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Verwirrspiel um Giftgas

UN-Sicherheitsrat setzt dschihadistische Al-Nusra-Front auf Terrorliste. Türkei dementiert Berichte über geplanten Anschlag auf NATO-Truppen, bestätigt aber sichergestellte Chemikalien

Von Nick Brauns *

Kurz nach der Entscheidung der EU, syrische Aufständische mit Waffen zu versorgen, hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die in Syrien kämpfende dschihadistische Rebellengruppe Jabhat Al-Nusra als Terrororganisation eingestuft. Alle 15 Mitglieder des Sicherheitsrates stimmten dem Mitte April vom syrischen Außenministerium gestellten Antrag zu, die zum Al-Qaida-Netzwerk gehörende Gruppe auf die UN-Sanktionsliste zu setzen.

Die USA hatten die Al-Nusra-Front bereits im Dezember 2012 auf ihre Terrorliste gesetzt. Dieser Schritt hatte damals zu Protesten der von den Moslembrüdern dominierten syrischen Opposition geführt, die nicht auf die in Medienberichten wiederholt als »aggressivsten und erfolgreichsten Arm der syrischen Rebellen« bezeichneten kampferprobten Söldner verzichten wollte.

In den Reihen der auf 6000 bis 10000 Gotteskriegern geschätzten Al-Nusra-Front, die nach eigenen Angaben für ein islamisches Kalifat in Syrien kämpft, befinden sich neben Syrern vor allem ausländische Dschihadisten aus arabischen Ländern, aber auch aus Tschetschenien und Europa. Neben Anschlägen auf staatliche Einrichtungen zeichnet die Al-Nusra-Front für Morde an syrischen Journalisten und Massaker gegen Angehörige der als »gottlos« verfolgten religiösen Minderheit der Alawiten verantwortlich, der Präsident Bashar Al-Assad und viele Politiker der regierenden Baath-Partei angehören.

Türkischen Medienberichten zufolge plante die Al-Nusra-Front einen Giftgasanschlag in der Türkei. Bereits am Montag soll bei Razzien in den Häusern von syrischen Aktivisten in der türkischen Provinz Adana neben Schußwaffen auch ein zwei Kilogramm schwerer Zylinder des Kampfgases Sarin sichergestellt worden sein. Das Giftgas sei mit einem Flugzeug aus Libyen in die Türkei gebracht worden und sollte nach Informationen der Tageszeitung Vatan für Anschläge auf den NATO-Luftwaffenstützpunkt Incirlik bei Adana oder die in Gaziantep stationierte US-Patriot-Raketeneinheit verwendet werden. Der Gouverneur der Provinz Adana, Hüseyin Avni Cos, dementierte am Donnerstag einen Sarin-Fund, bestätigte aber, daß verschiedene sichergestellte Chemikalien im Forensischen Institut untersucht würden. Sechs von zwölf am Mittwoch festgenommenen mutmaßlichen Dschihadisten, deren Zugehörigkeit zur Al-Nusra-Front der Gouverneur nicht bestätigten wollte, befanden sich am Freitag wieder auf freiem Fuß.

Unterdessen soll die Polizei laut einer Meldung der Tageszeitung Taraf Geheimdienstinformationen erhalten haben, wonach ein mit Sprengstoff präpariertes Fahrzeug am Donnerstag in die Stadt Adana gebracht wurde. Durch die Explosion von zwei derartigen Autobomben waren am 11. Mai in der nahe der syrischen Grenze gelegenen Stadt Reyhanli in der Provinz Hatay mindestens 52 Menschen getötet wurden. Die islamisch-konservative AKP-Regierung in Ankara beschuldigt türkische Linksradikale und Mitglieder der alawitischen Minderheit, die Anschläge im Auftrag des syrischen Geheimdienstes verübt zu haben. Dagegen zeigen Dokumente des Geheimdienstes der Militärpolizei, die die Cyberaktivistengruppe Red Hack vergangene Woche auf ihrer Website veröffentlichte, daß die Al-Nusra-Front die Autobomben vorbereitet hatte. Oppositionspolitiker werfen der AKP-Regierung daher vor, die Anschläge von Reyhanli trotz Vorwarnungen billigend in Kauf genommen zu haben, um unter Verweis auf eine angebliche syrische Urheberschaft ein aktiveres militärisches Eingreifen der NATO in den syrischen Bürgerkrieg zu provozieren. Die Türkei gehörte bislang zu den Unterstützern der Al-Nusra-Front. So gab die türkische Armee deren Gotteskriegern sogar Feuerschutz, als diese von türkischem Territorium aus Stellungen kurdischer Selbstverteidigungsmilizen in der syrischen Grenzstadt Serekaniye (Ras al-Ayn) angriffen.

