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Koalitionsregierung statt Krieg

Syriens Opposition hofft auf Verhandlungen in Genf unter UN-Schirmherrschaft. Ziel wäre zunächst Machtteilung in Damaskus

Von Christiane Reymann *

Auch wenn die Mainstreammedien sie ignorieren, es gibt sie, die gewaltfreie, demokratische, eher linke syrische Opposition. Zu ihr gehört das Nationale Koordinationsbüro für demokratischen Wandel (NCB). Unter seinem Dach arbeiten inzwischen 16 Parteien plus weitere Gruppierungen und Einzelpersönlichkeiten aus dem Spektrum von Unabhängigen, Sozialisten, Nasseristen, Kommunisten und Kurden. Diese Opposition wächst im In- und Ausland. Aus Marokko, Ägypten, Tunesien, dem Libanon, Jordanien, Sudan, kurz: aus dem gesamten arabischen und nord­afrikanischen Raum haben sich bislang mehr als 200 Parteien, gesellschaftliche Gruppen und Nichtregierungsorganisationen zu einer »Allianz ziviler und politischer Kräfte gegen Diktatur und ausländische Militärintervention in Syrien« zusammengeschlossen. Diese Allianz hatte am 12. September zu einem Seminar nach Brüssel geladen. Die Zusammenkunft wollte sich mit dem drohenden Militärschlag der USA gegen Syrien auseinandersetzen. Doch es wurde ein Treffen der Hoffnung. Die Kräfte, die auf eine gewaltfreie Lösung setzen, seien nicht ohnmächtig, sondern ein Faktor in der internationalen Politik. »Wir haben die Welt vor einem Krieg gerettet, jetzt müssen wir Syrien als demokratischen Staat retten und die Tyrannei zu Fall bringen«, sagte der namhafte Oppositionspolitiker und NCB-Auslandssprecher Haytham Manna.

Angesichts der drohenden Militär­intervention hatte die Allianz nur eine Alternative für Syrien gesehen: Tyrannei – die heutige oder eine kommende – oder ein nationales, friedliches Projekt, das die Tür öffnet zur Überwindung derselben. Einen Spalt habe sich die Tür jetzt geöffnet, darin waren sich die Teilnehmenden einig.

Große Übereinstimmung auch in der Analyse des Konflikts: Die Revolte hatte politische und soziale Gründe, eine Rolle spielten auch religiöse und ethnische Differenzen, die unter dem Baath-Regime nicht thematisiert werden durften. Diese inneren Widersprüche seien durch ausländische Einmischung vor allem der Türkei, Katars und Saudi-Arabiens sowie von Frankreich, Großbritannien und den USA in rasantem Tempo in einen blutigen (Bürger-)Krieg verwandelt worden, für den täglich 150 Millionen Dollar ausgegeben würden.

Rim Turkmani von der »Allianz zum Aufbau des syrischen Staates« lenkte die Aufmerksamkeit auf die Zivilgesellschaft. Deren Aufgabe sei es jetzt, die Austragung bestehender Widersprüche von gewaltsamen in nicht gewaltsame Form zu überführen. Dazu müßten international die Kräfte zurückgedrängt werden, die auf den bewaffneten Kampf setzten, von Hisbollah bis Rußland, von der Türkei bis Frankreich. Das könnten die inneren Akteure allein nicht, dafür seien sie zu schwach, das müsse eine neue Verhandlungsrunde in Genf leisten.

In Brüssel konzentrierten sich die Hoffnungen und strategischen Überlegungen auf »Genf II«: Dort soll in internationalen Verhandlungen unter der Schirmherrschaft der UNO Präsident Baschar Al-Assad dazu gebracht werden, seinen alleinigen Machtanspruch aufzugeben. Und die Opposition müsse anerkennen, daß Assad Teile der Bevölkerung hinter sich hat. So könnte eine Koalitionsregierung entstehen, die – zunächst örtliche und regionale – Waffenstillstände einleitet und einen Prozeß der Normalisierung, der auf freie Wahlen und Schritte der Demokratisierung zielt.

Mit wem wäre eine Machtteilung möglich? Einige setzen vor allem auf die Beteiligung der Zivilgesellschaft an einer Übergangsregierung. Ihre Gruppen organisierten das schwierige Alltagsleben in Schulen oder Krankenhäusern, und dort, wo der Staat faktisch nicht mehr präsent ist, ersetzten sie diesen durch selbstverwaltete Strukturen. Allein: Sie sind (noch) zersplittert, nicht vereint. Haytham Manna gab zu bedenken: In Syrien hätten die Menschen Kräfte in der Opposition erlebt, die noch schlimmer seien als die Regierung. Warum, fragt er, sollten immer nur die Schlechtesten die Macht usurpieren, warum nicht aus den unterschiedlichen Lagern die Besten im Sinn von Integrität und staatlichem Gemeinwohl? Diese – relativ – Besten gibt es seiner Meinung nach sogar in der Armee, die »ihre Verantwortung in einem politischen Wechsel wahrnehmen« könne.

