertretung wurde nach Mursis Sturz wieder geöffnet und ein neuer Botschafter nach Kairo entsandt.

Rasante Verschlechterung

Die Lage syrischer Flüchtlinge am Nil hatte sich erst schrittweise, dann rasant verschlechtert. Unter der Regentschaft des Obersten Militärrates (von Februar 2011 bis Juni 2012) habe noch keiner nach gültigen Visa im Paß gefragt, erzählt Mohammed. Während Mursi an der Macht war, begannen Polizei und Armee, immer häufiger an Checkpoints Aufenthaltsdokumente zu überprüfen. Die Einreisevisa vieler Syrer waren oft abgelaufen, denn es war schwieriger geworden, die für eine Erneuerung nötigen Miet- oder Arbeitsverträge vorzulegen. Doch man wurde von den Beamten lediglich ermahnt und immer wieder laufen gelassen, Verhaftungen gab es keine, so Mohammed.

Dann kam der 3. Juli. Eine der ersten Maßnahmen der Interimsregierung war die Einführung einer allgemeinen Visapflicht für syrische Staatsangehörige mit der Folge, daß diesen Flüchtlingen seither die Einreise verwehrt wird. Ägyptens Behörden begannen, Syrer an den Flughäfen zu verhaften, zu internieren und abzuschieben. Wie die ägyptische Tageszeitung Al-Masry Al-Youm berichtete, wurde am 8. Juli 2013 sogar ein Flugzeug der Syrian Airlines nach der Landung gezwungen, ins syrische Latakia zurückzukehren. Die faktische Abschiebung aller 95 Passagiere wurde mit neuen Visabestimmungen begründet. Am gleichen Tag verweigerte die Grenzpolizei weiteren 55 Menschen aus Syrien, die in einer Maschine der Middle East Airlines aus Beirut Kairo erreichten, ebenfalls die Einreise.

Seither sind Ägyptens Grenzen für syrische Staatsbürger geschlossen. Und denjenigen, die bereits in Ägypten sind, wird unmißverständlich vor Augen geführt, daß sie unerwünscht sind. Festnahmen, oft monatelange Gefängnishaft und Abschiebungen sind für Syrer am Nil zur Normalität geworden. Weiter verschärft hatte sich die Situation für sie nach der gewaltsamen Auflösung der Protestcamps der Muslimbrüder an der Rabaa Al-Adawija-Moschee in Nasr City im Osten der Hauptstadt und an der Kairoer Universität in Gizeh, bei der am 14. August 2013 1000 Menschen getötet wurden. Die Interimsregierung verhängte am selben Tag den Notstand und eine nächtliche Ausgangssperre. Bis Mitte November 2013 dominierten Kontrollpunkte des Militärs das Straßenbild. »Wenn Menschen mit syrischem Paß an einem Checkpoint kontrolliert wurden, war ihre Verhaftung und meist ihre Abschiebung unausweichlich. Flüchtlinge bleiben oft solange in Haft, bis sie das Geld für ein Flugticket aufgetrieben haben. Können sie das Ticket in die Türkei oder den Libanon nicht bezahlen, werden sie von ägyptischen Behörden nach Syrien zurückgeschickt«, beschreibt Mohammed das Vorgehen. Allein im Juli soll es 1000 Abschiebungen gegeben haben, fügt er hinzu.

Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch (HRW) kritisieren seit Juli immer wieder den Umgang ägyptischer Behörden mit Flüchtlingen aus Syrien oder Palästina. Sie riefen die Regierung in Kairo wiederholt auf, willkürliche Verhaftungen und Abschiebungen unverzüglich einzustellen und sich an die von Ägypten ratifizierte Genfer Flüchtlingskonvention zu halten.

