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Rückkehr in die "historische Heimat"

Die Flucht aus dem umkämpften Syrien in den Nordkaukasus ist für viele Tscherkessen nicht die erste

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Mit regungslosen Gesichtern saßen sie da und lauschten den Begrüßungsworten eines Regierungsvertreters. 25 Männer, Frauen und Kinder. Eine sehr alte Frau übersetzte. Sie ist eine der wenigen, die sich noch fließend in Tscherkessisch ausdrücken können, die Jüngeren bevorzugen längst Russisch. So jedenfalls schildert ein Lokaljournalist aus der nordkaukasischen Republik Kabardino-Balkarien die Ankunft der ersten Kriegsflüchtlinge aus Syrien im April.

Der Regierungsvertreter spricht von einer Rückkehr in die historische Heimat. Die Ankömmlinge sind ausnahmslos Tscherkessen. Knapp 800 000 leben heute noch im russischen Nordkaukasus. In den Republiken Kabardino-Balkarien, Karatschai-Tscherkessien, Adygeja und in der Region Krasnodar. Weltweit zählt die Volksgruppe vier bis fünf Millionen Seelen, über 100 000 davon leben in Syrien. Vor allem in den am meisten umkämpften Städten Aleppo, Damaskus und Homs.

Der 62-jährige Schora Hussam steht schon zum zweiten Mal in seinem Leben vor dem Nichts. Das Land, das seine Familie auf den Golan-Höhen besaß, wurde 1967 von Israel besetzt. Die Hussams flüchteten nach Homs, bauten dort ein neues Haus und betrieben einen Obst- und Gemüsehandel. Das Geschäft lief gut, bis die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und Rebellen begannen. Jetzt wartet Hussam in Kabardino-Balkarien auf Land für den Bau eines dritten Hauses. Und auf Entschädigung für das in Homs verlassene. Wie er brachten viele Tscherkessen es als fleißige Landwirte, geschickte Handwerker und Händler zu Wohlstand.

Nun seien Leib und Leben aller syrischen Tscherkessen akut bedroht. Vor allem dann, wenn islamische Radikale an die Macht kommen, warnt Albert Kasharow, der Kabardino-Balkarien im russischen Föderationsrat, dem Oberhaus, vertritt. Im März verschaffte er sich zusammen mit Kollegen aus den anderen Tscherkessen-Regionen im Nordkaukasus selbst ein Bild von der Lage in Syrien. Denn schon im Dezember 2011 hatten die dortigen Tscherkessen den damaligen russischen Präsidenten Dmitri Medwedjew um Asyl gebeten.

Die Tscherkessen, die sich selbst Adygen nennen, sind die Ureinwohner des nordwestlichen Kaukasus: Zwölf Stämme, die nie einen eigenen Staat hatten und im Mittelalter georgischen Königen als Prätorianer dienten und von ihnen zum Christentum bekehrt wurden. Den Islam nahmen sie erst an, als Russland im 16. Jahrhundert begann, sie im Zeichen des Kreuzes zu unterwerfen. Nach 1864 deportierte der Zar den Großteil der Volksgruppe kollektiv ins Osmanische Reich.

Als die Hohe Pforte den Balkan 1878 nach dem Russisch-Türkischen Krieg räumen musste, ließen sie sich an der türkischen Schwarzmeerküste und im Osten des Reiches nieder: im heutigen Jordanien, Libanon und Syrien. Loyalität gegenüber den Herrschern ihrer Gastländer ist für die Diaspora erste Bürgerpflicht. Ein auf Youtube veröffentlichtes Video, das kürzlich einen zu den syrischen Rebellen übergelaufenen Tscherkessen zeigt, löste bei der Volksgruppe einen Schock aus.

1999 siedelte Russland fast alle Tscherkessen aus Kosovo in der Republik Adygeja an. Keiner der Neubürger wurde bisher zum Sozialfall, die Kinder haben durchweg einen Hochschulabschluss und gelten als voll integriert. Mit der Repatriierung der meist gut betuchten syrischen Tscherkessen, glauben Experten, würde Russland einen ähnlich guten Fang machen. Hoffnungen auf kollektive Rückkehr schätzt der Politologe Sufjan Shemuchow aber als irreal ein. Die Ansiedlung der 100 000 syrischen Tscherkessen könnte nicht zuletzt das fragile ethnische Gleichgewicht im Nordkaukasus aus den Angeln heben und das Gerangel um Land und um Jobs, das in der Jelzin-Ära mehrfach in bewaffneten Auseinandersetzungen eskalierte, erneut aufflammen lassen. nd-Karte: W. Wegener

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 15. August 2012


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