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Syrien zählt Stimmen aus

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Einen Tag nach der Parlamentswahl hat in Syrien am Dienstag die Auszählung der Stimmen begonnen. Aus syrischen Regierungskreisen wurde die Abstimmung als »Meilenstein bei der Umsetzung der zugesagten Reformen« bezeichnet. Die große Beteiligung zeige, daß die Syrer frei und unabhängig ihr Wahlrecht wahrnehmen wollten, hieß es. Neugegründete Parteien, die teilweise eine oppositionelle Haltung zur aktuellen Regierung einnehmen, beteiligten sich erstmals auch an den Wahlen. Der Historiker George Jabbour bezeichnete die neuen politischen Formationen als »gezähmt«, weil sie immerhin von der Regierung eine Zulassung erhalten hätten. Der politische Prozeß in Syrien sei noch schwach, aber immerhin gehe es voran, sagte Jabbour. Ein Sprecher des US-Außenministeriums verurteilte die Abstimmung als »fast irrsinnig«. Große Teile der Opposition hatten die Wahl boykottiert.

Unter Aufsicht der in allen Provinzen des Landes eingesetzten juristischen Komitees wurde mit der Auszählung am frühen Dienstag morgen begonnen. Ebenfalls anwesend waren Kandidaten und Vertreter der Medien. Wann das Endergebnis verkündet wird, war bis jW-Redaktionsschluß am Dienstag unklar. Die zunehmend gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Armee, Sicherheitskräften und bewaffneten Gruppen hatte Beobachtern zufolge in den vergangenen Wochen bei vielen Kritikern der Regierung einen Sinneswandel bewirkt. Viele, die sich beim Referendum über die neue Verfassung nicht beteiligt hatten, gingen dieses Mal zur Wahl. Er habe Personen gewählt, die er persönlich kenne und denen er vertraue, sagte ein 80jähriger gegenüber junge Welt. Auch wenn seine ganze Familie nicht zur Wahl gegangen sei, habe er teilnehmen wollen, um »die politische Basis in Syrien zu stärken«. Ob und wie der Präsident, bei dem alle politische Macht läge, mit dem Ergebnis umgehen werde, müsse man abwarten. Er hoffe, daß die Syrer in Zukunft ihre politische Vertretung wählen könnten, »egal zu welcher Partei sie gehörten«.

Die UN-Beobachtermission wurde derweil auf 70 Mitglieder vergrößert. Das teilte der Sprecher der Mission, Neeraj Singh, am Dienstag in Damaskus mit. Er erwarte eine rasche Vergrößerung der Mission. Neun der Beobachter sind in Homs stationiert, vier jeweils in Deraa an der Grenze zu Jordanien, in Hama und in Idlib. Täglich werden Berichte an die Zentrale in Genf geschickt. Die Staaten, die den Vereinten Nationen Friedenstruppen zur Verfügung stellen, haben bisher lediglich 150 Beobachter für die Syrien-Mission angeboten. Eine Beteiligung der führenden Staaten der Gruppe »Freunde Syriens« lehnt die Führung in Damaskus ab. Syrischen und ausländischen Beobachtern zufolge hat die Mission bereits erheblich zum Rückgang der Gewalt im Land beigetragen.

In einem internen Gespräch mit ausländischen Diplomaten in Damaskus räumte kürzlich ein UN-Vertreter ein, daß sich die wirtschaftliche Lage in Syrien auch wegen der westlichen Sanktionen erheblich verschlechtert habe. Die schwerste Schädigung und steigende Arbeitslosigkeit sei auf den ausbleibenden Tourismus zurückzuführen, der zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausgemacht hatte. Abgesehen davon leide die Ökonomie des Landes unter den Unruhen, vor allem wegen der eingeschränkten Transportmöglichkeiten.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 9. Mai 2012


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