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Spiel mit dem Feuer

Fortsetzung der Schießereien an der türkisch-syrischen Grenze. Damaskus weist eigene Truppen an, zehn Kilometer Distanz zu halten. Aufständische fordern »Schutzzone«

Von Karin Leukefeld *

Die Schießereien an der türkisch-syrischen Grenze haben sich am Wochenende fortgesetzt. Nach Angaben der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu erwiderte das türkische Militär mehrfach Granatenbeschuß aus Syrien. Die Vorfälle ereigneten sich in der südlichen Provinz Hatay, Einzelheiten wurden nicht genannt.

Am Sonntag berichtete die Nachrichtenagentur AFP, daß Aufständische nach hartem Kampf gegen reguläre syrische Streitkräfte die Grenzstadt Khirbat Al-Joz eingenommen hätten. Eine offizielle Bestätigung von syrischer Seite gab es nicht.

Nachdem am Mittwoch vergangener Woche bei einem vermutlich aus Syrien fehlgeleiteten Granateneinschlag in dem Grenzort Akcakale fünf Zivilisten getötet worden waren, hatte das türkische Parlament die Armee ermächtigt, grenzübergreifend aktiv zu werden. Der Beschluß hatte den Abgeordneten ohnehin zur Abstimmung vorgelegen, um grenzübergreifende Angriffe der türkischen Armee in den Irak zur Verfolgung der Kurdischen Arbeiterpartei PKK zu legitimieren. Der irakische Regierungssprecher Ali Dabbagh wies die Entscheidung als eine »Verletzung irakischer Souveränität und Sicherheit« zurück.

Bei den türkischen »Vergeltungsschlägen« gegen syrische militärische Einrichtungen Mitte letzter Woche seien syrische Soldaten getötet worden, hieß es in türkischen Medien. Von syrischer Seite wurde das nicht bestätigt.

Die syrische Führung soll indes laut türkischen Medienberichten die Streitkräfte angewiesen haben, sich der gemeinsamen Grenze zur Türkei nicht mehr als zehn Kilometer zu nähern. Sollte das stimmen, wäre zu klären, wer eigentlich aus Syrien in die Türkei hineinschießt. Die regulären syrischen Streitkräfte setzen russische Waffen ein. Nachdem die syrische Armee wiederholt westliche Waffen bei den Aufständischen und deren Waffenlieferungen konfisziert hat, werden nun überwiegend russische Waffen von den Assad-Gegnern eingesetzt. Die werden Berichten zufolge aus Libyen geliefert. Täglich werden Fahrzeuge der Aufständischen mit aufmontierten »Duschka«-Maschinengewehren von der Armee zerstört. Die schweren Waffen russischer Machart dienen als Luftabwehrgeschütze.

Die Angriffe der türkischen Armee gegen syrische Militärstellungen könnten auch eine Art Feuerschutz für die Assad-Gegner bedeuten. Die haben bisher vergeblich eine von der NATO garantierte »Schutzzone« gefordert. Seit einem Jahr läßt die Türkei aufständische Kämpfer und Waffen die Grenze nach Syrien überqueren, die in den nordsyrischen Provinzen Idlib und Aleppo inzwischen sogar Trainingslager unterhalten sollen. Das syrische Fernsehen berichtete am Sonntag, daß unter den Regimegegnern, die am Wochenende in Aleppo getötet wurden, vier Türken identifiziert worden seien. Offiziell wird die Pufferzone als »Schutz« für syrische Flüchtlinge gefordert. Tatsächlich würde eine »Schutzzone« den Aufständischen sowohl den Rückzug aus als auch einen Aufmarsch in Syrien ermöglichen. Derzeit formieren sie sich in der Türkei und im Nordlibanon.

Das iranische Außenministerium hat die Türkei aufgefordert, sich für die Freilassung von 48 Iranern einzusetzen, die von der »Freien Syrischen Armee« seit Wochen in einem Außenbezirk von Damaskus festgehalten werden. Die Entführer haben angekündigt, die Männer zu töten, sollte die syrische Armee sich nicht innerhalb von 48 Stunden zurückziehen.

* Aus: junge Welt, Montag, 08. Oktober 2012


Das Terrorbündnis

US-Heuchelei um Kriegseskalation

Von Werner Pirker **


Der Konflikt in Syrien könnte auf Nachbarländer wie die Türkei übergreifen, zeigt man sich in Washington besorgt. Man bemühe sich deshalb über diplomatische Kanäle darum, das Übergreifen des syrischen Bürgerkrieges auf andere Länder zu verhindern. Der von außen stimulierte und gesteuerte Bürgerkrieg in Syrien hat längst auf die Türkei übergegriffen. Das heißt: Die Türkei hat in den syrischen Bürgerkrieg eingegriffen. Und das erfolgte ganz gewiß nicht gegen den Willen der USA.

An Syrien grenzendes türkisches Territorium dient den Paramilitärs der sogenannten »Freien Syrischen Armee« als Rückzugsgebiet, von wo aus sie immer wieder zu ihren terroristischen Überfällen aufbrechen. In der Türkei werden sie ausgerüstet und ausgebildet, was allein schon einen schweren Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt, das die von außen erfolgte Bewaffnung einer Bürgerkriegspartei verbietet. Selbst wenn der Beschuß türkischen Territoriums von Stellungen der syrischen Regierungsarmee aus erfolgt sein sollte, handelte es sich somit um einen Akt der Notwehr.

Es spricht indes alles gegen die Annahme, Assads Armee hätte die »Reaktionsfähigkeit und Entschlossenheit unseres Landes« testen wollen, wie das der türkische Premier Erdogan suggerierte. Denn daß die Regierung in Damaskus angesichts des bewaffneten Aufruhrs im Inneren und des auf sie von außen ausgeübten Drucks auch nur auf die Idee kommen könnte, einen Krieg gegen eine der stärksten Armeen der Welt anzuzetteln, kann so gut wie ausgeschlossen werden. Hingegen spricht alles für die Annahme, daß die eher glücklos agierenden Rebellentruppen türkisches Gebiet beschossen haben, um das NATO-Land Türkei und mit ihm das ganze Kriegsbündnis nach Sy¬rien einzuladen.

Weil das die einzig logische Erklärung für den Granatenbeschuß ist, wird sie sogar von einigen westlichen Kommentatoren zaghaft angedeutet. Umso erstaunlicher ist die auch mit den Stimmen Rußlands und Chinas verabschiedete Resolution des UN-Sicherheitsrates, in der Syrien – ohne daß der Vorfall einer Untersuchung unterzogen worden wäre – für den Angriff auf das Grenzdorf Akcakale auf das Schärfste verurteilt wurde. Über die Motive, welche die beiden Vetomächte bewegt haben, erstmals eine gegen Syrien gerichtete Resolution nicht zu blockieren, kann nur gerätselt werden. Immerhin enthielt der Text auch eine Verurteilung der Terrorakte der Freischärler, was im allgemeinen Medienjubel freilich völlig unterschlagen wurde.

Vom Beschluß des UN-Sicherheitsrates offenbar ermutigt, wollen die Paten des wahhabitischen Terrors, Saudi-Arabien und Katar, schwere Waffen an die syrischen Todesschwadronen liefern. Sie erwarten dafür die »Rückendeckung der USA und am besten auch der UNO«. Washington zögert noch, weil die Waffen in die Hände von Terroristen gelangen könnten. Doch die sind längst zu unverzichtbaren Verbündeten geworden.

** Aus: junge Welt, Montag, 08. Oktober 2012


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