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"Syrien droht der Staatszerfall"

Große Hoffnungen in Damaskus auf Friedensgespräche in Genf. Deutsche Linke muß sich gegen Wirtschaftsembargo und für Kriegsflüchtlinge engagieren. Ein Gespräch mit Christiane Reymann *


Christiane Reymann ist Journalistin und aktiv in der Partei Die Linke sowie der Europäischen Linkspartei. Zusammen mit Wolfgang Gehrcke hat sie das Buch »Syrien. Wie man einen säkularen Staat zerstört und eine Gesellschaft islamisiert« (PapyRossa-Verlag) herausgegeben.

Noch im Sommer sollen in Genf auf Initiative Rußlands, der USA und der UNO Friedensgespräche zu Syrien stattfinden. Sie waren vom 2. bis 8. Juni mit einer Delegation der internationalen Initiative »Peace in Syria« in Damaskus, haben dort mit Vertretern von Oppositionsgruppen sowie auf Ministerebene mit der Regierung und mit Präsident Baschar Al-Assad gesprochen. Wie groß ist die Bereitschaft zum Dialog?

Sehr groß, die Erwartungen sind fast zu hoch. Die Regierung ist gut vorbereitet. Die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen setzen große Hoffnungen auf Genf. Es herrscht eine Stimmung wie »Das ist unsere letzte Chance«, was es nicht ist. Ich glaube nicht, daß sich der Krieg durch Gespräche in Genf beenden läßt, aber es wird eine wichtige Etappe auf dem Weg zum Frieden, wenn Frieden das Thema ist und nicht ein sogenannter Regime Change.

Letzteres ist immer noch die Vorbedingung der vom Westen anerkannten Opposition.

Die gewaltsamen, gewaltbereiten Teile der Opposition, sie firmieren als »Freie Syrische Armee«, FSA, oder »Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte«, haben Gespräche mit uns abgelehnt. Ich erkläre das damit, daß sie sich bezüglich Genf noch im Entscheidungsprozeß befinden, ebenso die Kräfte, die hinter ihnen stehen, sie finanzieren und ihre Positionen bestimmen. Das sind nicht zuletzt die USA, Großbritannien und Frankreich; für die Haltung zu Genf sind die Türkei, Katar, Saudi-Arabien ausschlaggebend.

Die demokratische, gewaltfreie Opposition in Syrien hingegen war sehr an Treffen mit uns interessiert.

Welche Relevanz besitzt diese politische Opposition?

Alle unsere Gesprächspartner, von UN-Repräsentanten, Hisbollah, verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, alten Kommunisten, die 30 Jahre Haft erlitten haben – alle haben uns bestätigt, daß es derzeit zwar couragierte demokratische Gruppen gäbe, aber keine politische Opposition von relevanter Größe. Das ist auch ein Ergebnis der Assad-Regierung, die die Entwicklung autonomer politischer Strömungen jahrzehntelang nicht zugelassen hat. Es haben sich jetzt ungefähr 150 politische Parteien gebildet. Das zeigt die Fragmentierung der politischen Szene.

Präsident Assad hat sich in einem Interview mit dem libanesischen TV-Sender Al-Manar (siehe jW vom 4. und 5. Juni) siegessicher gezeigt. Wie haben Sie die Stimmung in Damaskus erlebt?

Als wir in der Hauptstadt ankamen und unsere ersten Gespräche führten, tobte noch der Kampf um Kusair. Am zweiten Tag kam dann die Meldung vom Sieg. Man hat unseren Gesprächspartnern physisch die Erleichterung angemerkt – Regierungsvertretern wie auch vielen anderen. Kusair war zwar kein Stalingrad, aber eine für sie sehr wichtige Schlacht.

Meiner Wahrnehmung nach vertraut die Regierung darauf, daß sie im Zweifelsfall, falls Genf scheitert, militärisch weitermachen und siegen kann. Das besorgt mich, weil es eine Art Hintertür läßt. Dieser Krieg ist militärisch nicht zu gewinnen. Es kann sein, daß die Armee eine Zeitlang militärisch die Oberhand behalten kann. Aber das Land ist jetzt schon in einem so desaströsen Zustand, daß ein Zerfall nicht unwahrscheinlich ist.

Die religiösen Selbstdefinitionen bilden sich in Syrien in Windeseile heraus, und das in einer Schärfe, die niemand erwartet hat. Mich erinnert das an das ehemalige Jugoslawien in den 90er Jahren, wo es auf einmal Katholiken, Orthodoxe und Muslime, Kroaten und Serben gegeben hat. Eine solche Dynamik ist nur ganz schwer zu bremsen und rückgängig zu machen.

Wie haben Sie den Alltag erlebt?

Es ist schon gespenstisch. In Damaskus läuft das Leben recht normal. Man kann Lebensmittel kaufen, die Menschen sind auf der Straße, Restaurants sind geöffnet. Aber die ganze Nacht ist Kanonendonner zu hören. Diese beiden Ebenen, den Krieg zu hören und gleichzeitig in scheinbarer Normalität zu leben, haben mich zutiefst irritiert. Die Straße von Damaskus nach Beirut steht unter militärischer Kontrolle der Armee. Es muß dennoch jeden Morgen geprüft werden, ob die Strecke sicher ist.

Sie haben mit der Hisbollah gesprochen. Wie erklärt die ihr militärisches Engagement im Nachbarland?