Die Linke-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen bekräftigte am Freitag angesichts der neuen Meldungen aus dem Konfliktgebiet ihre Forderung nach einem sofortigen Abzug der deutscher Soldaten aus dem NATO-Mitliedsland. »Gegen Giftgas und Anschläge sind die Patriot-Staffeln der Bundeswehr in der Türkei völlig nutzlos, sie stellen aus Sicht der Islamisten aber ein lohnendes Ziel dar.«

* Aus: junge Welt, Samstag, 1. Juni 2013


Kindersoldaten im Dschihad

Appell an Ägypten, Tunesien und die Türkei, Rekrutierung von Minderjährigen für Krieg in Syrien zu unterbinden

Von Werner Pirker **


Auf dem syrischen Kriegsschauplatz tummeln sich an die 50000 ausländische Kämpfer – zumeist aus islamischen Ländern: Saudi-Araber, Ägypter, Tunesier, Tschetschenen, Albaner. Und auch eine beträchtliche Zahl muslimischer Bürger aus der EU. Die Präsenz der dschihadistischen Internationale in der Levante ist zu offen kundig, als daß sie von den westlichen Drahtziehern eines gewaltsamen Regimewechsels in Damaskus noch bestritten werden könnte. Weniger bekannt ist, daß sich unter den Rekrutierten viele Jugendliche im Alter zwischen 13 bis 18 Jahren und auch Kinder unter zehn Jahren befinden.

Das berichteten Vertreter des »Bündnisses gegen den Krieg« auf einer Pressekonferenz in Wien in dieser Woche anläßlich der Übergabe einer Petition an die Botschafter Ägyptens, Tunesiens und der Türkei, in der sie sich gegen die Mobilisierung von »Kindersoldaten« wenden. Allein aus Tunesien sollen laut dortigen Regierungsangaben rund 5000 Jugendliche auf syrischen Schlachtfeldern im Einsatz sein. Die Zahl der aus Ägypten nach Syrien geschleusten Jugendlichen dürfte ungefähr gleich hoch sein. In militärischen Schnellkursen ausgebildet, werden die »Kids« nach Auskunft der Antikriegsaktivisten oft an die vorderste Frontlinie geschickt, wo sie den Regierungssoldaten als Kanonenfutter gegenüberstünden. Die Rekrutierung des sunnitischen Volkssturmes erfolge oft über religiöse Indoktrination, oft aber auch unter Ausnutzung der materiellen Notlagen arabischer Familien. Denn nicht nur das Heil im Jenseits werde versprochen, sondern auch materielle Vergütungen im Diesseits. Mitunter kämen Kinder mit ihren Eltern zu den Vorstellungsgesprächen – eine geradezu tragikomische Situation.

Die durchschnittlichen Honorare würden sich auf umgerechnet 2000 bis 3000 Euro belaufen. Versprochen werde auch die Übernahme der Bestattungskosten im Todesfall. Die Bezahlung richte sich nach Alter und Ausbildungsstand. Viele unter den Rekruten würden überhaupt nichts bekommen und sich mit kriminellen Handlungen schadlos zu halten versuchen. Die syrischen Gefängnisse seien voll mit illegal ins Land gekommenen Jugendlichen.

Hanna Ghoneim, ein griechisch-orthodoxer Priester aus Damaskus, will die religiöse Motivation der zum Kampf gegen das »ungläubige Assad-Regime« angetretenen Jugendlichen nicht überbewertet wissen. Die meisten folgten eher profanen Gründen, meint er. Überhaupt handle es sich um keinen Glaubenskrieg, die Religion werde vielmehr für politische Zwecke instrumentalisiert. Das langfristige Ziel der Rebellion gegen das Baath-Regime sei die Zerschlagung Syriens und seine Aufteilung in Emirate wahhabitischer Prägung. Die syrischen Christen wüßten das christliche Abendland dabei keineswegs an ihrer Seite. Bereits im März hatte Pater Ghoneim in einer Predigt im Wiener Stephansdom festgestellt, daß die einheimischen Muslime die syrischen Christen in Syrien mehr schützen würden als die Christen im Westen. Denn die wollen den »Diktator Assad« stürzen sehen – und mit ihm ein laizistisches Regime, das den Christen wie allen anderen Religionsgemeinschaften volle Glaubensfreiheit gewährt.

Ghoneim wendet sich auch gegen die Dämonisierung Assads als »Diktator«. Der syrische Präsident sei vielmehr mit den Volksmassen eng verbunden, die in ihm einen würdigen Repräsentanten der nationalen Souveränität zu würdigen wissen. Der Geistliche betrachtet die syrischen Christen nicht als marginalisierte »Minderheit«, sondern als integralen Bestandteil der syrischen Gesellschaft.

Die Überfälle sunnitischer Extremisten auf Christen und Alawiten sind deshalb auch nicht als innerer Konflikt zu betrachten, sondern als eine ausländische Aggression gegen die Grundlagen der syrischen Gesellschaft, die stets vom friedlichen Nebeneinander von Angehörigen verschiedener Religionsgemeinschaft geprägt gewesen ist.

Und nun droht das gemeinsame Haus Syrien in die Luft gesprengt zu werden. In den westlichen Planungsstäben wird bereits eine neue politische Geographie für Nahost entworfen. Nationalstaaten wie der Irak und Syrien sollen in ihre ethnischen und konfessionellen Bestandteile zerlegt werden. Die Türkei und die arabischen Golfdiktaturen zeigen sich an einer Neuordnung der Region ganz besonders interessiert. Und die westliche Wertegemeinschaft unterstützt nach Kräften die sunnitische Aggression, auch wenn das arabische Christentum dabei untergehen sollte.

** Aus: junge Welt, Samstag, 1. Juni 2013


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