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Leben in Angst

Bombenanschläge und Mörserbeschuß terrorisieren die Bevölkerung in der syrischen Hauptstadt. Nichts und niemand ist sicher

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Mittagszeit im Zentrum von Damaskus, Mittwoch, 6. November. Gerade hat Mahmud 100 Lira für die frisch geputzten Schuhe bezahlt, als es knallt und ihm eine ungeheure Druckwelle den Atem nimmt. Menschen fliegen durch die Luft, Rauch und Staub steigen auf, Mahmud wirft sich hinter einem Auto auf den Boden. Ein Mann neben ihm fällt zur Seite, aus seinem Kopf tropft Blut. Eine Frau liegt da, zwei Kinder neben ihr wimmern. Für einen Augenblick herrscht gespenstische Ruhe. Eine riesige Staubwolke erhebt sich zwischen Mahmud und dem Hedschasbahnhof auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes. Er dreht sich um und sieht den Schuhputzer an, der mit weit aufgerissenen Augen auf den Platz starrt. Die Menschen, die sich eben noch unbekümmert einen Weg durch den dichten Verkehr gebahnt haben, hocken am Boden oder haben sich in Hauseingänge gedrängt. Als der Staub sich langsam senkt, sieht Mahmud viele Menschen am Boden liegen.

Wie in Zeitlupe geht das Leben weiter. Autos rucken langsam voran, Menschen erheben sich und stolpern fort, einige helfen einander. Als Mahmud begreift, daß ihm außer Blutspritzern auf seinem Hemd nichts geschehen ist, steht er langsam auf und blickt ungläubig zu dem alten Bahnhof hinüber. Auf dessen Stufen liegen blutüberströmt Menschen. Ein Gerüst, auf dem Arbeiter eben noch die alten Mauern mit einem Sandstrahler gereinigt haben, ist zusammengebrochen. Wie durch ein Wunder ist der alte Sibil, der Trinkwasserbrunnen vor den Stufen zur Eingangshalle, heil geblieben. Auch die bunten Scheiben der alten Fenster sind unversehrt.

Etwa zur gleichen Zeit, als Mahmud sich die Schuhe putzen läßt, ist der Schokoladenfabrikant Dalati auf dem Weg vom Suk Al-Hamidije zu seinem kleinen Geschäft hinter dem Hedschasbahnhof. Zufällig trifft er einen alten Freund, den er lange nicht gesehen hat. Sie unterhalten sich. Gerade als die beiden Männer sich die Hände geben, übertönt die Explosion etwa 200 Meter weiter ihren Abschiedsgruß. »Der Freund hat mir das Leben gerettet«, sagt Dalati wenige Stunden später. »Hätten wir uns nicht getroffen, wäre ich vermutlich gerade in dem Augenblick vor dem Bahnhof gewesen.«

»In dem Augenblick« sitzt der Friseur Ahmed Halbuni wenige Meter weiter in einem Café mit einem Freund, der sonst im Ausland lebt, zusammen. Der will wissen, wie es mit Syrien wohl weitergehen wird, als der Sprengsatz explodiert. Halbuni atmet tief durch, stellt die Tasse mit dem süßen starken Kaffee, die er gerade an den Mund führen wollte, langsam auf den Tisch zurück. »Das sagt doch alles«, meint er dann und zuckt mit den Schultern. »Niemand weiß, wo das hinführt.«

Vor dem Bahnhof kehrt man rasch wieder zum Alltag zurück. Soldaten kommen von einer nahe gelegenen Wache herbeigelaufen und sperren den Tatort ab. Krankenwagen des Syrischen Arabischen Roten Halbmonds (SARC) rasen mit lautem Sirenengeheul herbei. Leblose und Verletzte werden fast schon routinemäßig eingeladen und fortgefahren. Sicherheitskräfte untersuchen und sichern die Reste des Sprengsatzes, der acht Menschen das Leben gekostet und 50 verwundet hat, wie später zu erfahren ist. Städtische Arbeiter kehren Splitter beiseite. Dann kommt ein großer Wassertankwagen angefahren, und Arbeiter waschen und schrubben das Blut von den Steinen. Der Mann, der vor den Stufen zum Bahnhof seit Jahren aufziehbare tanzende Bären, watschelnde Enten und anderes Kinderspielzeug verkauft hat, ist verschwunden.

Fehlende Sicherheit

Noch während die Aufräumarbeiten vor dem Hedschas anhalten, sind weitere Explosionen zu hören. Neben einem Krankenhaus in Dscharamana, einer Schule in Al-Sahira, in Al-Qassa, in Al-Halbuni und im Sportpark Al-Fayhaa, wo Inlandsvertriebene untergebracht sind, gehen Mörsergranaten nieder.