Flüchtlingskonvention mißachtet

Das 1951 verabschiedete und 1954 in Kraft getretene Dokument erkennt Menschen als Flüchtlinge an, wenn sie aufgrund ihrer ethnischen oder sozialen Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität sowie ihrer politischen Überzeugung in ihrem Heimatland verfolgt werden. Die Konvention erlaubt ferner Straffreiheit bei illegaler Einreise, sofern der Flüchtling sich umgehend bei den Behörden des Landes, in dem er Unterschlupf gefunden hat, angemeldet hat. Einer der wichtigsten Grundsätze der Genfer Konvention ist jedoch das Non-Refoulment-Gebot, das Prinzip der Nichtzurückweisung. Artikel 33 der Genfer Konvention untersagt die Rückführung von Personen in Länder, in denen ihnen Folter oder andere Menschenrechtsverstöße drohen.

Ägypten unterliegt folglich als Unterzeichner der Konvention diesen Grundsätzen, ignoriert sie jedoch konsequent. Das Land verweigert Flüchtlingen die rechtliche Anerkennung und staatliche Hilfe und hat wiederholt gegen das Non-Refoulment-Gebot verstoßen, auch im Falle von Personen aus Syrien, die teilweise sogar in ihr Herkunftsland selbst zurückgeschickt wurden. Zudem sind insbesondere Syrer von willkürlichen Verhaftungen, außergerichtlichen Internierungen und Abschiebungen betroffen. HRW berichtete im Herbst 2013 von rund 1500 solcher Inhaftierter, von denen mehrere Dutzend nach Syrien deportiert wurden. In der Regel lautet die Anklage auf illegale Ein- oder Ausreise. Außerdem dokumentierte HRW im November 2013 mindestens 615 Fälle inhaftierter und wegen illegaler Einreise angeklagter Syrer, in denen die Anklage fallengelassen und ihre Freilassung angeordnet wurde. Die Sicherheitsbehörden reagierten darauf jedoch nicht. Erst massiver Druck von Menschenrechtsorganisationen und den Vereinten Nationen bewirkte die Freilassung zumindest einiger Inhaftierter.

Das ägyptische Außenministerium bestritt im Oktober, daß die Regierung offiziell das Ziel verfolge, Syrer zu deportieren und nur aus dem Gefängnis zu entlassen, wenn sie freiwillig ausreisen. Die Praxis sieht jedoch anders aus. Mindestens 1300 Syrer wurden so genötigt, das Land zu verlassen. Nur rund zehn Prozent der verhafteten Syrer würden letztendlich freigelassen, heißt es vom UNHCR.

Sowohl Polizeiwillkür als auch der grassierende Rassismus treiben inzwischen immer mehr Flüchtlinge dazu, das Land zu verlassen. Wer es sich leisten kann, reist auf konventionellem Wege aus. »Vor allem in der Stadt des 6. Oktober waren die Reiseagenturen im Herbst und Winter 2013 total überbucht, Menschen aus Syrien haben fluchtartig das Land verlassen«, erzählt Mohamad. Zudem verschärft die Wirtschaftskrise die Situation für die Flüchtlinge. Der Arbeitsmarkt ist überlaufen, Ägyptens Währung liegt am Boden, und die Inflation hat die Preise für Lebensmittel explodieren lassen. Wer keine Anlaufstelle in einem anderen Land finden kann, wagt die gefährliche Überfahrt nach Europa. Nachdem Tausende vor der Mittelmeerinsel Lampedusa ertrunken sind, sanken die Preise für die Überfahrten zuletzt stark – was immer mehr syrische Flüchtlinge dazu bewegt, Ägypten per Boot zu verlassen.

