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Syrien wehrt sich gegen Pufferzonen-Vorschlag

Assad entsandte Delegation nach Ankara / Weitere Kämpfe

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Die syrische Armee soll vor der Stadt Chan Scheichun in der nordwestlichen Provinz Idlib aufmarschiert sein. UN-Generalsekretär Ban hat Syriens Staatschef Assad zu schnellen Reformen aufgefordert, »bevor es zu spät ist«.

Um den Druck aus den angespannten türkisch-syrischen Beziehungen zu nehmen, hat Syriens Präsident Baschar al-Assad am Mittwoch eine Delegation zu Gesprächen nach Ankara entsandt. Geleitet wird sie vom früheren Verteidigungsminister Hassan Turkmani und dem stellvertretenden Außenminister Abdulfattah Ammura. Bei den Gesprächen mit dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan und Außenminister Ahmet Davutoglu geht es offiziell um die Situation der Syrer, die seit Tagen über die gemeinsame Grenze nach Hatay (Iskenderun) strömen. Ein weiteres Thema dürfte eine »Pufferzone« sein, die angeblich von der Türkei auf der syrischen Seite der Grenze eingerichtet werden soll.

Eine offizielle Bestätigung dafür gibt es nicht, allerdings spekulieren etliche Reporter seit Tagen darüber. Der in westlichen Medien häufig als »intimer Kenner türkischer Politik« zitierte Mehmet Ali Birand schrieb in der englischsprachigen »Daily News«, es habe bereits »militärische und zivile Treffen über eine Pufferzone« gegeben. Offenbar hat die türkische Regierung alle Botschafter aus den Staaten des Nahen Ostens nach Ankara eingeladen, um über weitere Maßnahmen zu beraten. Sollte die Türkei tatsächlich eine »Pufferzone« auf syrischem Boden errichten wollen, dürfte Damaskus dem nicht tatenlos zusehen. Grundlage einer solchen Maßnahme könnte die neuerdings vom Sicherheitsrat viel zitierte Formel »Verantwortung zum Schutz« der eigenen Bevölkerung sein. Damit wird unter Umgehung des Völkerrechts eine militärische Intervention in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates begründet, jüngstes Beispiel ist der NATO-Einsatz in Libyen.

Ausländische Sender berichten fast stündlich über syrische Flüchtlinge, die vor Angriffen der syrischen Armee in der Türkei Schutz suchen. Reportern ist der Zutritt zu den Zeltlagern auf türkischem Gebiet untersagt, direkte Gespräche sind nicht möglich. Ein namentlich nicht genannter westlicher Diplomat in Damaskus sprach gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters von einer »Politik der verbrannten Erde«, die Syrien gegen das eigene Volk betreibe. Demnach sollen syrische Truppen Häuser, Felder und Vieh der Bewohner im Norden des Landes in Brand setzen. Beweise für diese Anschuldigungen gibt es nicht.

Die syrische Armee spricht derweil von Kämpfen mit bewaffneten Aufständischen, die die Bevölkerung bedrohten und Präsident Assad stürzen wollten. Seit einigen Tagen ist es für ausländische Kamerateams und Fotografen möglich, eingebettet in die Armee aus Dschisr al-Schugur und umliegenden Orten zu berichten.

Eine Fluchtwelle war von der Türkei offenbar erwartet worden. Eine erste Zeltstadt baute der türkische Rote Halbmond bereits Anfang Mai. Erst seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen in und um Dschisr al-Schugur strömen tatsächlich viele Menschen über die Grenze. Wer sein Vieh mitbringen will, wird aber offenbar von den türkischen Grenzsoldaten gestoppt, viele Menschen sollen sich inzwischen im »Niemandsland« zwischen syrischen und türkischen Grenzposten niedergelassen haben. Weder die Türkei noch Syrien sprechen von »Flüchtlingen«, sondern von »Gästen«. Nach offiziellen türkischen Angaben handelt es sich bisher um rund 8500 Personen, vor allem Frauen und Kinder.