Ob es die Frau ist, die um Haaresbreite einer Granate entgeht, weil sie einen Gemüseladen betreten hat, oder die, auf deren Hausdach eine Granate die Wassertanks zerstört, ob der Mann, der seine Wohnung verlassen hat, weil sie »an der Front zu Dschobar« liegt, einem östlichen Vorort von Damaskus, der von Bewaffneten gehalten wird, oder ob es die Eltern sind, die täglich um das Leben ihrer Kinder bangen, wenn sie in der Schule sind – jede Syrerin, jeder Syrer hat heute Angst und fühlt sich unsicher, kann von Verlust und Verletzung erzählen. Die Wege zur Arbeit, in die Schule oder an die Universität sind manchmal unbefahrbar. Familien rücken bis auf den letzten Zentimeter zusammen, um ihre bedrängte Verwandtschaft aufzunehmen.

Die Palästinenser trifft es besonders hart, wie Abu Mahmoun [1] aus Yarmuk erzählt. Seit Dezember 2012 ist das Palästinenserlager in Damaskus von bewaffneten Gruppen besetzt, Zehntausende Menschen sind geflohen. Seit fast einem Jahr lebt Abu Mahmoun nun mit Frau und zwei Kindern in einem Zimmer und weiß nicht, wie es weitergehen soll. Sein Bruder in Kanada schickt ihm monatlich Geld. »Warum kommen diese Kämpfer in unsere Straßen, in unsere Viertel«, fragt er empört. »Wenn sie gegen die Armee kämpfen wollen, sollen sie das doch in der Wüste tun. Nicht da, wo wir wohnen.«

Ähnlich sieht es Maher, der mit seiner Familie nach Qutseiya geflohen ist, einen westlichen Vorort von Damaskus. Als Taxifahrer kann er etwas Geld verdienen, und die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) unterstützt die vertriebenen Palästinenser. Doch wie lange kann eine Familie in einem engen Raum leben, ohne Schaden zu nehmen, fragt sich Maher. Während sein Wagen im Stau nur langsam vorankommt, erzählt er was, ihn zur Flucht aus Yarmuk getrieben hat. Er sei in der Moschee gewesen, als seine Frau aufgeregt auf dem Handy angerufen habe. Eine Granate sei in ihrem Haus eingeschlagen, die Kinder schrien vor Angst. Er habe ihr gesagt, sie solle mit den Kindern im Bad Zuflucht suchen, das in der Mitte der Wohnung sei. Dann sei er sofort nach Hause geeilt, und sie hätten das Nötigste gepackt. Dann seien sie aber geblieben, weil sie nicht wußten, wohin sie gehen sollten. Die Kämpfe um sie herum wurden schlimmer, die Kinder hätten nicht mehr schlafen können. Der Jüngste habe mit zitternden Lippen versucht zu sprechen, doch kein Ton sei über seine Lippen gekommen. »Es liegt in Gottes Hand, was aus uns wird«, seufzt der Mann. »Hoffen wir, daß es besser wird.«

Die Sicherheitsmaßnahmen von Armee und Polizei in und um Damaskus machen den Menschen das Leben noch schwerer. Viele Straßen in die Hauptstadt sind gesperrt, lange Schlangen bilden sich vor unzähligen Kontrollpunkten. Händler, die Obst und Gemüse vom Land in die Stadt bringen, müssen oft alle Kisten abladen, um zu zeigen, daß nirgends Sprengstoff oder Waffen versteckt sind. Detektoren, die Sprengstoff in Fahrzeugen aufspüren, haben in den letzten Wochen die Kontrollen etwas beschleunigt. Für einen Weg, für den man früher 20 Minuten brauchte, muß man heute bis zu zwei Stunden planen. Arbeit und Handel, Schulen, Universitäten – das Leben funktioniert auf Sparflamme. Das Zentrum der Stadt ist nur schwer zugänglich. Viele Straßen sind komplett gesperrt, andere durch Zäune oder Betonblöcke verengt, die um Hotels, um das Opernhaus, die Zentralbank, Krankenhäuser, Medienanstalten oder andere offizielle Gebäude aufgestellt bzw. verlegt wurden. Die meisten Betonblöcke zur Absperrung, wurden mittlerweile in den Farben der syrischen Nationalfahne gestrichen. Parkplätze in der Stadt sind rar geworden, manch einer läuft bis zu fünf Kilometer zu Fuß, um seinen Arbeitsplatz zu erreichen.