Dem UNHCR und Menschenrechtsorganisationen sind zudem oft die Hände gebunden. Am ehesten helfe man inhaftierten Flüchtlingen aus Syrien noch, indem man ihnen ein Flugticket bezahle, damit Ägypten sie in die Türkei oder den Libanon ausreisen lasse, heißt es bei HRW. Das ist keine Lösung für die 136000 vom UNHCR offiziell registrierten syrischen Flüchtlinge. Insgesamt wird die Zahl der Flüchtlinge aus Syrien auf rund 300000 in Ägypten geschätzt und ist damit deutlich niedriger als in den Nachbarstaaten des umkämpften Staates. Rund die Hälfte der syrischen Bevölkerung ist auf der Flucht, die meisten davon innerhalb des Landes. Die Türkei und der Libanon halten ihre Grenze nach wie vor offen. Allein in der türkischen Provinz Gaziantep sollen sich rund 400000 Flüchtlinge aufhalten, berichtet die Deutsche Welle Ende 2013, im ganzen Land sind es über eine Million. Im Libanon sind ebenfalls eine Million syrischer Flüchtlinge vom UNHCR registriert, man geht von zusätzlich 300000 Syrern aus, die sich nicht gemeldet haben – und das in einem Land, das nur halb so groß wie Hessen ist und in dem nur 4,5 Millionen Menschen leben. Das Camp Satari in Jordanien ist mit seinen 1,3 Millionen Flüchtlingen inzwischen die viertgrößte »Stadt« im Land. Jordanien erlaubt heute nur noch Syrern die Einreise, wenn sie direkt aus ihrem Heimatland kommen. Ägypten jedoch ignoriert seine Verantwortung und Verpflichtungen, ebenso wie die historische Verbundenheit mit Syrien – beide Länder hatten 1958 einen gemeinsamen Staat gebildet, die Vereinigte Arabische Republik. Kairo macht auf dem Rücken syrischer Flüchtlinge Politik gegen die in Ungnade gefallene Muslimbruderschaft. Doch nicht nur Syrer sind von der harten Linie der ägyptischen Regierung und dem ausufernden Rassismus im Land betroffen. Zusammen mit ihnen kamen auch Tausende in Syrien lebende Palästinenser nach Ägypten.

Im Herbst gab die palästinensische Botschaft in Kairo die Zahl der in Ägypten angekommenen Palästinenser aus Syrien mit knapp 7000 an, andere Quellen sprechen von über 10000. Vor dem Aufstand in Syrien waren dort lebende Palästinenser integriert und hatten Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem. In Ägypten hingegen werden sie ebenso wie Syrer pauschal als Verbündete der Muslimbrüder betrachtet, vom Staat verfolgt und von der Gesellschaft ausgegrenzt. Zudem weigert sich die Interimsregierung in Kairo, dem UNHCR ein Mandat für sie zu übertragen. Palästinensische Flüchtlinge haben keinerlei wirksamen Schutz vor staatlicher Willkür und meist noch weniger Möglichkeiten als Syrer, Ägypten wieder zu verlassen. Beide Flüchtlingsgruppen sind auf nichtstaatliche Unterstützung angewiesen. Der 2006 gegründete Tadamon Council ist eine der größten Hilfsorganisationen für Flüchtlinge in Ägypten. Er fungiert als Dachverband für rund 50 lokale Initiativen im Großraum Kairo und unterhält sechs Zentren, die als Anlaufstelle für Vernetzung und Selbsthilfe dienen. Es gibt Kinderbetreuung, Schulunterricht und medizinische Grundversorgung. Daneben helfen gut 4000 Freiwillige bei rechtlicher und psychologischer Beratung. Für Flüchtlinge am Nil sind Organisationen wie Tadamon unersetzlich. Dennoch ist ihre Arbeit nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Ägypten braucht eine Reform in der Migrationspolitik. Doch unter der jetzigen politischen Führung des Landes hat sich nichts verbessert, im Gegenteil. Der designierte neue Präsident Ägyptens, Abdel Fattah Al-Sisi, steht für die Erhaltung des Status quo, auch in der verantwortungslosen Flüchtlingspolitik.

* Sofian Philip Naceur ist freier Journalist und berichtet aus Kairo und Algier. Mohamad Hassan Mansouri hat in Kairo für die Deutsch-Arabische Industrie- und Handelskammer gearbeitet und belegt den Studiengang Internationale BWL/Interkulturelle Studien an der Hochschule Heilbronn

Aus: junge Welt, Montag, 26. Mai 2014



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