Seit Wochen fordern internationale Menschenrechtsorganisationen den Zugang zu den Zentren der Kämpfe in Syrien. Am Mittwoch legte Navi Pillay, die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, einen vorläufigen Bericht vor, in dem sie vor allem den »Einsatz scharfer Munition gegen unbewaffnete Zivilisten« sowie den Einsatz von »Scharfschützen auf Dächern öffentlicher Gebäude« kritisiert. Auch der »Einsatz von Panzern in dicht bevölkerten Gebieten« sei unakzeptabel. Die Zahl der bisher getöteten Menschen in Syrien gibt der Bericht mit »mehr als 1100« an, darunter auch Frauen und Kinder. Pillay forderte die syrische Regierung erneut auf, eine Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrates ins Land zu lassen.

Einen Tag zuvor, am 5. Jahrestag der Gaza-Blockade, hatte der syrische Vertreter beim UN-Menschenrechtsrat, Faisal al-Hamoui, auf die Doppelmoral der Staaten hingewiesen, die Israel unterstützten. Sie müssten auf Israel einwirken, die Menschenrechte und das Völkerrecht zu achten, sagte Hamoui. Angesichts der Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen, die das israelische Besatzungsregime in den besetzten arabischen Gebieten verübe, dürfe man nicht schweigen.

* Aus: Neues Deutschland, 17. Juni 2011


Syrische Flüchtlinge im Hungerstreik

Abschottung in türkischen Lagern beklagt **

Syrische Flüchtlinge in der Türkei sind am Freitag (17. Juni) aus Protest gegen ihre Abschottung durch die türkischen Behörden in den Hungerstreik getreten.

Der Hungerstreik im Flüchtlingslager Yayladagi habe nach dem Freitagsgebet begonnen, sagte ein syrischer Dissident in der Türkei, der anonym bleiben wollte. Das Aufnahmelager war Ende April in der südtürkischen Provinz Hatay eingerichtet worden und beherbergt inzwischen mehrere tausend Flüchtlinge. Insgesamt stieg die Zahl der syrischen Flüchtlinge in fünf Zeltdörfern der Provinz auf rund 9700.

Mit dem Hungerstreik protestierten die Flüchtlinge gegen das Ausbleiben von Besuch, das Verbot, gegen die syrische Führung zu demonstrieren, sowie gegen mangelnden Kontakt zur Außenwelt, sagte der Aktivist. Zudem hätten türkische Wachleute am Donnerstag Flüchtlinge geschlagen.

Die türkischen Behörden verweigern jeglichen Zugang zu den Flüchtlingen, versichern aber, dass diese drei warme Mahlzeiten täglich sowie warmes Wasser rund um die Uhr bekommen. Zudem gebe es Waschmaschinen und Fernsehgeräte. Die Kinder würden von Animateuren abgelenkt, arabischsprachige Psychologen und Imame stünden außerdem zur Beratung zur Verfügung. Am Freitag wollte Hollywoodschauspielerin Angelina Jolie in ihrer Funktion als Botschafterin für das Flüchtlingshilfswerk UNHCR eines der Aufnahmelager in Hatay besuchen.

Syrische Sicherheitskräfte haben nach Angaben von Menschenrechtlern auch am Freitag (17. Juni) wieder auf Demonstranten geschossen. Bei dem gewaltsamen Vorgehen gegen die Proteste nach den Freitagsgebeten in Banias sei eine unbekannte Zahl Menschen getötet worden, teilte der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel Rahman, in London mit. Auch in anderen Städten seien die Menschen wieder gegen Präsident Baschar al-Assad auf die Straße gegangen.

Bei der seit März andauernden Protestbewegung gegen die Regierung Assad kamen nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen und der UNO bislang mehr als 1200 Demonstranten ums Leben, rund zehntausend wurden festgenommen. Damaskus macht »bewaffnete Banden« für die Gewalt verantwortlich.

** Aus: Neues Deutschland, 18. Juni 2011


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