Wir haben im Libanon, in Beirut, mit Ali Fayyad gesprochen, er gehört zum engeren Kreis der Hisbollah-Führung und ist Mitglied des Parlaments. Er sagt, die Hisbollah habe sich an den Kämpfen um Kusair beteiligt, um die Bevölkerung in den dortigen Dörfern zu beschützen. Es seien überwiegend Christen, aber vor allem ursprünglich Libanesen. Darüber hinaus kämpfe Hisbollah nicht für Assad, es ginge vielmehr darum, die »Achse des Widerstands« …

… Syrien, Iran und Hisbollah …

… gegen die Islamisten zu verteidigen und aufrechtzuerhalten.

Sie haben auch Präsident Assad getroffen. Was haben sie besprochen?

Mit all unseren Gesprächspartnern, auch mit dem Präsidenten, haben wir darüber gesprochen, daß der Konflikt aus unserer Sicht militärisch nicht gelöst werden kann. Es bedarf vielmehr einer politischen Verhandlungslösung. Dazu möchten wir unseren bescheidenen Beitrag leisten – etwa mit einer internationalen Konferenz der Zivilgesellschaft als Pendant zu den Genfer Verhandlungen.

Wie war die Atmosphäre bei den Gesprächen?

Wir haben einander aufmerksam zugehört. Das Treffen fand in einem eher schlichten Gebäude statt. Es gab keine großen Sicherheitskontrollen. Der Präsident war ohne Begleitung mit uns allein im Raum, er führte das Gespräch auf Englisch, ohne Dolmetscher.

Wo verortet sich die Linke in Deutschland, nicht wenige meinen ja, die »Revolution« in Syrien »adoptieren« zu müssen?

Wir müssen uns immer wieder neu verorten, denn die Situation in Syrien verändert sich dramatisch. Der Staatenzerfall liegt in der Luft. Syrien sei schon jetzt ein »failed state«, meinen einige unserer Gesprächspartner. Andere urteilen, die USA hätten ihr Ziel in Syrien erreicht, das Land brauche mindestens 25 Jahre, um sich von diesem Krieg zu erholen. Sie müssen bedenken: Über 80 Prozent der Fabriken, die große Mehrheit der Krankenhäuser sind zerstört. Ebenso die großen Kommunikationseinrichtungen und -verbindungen. 6,8 Millionen Syrerinnen und Syrer sind auf Hilfe angewiesen. Das ist ein Drittel der Bevölkerung. Das ist alles unfaßbar. Der Libanon mit seinen vier Millionen Einwohnern hat 1,1 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen, zusätzlich zu den 500000 palästinensischen und 500000 Migranten. Bezogen auf Deutschland hießen diese Relationen: Wir hätten 40 Millionen Menschen in Not aufgenommen!

»Adopt a Revolution« bezieht sich auf den Stand von vor zwei Jahren, doch der ist längst überholt. Im Unterschied zu anderen Protesten ist der Aufruhr in Syrien in unvorstellbarer Geschwindigkeit von ausländischen Kräften, die miteinander auch noch konkurrieren, übernommen worden.

Es ist auch kein Bürgerkrieg mehr, eine Bezeichnung, die Wolfgang Gehrcke und ich in dem Buch »Syrien. Wie man einen säkularen Staat zerstört und eine Gesellschaft islamisiert« Anfang Februar noch verwendet haben. »Bürgerkrieg« charakterisiert die Lage nicht mehr ausreichend.

Welche Bezeichnung wäre treffender?

Vielleicht: Transnationaler Krieg. Das Aufbegehren gegen das Baath-Regime war politisch berechtigt, aber es wurde den Agierenden enteignet. Jetzt tobt ein sektiererischer, konfessionalistischer transnationaler Krieg, der die Einheit des Landes substantiell bedroht.

Verschiedenen Angaben zufolge sind 1200 bis 2000 bewaffnete Gruppen im Land unterwegs, die ganz unterschiedliche Interessen verfolgen. Darunter sind auch Kriminelle oder Kämpfer, die zu den Waffen greifen, weil sie dann Sold erhalten, sprich: Lebensunterhalt. Andere kommen nach Syrien, um den Märtyrertod zu sterben; das mag die Brutalität der Kämpfe erklären. Sicher gibt es auch noch welche, die einfach ihre Dörfer schützen wollen – worauf »Adopt a Revolution« ja gern abhebt. Ich habe mit Flüchtlingen gesprochen, die ohne Waffen genau das versucht hatten. Eben diese Friedensstifter werden oft als Erste überrannt und vertrieben.

Aufgabe der Linkskräfte hierzulande wäre, die humanitäre Katastrophe, die Zerstörungen in Syrien zur Kenntnis zu nehmen und viel mehr Druck auf die Bundesregierung gegen Waffenlieferungen und für eine politische Lösung ohne Vorbedingungen zu machen. Dann das Embargo: Die EU-Staaten haben fatalerweise das Waffenembargo aufgehoben, nicht aber den Rest. Doch Syrien hat keine Medikamente mehr! Wir müssen etwas dafür tun, daß mehr Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen werden.

Wir haben in Damaskus mit Repräsentanten verschiedener UN-Organisationen gesprochen, darunter des Kinderhilfswerks UNICEF. Wir waren die ersten seit über einem Jahr, die zu ihnen gekommen sind! Es ist soviel Verlogenheit im Spiel, wenn hierzulande von den syrischen Menschen die Rede ist. Bei denen, die unmittelbar helfen, die Wasseraufbereitungsanlagen aufbauen, Hilfsgüter verteilen, bei denen war niemand. Seit einem Jahr hat sich keiner bei denen erkundigt, wie die Lage ist.

Interview: Rüdiger Göbel

* Aus: junge Welt, Freitag, 14. Juni 2013


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