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Tote in Lattakia

Syrische Regierung weist Verantwortung für Angriffe auf Oppositionelle zurück und beschuldigt ausländische Provokateure

Von Karin Leukefeld *

In der syrischen Küstenstadt Lattakia haben am Samstag unbekannte Scharfschützen von Dächern aus auf eine Kundgebung gefeuert. Die amtliche Nachrichtenagentur SANA meldete unter Berufung auf »offizielle Angaben«, daß zwölf Menschen getötet worden seien, darunter zwei der Heckenschützen. Weiter berichtete SANA, 200 Verletzte seien wegen Schußverletzungen, Stichwunden oder Schlägen mit Eisenstangen in ärztlicher Behandlung, darunter viele Sicherheitskräfte. Das syrische Fernsehen brachte Interviews mit Verletzten, die in Krankenhäusern behandelt wurden. Die Scharfschützen hätten auf Zivilisten, Polizei und Sicherheitskräfte geschossen, sagte die Medienbeauftragte und Beraterin von Präsident Assad, Bouthaina Schaaban, vor Journalisten. Sie machte eine »bewaffnete Gruppe« verantwortlich, die zwei Stunden lang die Stadt in Atem gehalten hätte. Die Syrer hätten das Recht, friedlich zu demonstrieren, unterstrich Schaaban, das solle offenbar verhindert werden. Bereits am Donnerstag hatte sie erklärt, daß Polizei- und Sicherheitskräfte angewiesen seien, keine Schußwaffen einzusetzen. Erneut beschuldigte sie »ausländische Agitatoren«, Syrien spalten zu wollen, indem sie die Stabilität des Landes und das Leben seiner Bürger angriffen.

Westliche und syrische Medien berichten sehr unterschiedlich über die Ereignisse. Europäische und nord­amerikanische Medien konzentrieren sich auf die Proteste, bei denen es zu Gewalttätigkeiten kommt, und berufen sich dabei zumeist auf Facebook und Twitter sowie auf anonyme Augenzeugen. Per Telefon berichten Personen davon, daß auf sie geschossen worden sei. Unscharfe, verwackelte Aufnahmen, die vermutlich mit Mobiltelefonen aufgenommen wurden, werden ausgestrahlt, zuweilen mit dem Zusatz, die Herkunft der Aufnahmen könne nicht unabhängig verifiziert werden. In den Aufnahmen sind skandierende Menschengruppen zu sehen, oft rufen sie »Allah ist groß«. Tote und Verletzte, junge Männer, die Bilder von Präsident Baschar Al-Assad zerreißen, oder ein Standbild seines Vaters, dem früheren Präsidenten Hafez Al-Assad, umstürzen wollen. Ebenfalls zu sehen sind brennende Fahrzeuge oder ausgebrannte Gebäude. Die Berichte konzentrieren sich auf die an der Grenze zu Jordanien liegende Stadt Deraa, wo es bereits seit einer Woche zu Ausschreitungen gekommen ist.

Das syrische Fernsehen zeigte derweil einen Mann ägyptischer Herkunft mit einem US-Ausweis, der in Syrien arbeitet. Er sagte, man habe ihm Geld dafür geboten, mit seinem Mobiltelefon Aufnahmen von den Unruhen zu machen und diese ins Ausland zu schicken. Nach internationalem Recht sind öffentliche Vorführungen Verdächtiger unzulässig.

Am Wochenende waren landesweit Zehntausende Menschen für Präsident Assad auf die Straße gingen, darunter viele Jugendliche. Die Sympathie für den jungen Staatschef ist weit verbreitet, auch wenn die Menschen viele Mißstände kritisieren. Bouthaina Schaaban wiederholte, daß der Ausnahmezustand beendet werden solle, der seit 1963 damit begründet wird, daß sich Syrien und Israel im Kriegszustand befinden. Neue Parteien sollen zugelassen und härter gegen Korruption vorgegangen werden. Am Freitag waren eine Gehaltserhöhung für Angestellte im öffentlichen Dienst und eine Reform des Gesundheitswesens angeordnet worden. Außerdem wurde eine Regierungsumbildung angekündigt. Am Sonntag wurden weitere Gefangene freigelassen.

Präsident Assad äußerte sich bisher nicht in der Öffentlichkeit, Beobachter vermuten interne Konflikte. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt 2000 hatte der Staatschef weitreichende Reformen angekündigt, war aber von konservativen Kräften in der Baath-Partei ausgebremst worden. Der Vorsitzende der Organisation der Islamischen Konferenz, Ekmeleddin Ihsanoglu, begrüßte die angekündigten Veränderungen. Sie seien eine Konsequenz der regionalen Ereignisse und eine gute Voraussetzung für praktische und wichtige Veränderungen.

Der islamische Prediger Scheich Yousef Al-Kardawi lobte derweil beim vergangenen Freitagsgebet die Aufstände. Der Zug der Revolution habe die nächste Haltestelle erreicht, sagte Al-Kardawi laut Al-Dschasira, »die Station Syrien«. Al-Kardawi ist ägyptischer Herkunft und lebt in Katar. Religiöse Führer in Syrien teilen die Meinung des Predigers nicht und riefen am Wochenende die Syrer zur nationalen Einheit auf. Neben christlichen Vertretern begrüßte auch der Großmufti Syriens, Ahmed Badreddin Hassoun, die angekündigten Reformen.

* Aus: junge Welt, 28. März 2011


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