Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Einschreiten der Armee

Situation in Syrien spitzt sich zu. Regierung wirft bewaffneten Salafisten brutale Gewalt gegen Armee- und Polizeieinheiten vor

Von Karin Leukefeld *

Als Reaktion auf anhaltende Proteste hat am Sonntag morgen die Armee die Kontrolle in der südsyrischen Stadt Daraa übernommen. Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur SANA habe die Armee auf »Hilferufe der Bürger von Daraa« reagiert und sei eingeschritten, um »das Töten, die Zerstörungen und den Schrecken extremistischer terroristischer Gruppen« zu beenden. Neben Armee-Einheiten seien auch Sicherheitskräfte an der Operation beteiligt. Einige Personen seien festgenommen worden, man habe »große Mengen an Waffen und Munition« sichergestellt. Bei der Operation seien Soldaten, Sicherheitskräfte und »Angehörige der extremistischen Gruppen« getötet und verwundet worden, so SANA.

Dementi aus Damaskus

Westliche Medien berichten derweil unter Bezugnahme auf »Nachrichten« bei Facebook und auf Telefoninterviews mit »Augenzeugen«, 3000 Soldaten und Sicherheitskräfte hätten bis zu 40 Menschen in Daraa getötet. Die Stadt sei abgeriegelt worden, Strom und Telefonnetze seien abgeschaltet, Wassertanks zerschossen und die nahe gelegene Grenze nach Jordanien geschlossen worden, um die Bevölkerung von der Versorgung abzuschneiden. Von den Moscheen werde um Hilfe gerufen, Anwohner könnten über das jordanische Mobilfunknetz die Außenwelt erreichen.

Die syrischen Grenzbehörden dementierten: Alle Grenzübergänge zu den Nachbarländern Syriens seien geöffnet, sagte der Chef der syrischen Grenzbehörden, Mustafa Al-Bikaii. Der Reiseverkehr und der Handel liefen normal, auch mit Jordanien.

Human Rights Watch spricht unter Berufung auf Menschenrechtsaktivisten in Syrien davon, daß landesweit 500 Personen vom Geheimdienst verhaftet worden seien. Rund 100 syrische Schriftsteller und Journalisten verurteilten das Vorgehen der Regierung. Die UN-Menschenrechtsbeauftragte Navi Pillay forderte die syrische Führung auf, die Sicherheitskräfte zurückzuhalten und politische Gefangene freizulassen.

Anwohner eines Vorortes von Damaskus und aus Jableh bestätigten derweil telefonisch gegenüber jW, daß die Armee auf Zugangsstraßen Kontrollstellen eingerichtet habe. Man müsse sich ausweisen, Kofferraum und Motorhaube bei Fahrzeugen müßten geöffnet werden. Viele Geschäfte seien geschlossen, die Menschen blieben in den Häusern.

Die syrische Regierung geht davon aus, daß landesweit etwa 5000 bewaffnete Salafisten (dogmatische Minderheitenströmung des sunnitischen Islam) gezielt gegen Einrichtungen der Armee und der Baath-Partei, gegen Soldaten und Sicherheitskräfte vorgehen. Viele der Getöteten seien verstümmelt worden. Bei Festnahmen habe man Waffen und Nachtsichtgeräte gefunden, die nicht aus Beständen der syrischen Armee stammten, deren Waffen russischer Herkunft sind. Man habe auch Satellitentelefone sichergestellt, die vermutlich aus dem Ausland an Personen verteilt worden seien.

Sanktionen erwogen

Diese Darstellung wird gestützt durch die Angabe des syrischen Exilaktivisten Ammar Abdulhamid, der aus dem US-Bundesstaat Maryland mit seiner Webseite »Syrian Revolution Digest« täglich neue »Berichte« in Umlauf bringt. Mindestens 100 Satellitentelefone, Hunderte von Kameras und Laptops habe man an Mitstreiter in Syrien verteilt, die in jeder Provinz über ein Netzwerk von Leuten verfügten. Finanziert werde man von Geschäftsleuten.

Nach dem britischen Außenministerium hat nun auch das US-Außenministerium alle Bürger seines Staates in Syrien aufgefordert, das Land zu verlassen. Die US-Regierung erwägt weitere Sanktionen gegen die arabische Republik. Das britische Außenministerium bereitet derweil eine Erklärung für den UN-Sicherheitsrat vor, mit der Syrien für sein gewaltsames Vorgehen verurteilt und eine unabhängige Untersuchung gefordert werden soll. Mit dabei sind Deutschland, Frankreich und Portugal. Außenminister William Hague sagte, die Regierung in Damaskus benötige ein »starkes Signal«, die Augen der internationalen Gemeinschaft seien auf das Land gerichtet und »weitere Maßnahmen« seien möglich.

Der Tourismus in Syrien, der normalerweise um Ostern und im Frühjahr Hochsaison hat, ist aufgrund der Ereignisse dramatisch eingebrochen. Auch das Auswärtige Amt rät dringend von Reisen in das Land ab.

* Aus: junge Welt, 27. April 2011


Zurück zur Syrien-Seite

Zurück zur Homepage