* Aus: junge welt, Dienstag, 17. September 2013


Brot immer teurer

Zerstörung und wirtschaftliche Not treibt viele Syrer zur Flucht in die Hauptstadt: In Damaskus steigen die Lebenshaltungskosten dramatisch an

Von Karin Leukefeld, Damaskus **


Der Verkehr auf dem Omay­yaden-Platz steht. Stoßstange an Stoßstange stockt die Fahrzeuge rund um den Springbrunnen, sämtliche Zufahrtsstraßen sind mit Fahrzeugen verstopft. Fußgänger zwängen sich durch die wenigen Lücken, die die Autofahrer gelassen haben, Verkehrspolizisten stehen hilflos am Rand dieser Blechschlange, die sich auf der weiten Fläche zwischen dem staatlichen Fernsehen, der Oper, der Assad-Bibliothek, dem Hauptquartier der Streitkräfte und dem Hotel Sheraton verknotet hat. Es ist 12 Uhr mittags in Damaskus. Seit Schulen und Universitäten wieder angefangen haben, drängen Zehntausende Menschen in die Hauptstadt, um beruflichen oder persönlichen Geschäften nachzugehen.

Wer es bis zum Omayyaden-Platz schafft, hat oft schon eine Fahrt von ein oder zwei Stunden hinter sich. Militär und Geheimdienste haben mit unzähligen Kontrollpunkten einen engen Kreis um Damaskus gezogen. Kein Waffentransport, keine im Auto versteckte Sprengstoffladung soll in die syrische Hauptstadt gelangen. Weil offenbar in der Vergangenheit immer wieder Waffen und Bomben durch Kontrollpunkte – oder an diesen vorbei – geschmuggelt wurden, sind diese inzwischen mit Angehörigen verschiedener Sicherheitskräfte besetzt. Sie inspizieren nicht nur die Ausweise und Kofferräume, sie achten auch darauf, daß die Kontrollen zuverlässig sind.

Verlierer des engmaschigen Systems sind insbesondere die Kleinbauern, die Obst und Gemüse aus dem Umland auf die innerstädtischen Märkte bringen wollen. Immer wieder müssen sie ihre Kästen mit Tomaten, Äpfeln und Gurken auf- und abladen, keine Kartoffel bleibt unkontrolliert. Sicherheit hat ihren Preis. Obst und Gemüse kosten heute ein Vielfaches im Vergleich zu 2011, Milchprodukte und Speiseöl sind für viele Menschen unerschwinglich geworden.

»Vor drei Jahren ging es uns gut«, sagt Hanan, ein kurdischer Syrer, der glücklich ist, noch Arbeit zu haben. »Selbst meine Familie hatte zwei Wohnungen. Eine hier in Damaskus, ein Haus in Afrin.« Im Herbst fuhr Hanan immer für einige Wochen in das Dorf in der Provinz Aleppo zur Olivenernte. Durch den Verkauf von Öl und eingelegten Oliven konnte er sich ein gutes Zubrot verdienen. Nun seien die Menschen aus Afrin vor den Aufständischen in die Türkei geflohen, klagt Hanan. Ohne Strom, ohne Wasser gebe es kein Leben. Brot und Tee seien unbezahlbar, und immer wieder würden die Kurden von Aufständischen der »Freien Syrischen Armee« oder Islamisten angegriffen. »Der Staat hat uns mit allem versorgt, was wir zum Leben brauchten«, sagt Hanan nachdenklich. Seit die Kämpfer gekommen seien, die von der Türkei unterstützt würden, werde Syrien nur noch zerstört. Hanan steht auf der Seite der kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG). Sein Präsident wäre Abdullah Öcalan, der in der Türkei seit mehr als zehn Jahren inhaftiert ist. »Wir müssen doch nur das Gehirn benutzen, das Gott uns gegeben hat«, sagt er und tippt sich an die Stirn. »Die ›Freie Armee‹ oder der Staat – wer ist besser für uns?«

Zerstörung und wirtschaftliche Not treibe viele Familien dazu, das Land zu verlassen, sagt der Ingenieur Bassam Yacoub aus Homs. Er ist nach Damaskus gekommen, um Verwandte zu besuchen. Früher habe eine fünfköpfige Familie mit 15000 Syrischen Pfund pro Monat Nahrungsmittel, Transport, Schule und Strom bezahlen können, umgerechnet etwa 80 Euro. Heute brauche man dafür das Vierfache. Wären es nur die Syrer gewesen, hätten die »berechtigten Proteste« 2011 friedlich gelöst werden können, ist Bassam Yacoub überzeugt. Er selbst habe unzählige Verhandlungen mit der Opposition in Homs verfolgt. Angesehene Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Stammesführer hätten mit den bewaffneten Gruppen zusammengesessen, um eine Einigung ohne Gewalt zu erreichen. Gerade in Homs seien friedliche Proteste ermöglicht worden, nachdem der vielkritisierte Gouverneur ausgetauscht worden war. Doch dann seien öffentliche Einrichtungen angegriffen und zerstört worden: »Die örtliche Feuerwehr, ein öffentliches Krankenhaus und andere medizinische Einrichtungen.« Eine »dritte Kraft« habe mit Geldzahlungen sowohl die friedlichen Proteste als auch die staatlichen Sicherheitskräfte infiltriert und beide Seiten in die Konfrontation getrieben, ist Yacoub überzeugt. Auf die Frage, wer diese »dritte Kraft« sei, kommt die Antwort ohne Zögern: »Die Golfstaaten.«

** Aus: junge welt, Dienstag, 17. September 2013


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