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"Auch Worte sind nötig – ja, Worte!"

Leider nur ein Appell: Der frühere Erzbischof von Kapstadt vermißt im Syrien-Krieg den Dialog. Ein Gespräch mit Desmond Tutu


Desmond Tutu (82) war anglikanischer Erzbischof in Kapstadt und einer der Köpfe des Kampfes gegen das Apartheidsystem. Er erhielt 1984 den Friedensnobelpreis.


Die Welt ist schockiert angesichts der vielen Flüchtlinge, die auf dem Wege nach Europa im Mittelmeer oder auch schon in der Sahara ums Leben kommen. Wie sehen Sie diese Tragödie?

Die Ehrung dieser Toten bedeutet, sie und ihre Geschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Jedem Menschen, der vor Bürgerkrieg, Stammeskonflikten, ethnischen Säuberungen und unmenschlicher Armut flieht, muß Schutz gewährt werden. Angesichts der Bilder von diesen aufgereihten, leblosen Körpern, die aus dem Meer gezogen wurden, und angesichts der bewegenden Berichte der Überlebenden kann niemand mehr sagen: »Ich habe nichts gewußt. Ich konnte nichts dagegen tun …«

Das, was mit den illegalen Einwanderern in Europa geschieht, ist die wohl schlimmste Sklaverei, die es heute gibt. Gegen diese und gegen alle anderen Formen der Sklaverei muß es eine Revolte des Gewissens geben. Das gilt auch für das, was in Syrien geschieht.

Dort gibt es bis heute über 100000 Tote und Millionen Flüchtlinge. Es ist vom Westen immer wieder gefordert worden, den Bürgerkrieg durch militärische Intervention zu beenden – warum lehnen Sie das ab? Den Ruf nach militärischen Interventionen habe ich schon viel zu oft gehört – sie sind aber keineswegs ein Heilmittel, sondern erst die Auslöser solcher Katastrophen. Syrien braucht mit Sicherheit eine Intervention, aber eine humanitäre! Nicht nur konkrete Solidarität ist gefragt, auch Worte sind nötig – ja, Worte! Wir müssen miteinander reden, um weiteres Blutvergießen zu verhindern. Die Alternative zum militärischen Eingreifen ist nicht die Resignation, ganz im Gegenteil.

Und was wäre diese Alternative?

Man muß in Syrien auf jene setzen, die hartnäckig daran arbeiten, das zu flicken, was die brutale Logik der Waffen zerrissen hat. Wir dürfen nicht länger kostbare Zeit verlieren. Daß ein militärisches Eingreifen Frankreichs und der USA in Syrien abgewendet wurde, ist für mich ein Zeichen der Stärke und nicht der Schwäche. Mit dem Einsatz der UN-Kontrolleure in Syrien ist erst einmal Zeit gewonnen – dieser Spielraum muß für konkrete Solidarität genutzt werden. Und, wie ich schon sagte, für Worte, wir müssen über unangenehme Themen sprechen, beispielsweise das Verhältnis des Westens zum Islam oder über das von Israel zu Palästina.

In einem kürzlich publizierten Beitrag schreiben sie, in Syrien gebe es heute keinen Platz mehr für Kinder. Wie meinen Sie das?

Das ist eine Tragödie in der Tragödie. Mit unserer Unfähigkeit, dafür zu sorgen, daß Syrien Nahrung und Güter des Grundbedarfs erhält, verurteilen wir die Kinder zum Hunger. Bereits mehr als eine Million von ihnen mußte mit ihren Familien in Nachbarländer fliehen, wo sie in Lagern leben. Tausende andere wurden getötet. Wo bleibt da die Empörung? Wo das Engagement der politisch Verantwortlichen?

Die internationale Gemeinschaft hat es bisher nicht geschafft, eine friedliche Lösung des Konflikts zu organisieren – im Gegenteil: Die Lage wird immer schlimmer.

Sie engagieren sich auch gegen Kinderehen …

Das ist ein beunruhigendes Phänomen, mit dem sich die Institutionen und internationalen Gremien leider oft nur am Rande beschäftigen. Wir haben aber schon so brutale Dinge wie die Apartheid in Südafrika beseitigt, da sollten wir doch auch die Frühehen abschaffen können! Weltweit werden jeden Tag 25000 Kinder verheiratet, das macht zehn Millionen im Jahr. Sie werden aus ihrer Kindheit gerissen, von ihren Freunden und Freundinnen getrennt. Sie verlassen die Schule und werden gezwungen, mit einem Mann, den sie nie zuvor gesehen haben, in einer fremden Familie zusammenzuleben.

Gemeinsam mit anderen beteilige ich mich an einer Initiative, die all den Kindern eine Stimme verleihen soll, die Gefahr laufen, früh verheiratet zu werden. Wir sind überzeugt davon, daß wir viele andere Probleme auch lösen können, sobald wir die Frauen erst einmal befreit haben.

Interview: Umberto De Giovannangeli

[Übersetzung: Andreas Schuchardt]

Eine längere Version dieses Interviews erschien am 19. Oktober in der italienischen Tageszeitung l’Unità.

* Aus: junge Welt, Freitag, 1. November 2013



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