Verhandlungen nötig

Nach dem Anschlag am Hedschasbahnhof sucht der pensionierte Agraringenieur Nabil nach Worten. »Was wollen sie uns mit diesem Terror sagen? Ist das ihre Freiheit, ist das ihr Programm, daß sie unser Leben zerstören!?« Selbst Amar*, ein glühender Gegner des syrischen Präsidenten, ist überzeugt, daß die Gewalt ein Ende haben muß: »Ohne Verhandlungen geht gar nichts weiter«, sagt er, die Menschen seien müde. Omar [1] rührt in einer Tasse Tee und sagt mit schmalen Lippen: »Acht Menschen tot, und er sitzt immer noch auf seinem Stuhl.« Die Anklage gilt dem syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad, der die Forderung nach seinem Rücktritt zurückweist. Gegner des Präsidenten wie Omar machen Assad persönlich verantwortlich für jeden Toten, für jedes zerstörte Haus in Syrien. Doch Leute wie Hasem sehen das anders. Hasem ist ein junger Ingenieur, der seit der Zerstörung und Plünderung des Betriebes, bei dem er in Aleppo beschäftigt war, ohne Arbeit und Einkommen ist. Als er hört, was Omar sagt, reagiert er heftig: »Wenn der Präsident geht, stehe ich am nächsten Morgen mit meiner Familie an der Grenze«.

[1] Name auf Wunsch geändert

* Aus: junge Welt, Montag, 11. November 2013


30 Jahre für Wiederaufbau **

Bis zu 30 Jahre könnte es dauern, bis Syrien sich wirtschaftlich von den Folgen des Krieges wieder erholt hat. Voraussetzung wäre, daß die Kämpfe in naher Zukunft eingestellt werden. Der fast drei Jahre währende bewaffnete Konflikt in dem Land sei ein »schweigender Krieg gegen die menschliche und wirtschaftliche Entwicklung«, heißt es in einem Bericht der UN-Entwicklungshilfeorganisation (UNDP) und der UN-Organisation für die Unterstützung palästinensischer Flüchtlinge (UNRWA). Für die einfachen Syrer sei es geradezu unmöglich geworden, sich mit grundlegenden Nahrungsmitteln und Wohnraum zu versorgen. Ersichtlich werde das am privaten Verbraucherverhalten. Laut dem Report ist der Konsum im Jahr 2013 um 47 Prozent zurückgegangen, im Vorjahr 2012 betrug der Rückgang 18 Prozent. Der massive Rückgang des Handels hat zu einem Verlust von 2,3 Millionen Arbeitsplätzen geführt. Ursache des wirtschaftlichen Einbruchs sind die massiven Zerstörungen syrischer Industrieanlagen sowie die harten Sanktionen der USA und der Europäischen Union. Axel Pollock, Mikrofinanzexperte bei der UNRWA, schätzt die Kosten des Krieges in Syrien auf mittlerweile 103,1 Milliarden US-Dollar. Die Summe ist eineinhalb Mal so hoch wie das syrische Bruttoinlandprodukt 2010. Das Wirtschaftswachstum in Syrien lag 2010 bei fünf Prozent.

Hilfsorganisationen gehen von der Faustregel aus, daß ein Land pro Kriegsjahr etwa sieben Jahre braucht, um sich von den Folgen zu erholen. Sehe man aber nach Jugoslawien oder in den Irak, müsse man mit einem Zeitraum von mindestens zehn Jahren rechnen, meinte der Leiter der Hilfsorganisation »Mercy Corps« gegenüber der Agentur IPS.

Während die produktive Arbeit in Syrien dramatisch gesunken ist, blühen der Schwarzhandel und die Kriegswirtschaft. Die Folgen des Krieges in Syrien als auch das Chaos, das der »arabische Frühling« in den östlichen und südlichen Mittelmeerstaaten hinterlassen hat, haben dem Schmuggel mit Waffen, Kämpfern und Flüchtlingen eindrucksvolle Wachstumsraten beschert.

Die UN-Wirtschaftsorganisation für Westasien, zuständig für die Arabische Halbinsel, Ägypten, Sudan, Libyen, Tunesien und Marokko, hat derweil eine »Nationale Agenda für die Zukunft Syriens« ausgearbeitet. Unter dem Vorsitz des früheren syrischen Ministerpräsidenten für Wirtschaft, Abdullah Dardari, trafen sich kürzlich mehr als 150 Ökonomen aus Syrien in Beirut, um über die Folgen des Krieges und den Wiederaufbau zu beraten. Erstmals nahmen mit Beamten der mittleren Ebene auch offizielle syrische Regierungsvertreter an dem Treffen teil. Mit Haitham Manna, Aref Dahlila und Hussein Udad waren auch Vertreter der Opposition eingeladen. (kl)

** Aus: junge Welt, Montag, 11. November 2013

Karin Leukefeld

referiert auf dem Friedenspolitischen Ratschlag 2013 zum Thema:
Der Krieg gegen Syrien ist vertagt. Die Gefahr bleibt bestehen
Workshop B6 am Samstagnachmittag 7. Dezember 2013.
Zum ganzen Programm des Friedensratschlags.




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